„Schreie & Flüstern“: So spielt das Leben

by Worteweberin Annika

„Schreie & Flüs­tern“ von Lisa Kreiß­ler ist ein Roman über Mut­ter­schaft, die Liebe zum Leben, große Kri­sen und den Wunsch, selbst zu bestim­men, wer man sein will. Worte­we­be­rin Annika war begeistert.

Der Roman beginnt mit einem Umzug von der Stadt aufs Land und kreist spä­ter um des­sen Fol­gen: Weil sie eine große Summe Geld geschenkt bekom­men, kau­fen die Prot­ago­nis­tin Vera und ihr Mann, der Maler Claus, einen alten Hof in Nie­der­sach­sen. Das Gebäude ist reno­vie­rungs­be­dürf­tig, liegt in der Nähe von Veras Hei­mat­dorf und ihren Eltern und führt sie so aus dem leben­di­gen Leip­zig zurück in die Hei­mat. Hier wol­len Vera und Claus ab jetzt mit ihrem Sohn Siggi leben, doch Vera ver­misst die Lebens­freude, ihre Freunde, die Kul­tur, hadert mit ihrer Ehe, den unge­schlif­fe­nen Land­men­schen, der Baustelle.

Cover Schreie & FlüsternEs kri­selt

Und nicht nur das, kurz nach dem Umzug stirbt Veras unge­bo­re­nes Kind und der Ver­lust wirft sie voll­ends aus der Bahn. Warum nur hat sie sich auf den Hof und gar ihren Mann ein­ge­las­sen, der schon frü­her sprung­haft war? Haben die bei­den über­haupt ein­mal zusammengepasst?

Claus hin­ge­gen träumt vom Gemü­se­an­bau, schließt sich dem ört­li­chen Her­ren­ge­sangs­ver­ein an und scheint seine Bestim­mung auf dem Land gefun­den zu haben. Nach einem Traum in der Sil­ves­ter­nacht beschließt er sogar, er sei nun ein neuer Mensch – Fränk. Und der „ist so weit gekom­men in sei­ner Kunst, dass er nicht mehr malen muss. Statt­des­sen wird er Gemüse anbauen.“ (S. 157) Die Land­men­schen reagie­ren ange­mes­sen irri­tiert. Doch bleibt es bei Fränk?

Ein Neu­an­fang

So weit sich die bei­den auch von­ein­an­der ent­fernt haben, irgend­wann schlägt die Stim­mung zwi­schen Vera und Claus aka Fränk um. Zeit ver­streicht, neue Hoff­nung kommt auf: Als dann wie­der neues Leben in Vera her­an­wächst, kommt sie mit jedem Tag mehr in ihrem All­tag auf dem Land an. Mit ihr erken­nen wir nun die Schön­heit (neuen) Lebens, den Zau­ber der Natur und des Seins. Dabei beweist die Autorin ein gutes Gespür für Stimmungen.

„Die Fel­der sind nur schwach erhellt vom Ster­nen­glü­hen. Der Him­mel ist samt­blau, wie ein tie­fes uner­gründ­li­ches Gewäs­ser. Hin­ter uns liegt das Dorf, der Gar­ten, das Haus, in dem wir jetzt leben. ‚Ich weiß gar nicht mehr, wer ich vor­her war‘, sagt Claus. ‚Dabei ist all das noch gar nicht lange her.‘“ (S. 207)

Der Kon­trast zwi­schen der Stadt und dem Land ist ein Dau­er­bren­ner in der Lite­ra­tur und ein Thema, das gerade heute viele Men­schen beschäf­tigt: Was soll man noch in der Stadt, wenn man durch die Digi­ta­li­sie­rung auch auf dem Land alles haben kann? Mit Vera und Claus wer­den zwei unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven auf das Thema vor­ge­stellt. Dass das Land­le­ben dann letzt­lich das Glück für die bei­den ver­spricht, mag mit Lisa Kreiß­lers eige­nen Erfah­run­gen zusam­men­hän­gen, denn auch die Autorin lebt inzwi­schen auf einem Hof in Nie­der­sach­sen. Mit den Land­men­schen, die ihren Roman bevöl­kern, wagt sie aber einen durch­aus iro­ni­schen Blick auf die Provinz.

Aber Neu­an­fänge und der Unter­schied zwi­schen Stadt und Land sind nicht die ein­zi­gen The­men, die die­sen Roman stark machen. Beson­ders gefal­len haben mir die Abschnitte über das Alter(n), über den Blick von Veras Oma auf ihr Leben und die viel zu schnell ver­gan­gene Zeit.

Schat­ten­sei­ten und Glücksmomente

Lisa Kreiß­ler gelingt es, die Schat­ten­sei­ten und die Glücks­mo­mente, das Schreien und das Flüs­tern des Lebens, ein­zu­fan­gen und die Leser*innen – oder jeden­falls mich – mit jeder Seite mehr zu ban­nen. Nur durch den ers­ten Teil des Romans, der hoff­nungs­los wirkt, kommt der zweite Teil so zum Strah­len, dass ich mir so viele Sätze wie schon lange nicht mehr mar­kiert habe. Lisa Kreiß­ler lässt uns tief in ihre Prot­ago­nis­tin hin­ein­se­hen, mit ihr den Frust oder auch eine rau­sch­ar­tige Geburts­er­fah­rung durch­le­ben und hält uns durch Zeit­sprünge doch auch auf dem nöti­gen Abstand, um am Ende ein Gesamt­bild zu über­bli­cken. So sub­jek­tiv und all­täg­lich Veras Erfah­run­gen und Gefühle auch sind, durch ihre poe­ti­sche Spra­che macht die Autorin diese klei­nen Momente ganz groß.

„Ich bin so leicht wie die Luft, die die Schla­fen­den atmen.“ (S. 212)

Anknüp­fungs­punkte an die Prot­ago­nis­tin fin­den sich schnell bei die­ser Lek­türe, die genau das rich­tige ist, wenn man wie ich auf der Suche nach star­ken weib­li­chen Stim­men in der Gegen­warts­li­te­ra­tur ist. „Schreie & Flüs­tern“ ist ein kraft­vol­ler Roman, ein weib­li­cher Roman und ein Text über die The­men unse­rer Zeit – von mir gibt es eine klare Lese­emp­feh­lung (und zwar natür­lich nicht nur für Frauen!).

Schreie & Flüs­tern. Lisa Kreiß­ler. Mai­risch. 2021.

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