Schwarzweiß 100 Bilder – 100 Geschichten

by Bücherstadt Kurier

Foto: Wortklauberin Erika

„… und ich sage, das neue Rat­haus wird gebaut!“
Das war der Satz, der das unver­meid­bare Ende mei­ner Bür­ger­meis­ter­ära mar­kierte. Jetzt, da ich diese Zei­len für meine Memoi­ren nie­der­schreibe, ist es mir immer noch unbe­greif­lich, was für ein Trot­tel ich gewe­sen bin.
Ich bin über­zeugt davon, dass ich ein recht fähi­ger Bür­ger­meis­ter war. Wie ich jetzt weiß, zogen bereits in der ers­ten Amts­zeit dunkle Wol­ken auf. Doch auf mich wirk­ten sie nicht bedroh­lich, da sie von einem Ver­trau­ten weiß ange­malt wor­den waren. Es waren wohl viele kleine Dinge im Hin­ter­grund, die mir, zusam­men mit mei­nem letz­ten gro­ßen Feh­ler, das Genick brachen.
Ich erin­nere mich noch gut an die aller­erste Sit­zung, die den Neu­bau des Rat­hau­ses zum Thema hatte. Ein von mei­nem Stadt­rat-Mit­ar­bei­ter Paul emp­foh­le­ner Archi­tekt stand vor uns und erklärte bedeu­tende Details.
„Sehr geehr­ter Herr Bür­ger­meis­ter Hom­mel, sehr geehr­ter Stadt­rat, ich möchte Ihnen heute die Kon­zep­tion des inno­va­ti­ven Neu­baus vor­stel­len. Geplant ist ein reprä­sen­ta­ti­ves Gebäude mit vier Eta­gen. Es gibt genü­gend Raum für zeit­gleich statt­fin­dende Mit­ar­bei­ter­schu­lun­gen oder den Emp­fang von Dele­gier­ten­grup­pen. Ins­ge­samt wer­den circa 2000 Qua­drat­me­ter zur Ver­fü­gung ste­hen. Wie ich hörte, möchte der Minis­ter­prä­si­dent Ihre schöne Stadt bald ein­mal besu­chen? Die Fer­tig­stel­lung bei zügi­gem Bau­start ist in zwei Jah­ren anbe­raumt. Alle Zim­mer wer­den wie heut­zu­tage üblich über Mul­ti­me­dia­aus­stat­tung und Kli­ma­an­lage verfügen … “
Ich fand die Idee gut und lobte die aus­drucks­starke Archi­tek­tur. Für mich bedeu­tete das Pro­jekt eine essen­ti­elle Ent­wick­lung für Tor­sis. Ein Juwel im Her­zen mei­ner Stadt.
Dann kam der Zeit­punkt, als einer aus dem Stadt­rat sich zu Wort mel­dete und erklärte, dass für den Neu­bau viele Bür­ger umquar­tiert wer­den müss­ten. Mir war sofort klar, dass neben den Anwoh­nern die Bezirks­po­li­ti­ker rich­tig Schlecht­wet­ter gegen das Vor­ha­ben machen würden.
„Es ist ein her­vor­ra­gen­der ers­ter Ent­wurf! Du wirst der Erneue­rer!“, meinte Paul spä­ter in mei­nem Büro.
Ich sprach meine Beden­ken aus. „Es ist aber auch etwas, von dem man nicht erwar­ten kann, dass jeder auf Anhieb jubelnd in die Höhe springt.“
Paul indes hielt es für den Mas­ter­plan. „Die Plat­ten­bau­sied­lung muss ohne­hin weg, sie ent­spricht nicht mehr den aktu­el­len Standards.“
„Und doch leben viele Men­schen in die­sen Gebäu­den. Sozial schwa­che Men­schen. Wo sol­len die unter­kom­men, etwa im alten Rathaus?“
„Das wird abge­ris­sen. Aber keine Sorge, wir wer­den schon Woh­nun­gen für sie finden.“
In die­ser Art ging das noch eine Weile hin und her.
Im Nach­hin­ein stelle ich fest, dass die Igno­ranz mei­ner eige­nen Gefühle alles noch schlim­mer machte.
Es kamen viele Tage, an denen ich – nicht etwa der Stadt­rat – den strei­ken­den Bür­gern und der Oppo­si­tion erklä­ren musste, wozu die Stadt ein neues Rat­haus benötigte.
Ich tat, was ich von mei­nem Kom­mu­ni­ka­ti­ons­trai­ner gelernt hatte und warb mit posi­ti­ver Rhe­to­rik um die Gunst der Menschen.
„Es ist ein her­aus­ra­gen­des Pro­jekt, eine Ver­schö­ne­rung unse­rer Stadt. Tor­sis wird damit viele Tou­ris­ten locken. Die betrof­fe­nen Anwoh­ner bekom­men neue und auch bes­sere Woh­nun­gen zugewiesen.“
Paul hatte mir letz­te­res nach end­lo­sen Dis­kus­sio­nen abschlie­ßend zuge­si­chert und mich davon über­zeugt, dass kein Bür­ger zu Scha­den käme.
Ich fuhr am Stich­tag vor Ort, um das Kom­mando zum Abriss zu ertei­len. Mei­nen Wagen parkte ich am Stra­ßen­rand und wurde sogleich von einer Schar Kin­der emp­fan­gen, die meis­ten nicht älter als acht Jahre. Alle Mäd­chen steck­ten in Sonn­tags­kleid­chen und hat­ten kleine Blu­men im Haar. Auch die Jun­gen tru­gen schi­cke Hem­den, man­che sogar mit Kra­wat­ten. Eins nahm mich an der Hand und alle zusam­men führ­ten mich zum abge­sperr­ten Areal.
Schon als ich dar­auf zulief, bemerkte ich, wie schön die Plat­ten­bau­ten geschmückt waren. In eini­gen Fens­tern sah ich far­ben­frohe Win­dow­co­lor-Motive. Sie bil­de­ten einen star­ken Kon­trast zu den mit Graf­fiti beschmier­ten Wän­den. Bunte Wim­pel­rei­hen ver­lie­fen von Fens­ter zu Fens­ter und Fähn­chen flat­ter­ten in der Som­mer­luft. Vor die Türen der Wohn­blö­cke hatte man Kübel­pflan­zen gestellt. Der schwere Chry­san­the­men­duft kit­zelte in mei­ner Nase.
Die Stimme, gepaart mit dem Blick aus den rie­si­gen grü­nen Augen des klei­nen Mäd­chens an mei­ner Hand, ging mir durch Mark und Bein.
„Jede Blume steht für einen Anwoh­ner, der nicht mehr hier woh­nen kann. Schauen Sie mal, die Rose da drü­ben, das ist die Oma Pie­korz. Wir wer­den sie nicht wie­der­se­hen, weil ihre Ver­wand­ten sie weg­ge­holt haben, dabei hat sie immer lecke­ren pol­ni­schen Kuchen für uns alle geba­cken. Und da hin­ten, im letz­ten Eimer, da ist eine Lilie. Die steht für den Jan. Der hat eine Aus­bil­dung gemacht, zum Mecha … niker. Jetzt sitzt er auf der Straße und wird wie­der kirmi … kri­mi­nell. Wieso müs­sen Sie unsere schö­nen Woh­nun­gen ster­ben lassen?“
Ich schaute mich um. Außer den Kin­dern, die mich unschul­dig anblick­ten, sah ich nur Repor­ter und meh­rere Abriss­bag­ger auf dem Areal ste­hen. Mit einem Schlag wurde ich mir bewusst, dass ich kein glor­rei­cher Erneue­rer, son­dern ein Toten­grä­ber war.
Ein Bag­ger­fah­rer kam auf mich zu:„Können wir anfan­gen, Herr Hom­mel?“ Die Augen der Kin­der starr­ten mich an und ich musste einen hef­ti­gen Kloß im Hals hin­un­ter­schlu­cken. Ich Narr dachte damals wirk­lich, dass meine Tage gezählt wären, wenn ich zurück­ru­derte. Also nickte ich und ver­ließ das Gelände, gejagt von den Reportern.
Der Boden unter mir hatte wochen­lang gebrö­ckelt und brach nun gänz­lich ein. Paul würde mir hel­fen, redete ich mir ein.
Doch weit gefehlt.
Vor dem alten Rat­haus traf ich auf ihn. Er hielt eine Rede vor ver­sam­mel­ter Presse, in der er erklärte, von Anfang an gegen den Bau gewe­sen zu sein.
Nun beab­sich­tige er, sich bei der nächs­ten Wahl als Bür­ger­meis­ter­kan­di­dat auf­stel­len zu lassen.

June Is, Twit­ter: @ypical_writer
Foto: Wort­klau­be­rin Erika
Ein Bei­trag zum Pro­jekt 100 Bil­der – 100 Geschich­ten – Bild Nr. 31.

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