Sergej Lukianenko: Fantasy-Epen mit philosophischem Tiefgang

by Bücherstadt Kurier

Eines mei­ner schöns­ten Lese­er­leb­nisse war Ser­gej Lukia­nen­kos „Wächter“-Reihe. Die ers­ten vier Bücher (als ich sie gele­sen habe, waren die bei­den letz­ten Teile noch nicht in Deutsch­land erschie­nen) konn­ten mich voll­kom­men begeis­tern. Die inter­es­sante Grund­idee, der span­nende Plot, die facet­ten­rei­chen Cha­rak­tere mit ihren inne­ren Zwie­späl­ten – ich war hin und weg. Wei­tere Werke des rus­si­schen Schrift­stel­lers ver­schlang ich dar­auf­hin nur so und wurde nie ent­täuscht (mit einer Aus­nahme viel­leicht, aber dazu spä­ter mehr).

Eta­blie­rung als Schriftsteller

Ser­gej Was­sil­je­witsch Lukia­nenko wurde am 11. April 1968 im heu­ti­gen Kasach­stan gebo­ren. In die Fuß­stap­fen sei­nes Vaters tre­tend stu­dierte er zunächst Medi­zin und arbei­tete einige Jahre als Psych­ia­ter. Bereits seit sei­ner Jugend ent­wi­ckelte sich seine Liebe zu Fan­ta­sy­ro­ma­nen und er begann bereits früh, eigene Geschich­ten zu ver­fas­sen. Anfang der acht­zi­ger Jahre ver­öf­fent­lichte er seine ers­ten Kurz­ge­schich­ten in ver­schie­de­nen rus­si­schen Maga­zi­nen, die bereits kurze Zeit spä­ter ins Eng­li­sche über­setzt wur­den. Seine erste Kurz­ge­schichte unter dem eng­li­schen Titel „Where the mean enemy lurks“ erschien im „Urals­kij Sle­do­pyt“ (The Urals Path­fin­der) und ist online unter die­sem Link zu finden.

Spä­tes­tens mit sei­nem Roman „Die Rit­ter der vier­zig Inseln“ (1990) konnte er sich in Russ­land als Schrift­stel­ler eta­blie­ren. Inter­es­san­ter­weise ist genau dies der Roman, der mir von ihm bis­her am wenigs­ten gefal­len hat. Der junge Dima wird von einem Unbe­kann­ten um sein Foto gebe­ten. Nach­dem die­ser jedoch auf den Aus­lö­ser gedrückt hat, fin­det Dima sich plötz­lich in einer frem­den Welt wie­der. Bald fin­det er her­aus, dass Außer­ir­di­sche Kin­der von der Erde ent­füh­ren, um sie in einer Welt aus vier­zig Inseln gegen­ein­an­der kämp­fen zu las­sen. Nur wem es gelingt, alle Inseln zu erobern, darf nach Hause zurück­keh­ren. Doch Dima und einige andere wol­len sich mit die­ser Aus­sage nicht zufrie­den­ge­ben. Nach dem geschei­ter­ten Ver­such einer Alli­anz macht sich eine Gruppe von Jugend­li­chen auf den Weg, um die­je­ni­gen zu fin­den, die hin­ter die­sem per­fi­den Spiel stecken.

Vor­be­stim­mung und Moral

Hier zeigt sich bereits ein belieb­tes Motiv der Werke Lukia­nen­kos: Der Prot­ago­nist hat eine vor­be­stimmte Auf­gabe zu erfül­len, die ihm von einer höhe­ren Instanz zuge­wie­sen wird. Anhand ihrer Erleb­nisse erör­tert der Autor, inwie­weit – wenn über­haupt – eine sol­che Bevor­mun­dung ethisch ver­tret­bar sein kann. Lei­der ver­liert der Autor dabei manch­mal die Wider­spruchs­frei­heit der Erzäh­lung aus den Augen. So auch im Falle die­ses frü­hen Wer­kes, das am Ende lei­der doch eine ganze Reihe Fra­gen und Unstim­mig­kei­ten offen lässt.

Seit­dem hat sich Lukia­nenko jedoch deut­lich wei­ter­ent­wi­ckelt und über 30 Romane und noch weit mehr Kurz­ge­schich­ten ver­öf­fent­licht. Vor allem im Zuge der äußerst erfolg­rei­chen Ver­fil­mun­gen sei­ner ers­ten bei­den Wäch­ter-Romane, erlangte er auch über Russ­land hin­aus Bekannt­heit und viele sei­ner älte­ren Werke wur­den über­setzt. Auch in Deutsch­land erschei­nen seine Bücher daher nicht in chro­no­lo­gi­scher Rei­hen­folge – bewor­ben wer­den sie unge­ach­tet des­sen trotz­dem als „neuer Lukianenko“.

Lukia­nenko – ein pas­sio­nier­ter Alltagsphilosoph

Sein Werk zeich­net sich vor allem durch den sehr eige­nen Erzähl­stil aus. Man könnte ihn als „typisch rus­sisch“ bezeich­nen, greift damit aber etwas zu kurz. Der pas­sio­nierte All­tags­phi­lo­soph Lukia­nenko beschäf­tigt sich nicht nur mit tief­grei­fen­den Fra­gen nach der Güte von Gesell­schafts­for­men, Ideo­lo­gien oder der rich­ti­gen Erzie­hung. In die Gedan­ken­welt sei­ner Prot­ago­nis­ten fin­den phi­lo­so­phi­sche Über­le­gun­gen zu aller­hand The­men Ein­zug – von Eigen­ar­ten ver­schie­de­ner – beson­ders rus­si­scher – Völ­ker über die Bedeu­tung von Tech­no­lo­gie und Ver­net­zung in unse­rem täg­li­chen Zusam­men­le­ben, bis hin zu den unter­schied­li­chen Gang­ar­ten von Kin­dern und Erwach­se­nen. Sie ver­lei­hen den Geschich­ten ihren enor­men Unterhaltungscharakter.

Grund­sätz­lich las­sen sich Lukia­nen­kos Werke als Fan­tasy mit Sci­ence-Fic­tion-Ein­fluss beschrei­ben. Die Set­tings sind ganz unter­schied­lich: In sei­nem bis­her größ­ten Erfolg, der Wäch­ter-Reihe um den Lich­ten Anton Goro­dezki, erzählt er von der Welt der „Ande­ren“, die unbe­merkt in der uns bekann­ten Welt leben. Die Hand­lung spielt größ­ten­teils in Russ­land, vor allem in Mos­kau. Im Mit­tel­punkt ste­hen die Mos­kauer Nacht- und Tag­wa­che, die sich als die „Lich­ten“ und die „Dunk­len“ gegen­über­ste­hen. Der Lichte Magier Anton Goro­dezki, Mit­ar­bei­ter der Nacht­wa­che, muss sich in die­ser Welt sowohl gegen­über den Kräf­ten des Bösen, als auch denen des Guten behaup­ten und sei­nen eige­nen Weg fin­den in einem Kampf, bei dem die Gren­zen zwi­schen Gut und Böse, Licht und Dun­kel nicht immer klar zu erken­nen sind. Die­ses Haupt­thema zieht sich durch das gesamte Werk Lukia­nen­kos: Die Frage, was gut und was böse ist und ob sich die Grenze zwi­schen die­sen bei­den Kräf­ten so ein­fach zie­hen lässt.

Von Ali­ens, Par­al­lel­wel­ten und dem World Wide Web

Neben der Wäch­ter-Reihe wird als bes­tes und bedeu­tends­tes Werk Lukia­nen­kos häu­fig „Spek­trum“ genannt. In naher Zukunft hat die Mensch­heit Kon­takt zu Außer­ir­di­schen her­ge­stellt und kann mit­hilfe von Por­ta­len auf andere Pla­ne­ten rei­sen. Der Preis für die Durch­reise ist das Erzäh­len einer unge­wöhn­li­chen Geschichte. Prot­ago­nist der Reihe ist ein Pri­vat­de­tek­tiv, des­sen Stärke darin besteht, eben diese Geschich­ten zu erfin­den und so Durch­lass zu erlan­gen. Sein Aben­teuer beginnt, als er die Toch­ter eines rei­chen Geschäfts­man­nes fin­den soll. Diese exis­tiert näm­lich auf unter­schied­li­chen Pla­ne­ten jeweils als iden­ti­scher Klon. Wann immer der Detek­tiv jedoch einen der Klone fin­det, stirbt die­ser auf sehr selt­same Art und Weise. Neben den Gefüh­len, die er mit der Zeit für die junge Frau ent­wi­ckelt und dem Wunsch, wenigs­tens den letz­ten ihrer Klone zu ret­ten, kommt er auch einer gro­ßen und uralten Ver­schwö­rung auf die Spur, die bis in die höchs­ten Kreise der außer­ir­di­schen Ras­sen führt. Das Werk scheint die wich­ti­gen Aspekte ande­rer Werke zu vereinen.

In „Wel­ten­gän­ger“ und „Welt­en­träu­mer“ wen­det Lukia­nenko sich der Idee von Par­al­lel­wel­ten zu. Kirill wird aus sei­nem Leben als Mensch geris­sen und muss fortan als „Funk­tio­nal“ agie­ren, als Zöll­ner zwi­schen ver­schie­de­nen Par­al­lel­wel­ten. Diese lernt der Leser Stück für Stück gemein­sam mit Kiril ken­nen. Dabei wird auch dem Leser nach und nach klar, dass Lukia­nenko hier nicht ein­fach irgend­wel­che Wel­ten beschreibt, son­dern sozi­al­kri­tisch auf Miss­stände auf­merk­sam macht, die wohl vor allem die heu­tige rus­si­sche Gesell­schaft beschäf­ti­gen, und ver­schie­dene Lösungs­vor­schläge mit ihren Vor- und Nach­tei­len erörtert.

Im „Laby­rinth der Spie­gel“ und sei­nem Nach­fol­ge­ro­man „Der fal­sche Spie­gel“ dreht sich hin­ge­gen alles um die Welt des Inter­nets. Mit­hilfe des Com­pu­ter­pro­gramms „Deep“ kön­nen Men­schen in die vir­tu­elle Stadt „Deep­town“ gelan­gen. Ent­fer­nen sie sich zu weit von der Rea­li­tät, kann es pas­sie­ren, dass sie ver­lo­ren gehen. Dann ist es an „Divern“ wie Leo­nid, diese Ver­lo­re­nen zu fin­den und wie­der in die reale Welt zurück­zu­ho­len – bevor sie in die­ser an Hun­ger oder Durst ster­ben. Als sich immer mehr Men­schen in Deep­town ver­lie­ren, wer­den auch andere Mächte auf Leo­nid auf­merk­sam und begin­nen, ihn zu jagen. Lukia­nenko bringt hier neben deut­li­chen Sci­ence-Fic­tion-Ele­men­ten – die in der heu­ti­gen Welt viel­leicht gar nicht mehr so „fik­tiv“ sind – auch eine starke Gesell­schafts­kri­tik zum Aus­druck, die viel­leicht nicht neu, dafür aber umso wich­ti­ger ist. Der dritte Band der Reihe ist noch nicht aus dem Rus­si­schen über­setzt worden.

Mit „Ster­nen­spiel“ und „Ster­nen­schat­ten“ ent­fernt Lukia­nenko sich schließ­lich gänz­lich von unse­rer Welt und wen­det sich den Wei­ten des Uni­ver­sums zu. Hier sto­ßen die Men­schen auf die inter­stel­lare Orga­ni­sa­tion des Kon­kla­ves. Die star­ken Ras­sen wei­sen den schwa­chen ihre jewei­li­gen Rol­len zu und über­wa­chen deren Ein­hal­tung. Nicht alle Völ­ker las­sen sich das so ein­fach gefal­len. Der junge Kos­mo­naut Pjotr ent­deckt in sei­nem Raum­schiff eines Tages einen blin­den Pas­sa­gier und wird in das kom­pli­zierte Gesche­hen des Wider­stands gegen das Kon­klave hin­ein­ge­zo­gen. Dabei steht auch das Schick­sal der Mensch­heit auf dem Spiel und Pjotr muss einen Weg fin­den, diese zu Ret­ten. Doch auch die Bewoh­ner der Erde wer­den nicht son­der­lich sym­pa­thisch dar­ge­stellt und es stellt sich die Frage, wofür Pjotr all die Mühe und Gefahr über­haupt auf sich nimmt. Lohnt es sich die Men­schen zu retten?

Gut vs. Böse – Licht vs. Dunkel

Es sind noch wei­tere Romane des Autors erschie­nen, aber die genann­ten stel­len eine ganz gute Über­sicht dar. Lukia­nenko ist mehr als nur Erzäh­ler fan­tas­ti­scher Geschich­ten. Ähn­lich wie Hor­ror­meis­ter Ste­phen King (den Lukia­nenko übri­gens selbst sehr ver­ehrt), dringt der Autor tie­fer in seine Erzäh­lun­gen ein, arbei­tet grund­le­gende Fra­gen und Pro­ble­ma­ti­ken her­aus und ver­leiht auch sei­nen Cha­rak­te­ren eine inter­es­sante, abwechs­lungs­rei­che und durch­aus kri­ti­sche Sicht auf die Gescheh­nisse. Beson­ders Anton Goro­dezki stellt banale Fra­gen wie die nach der Legi­ti­ma­tion des Kamp­fes für das Gute – und inwie­weit sich der Kampf des Lichts gegen den des Dun­kels unterscheidet.
Sehr schön ist übri­gens gerade in den Wäch­ter-Büchern auch die Ver­wen­dung von Musik. Vor allem Anton steckt sich oft die Stöp­sel sei­nes treuen MD-Play­ers in die Ohren und lauscht den Klän­gen rus­si­scher Rockbands.

Heute lebt Lukia­nenko als freier Schrift­stel­ler in Mos­kau. Was er pri­vat für Musik hört, wie es zu den Hand­lungs­ab­wei­chun­gen bei den Wäch­ter-Ver­fil­mun­gen kam und was er über die aktu­elle Situa­tion Russ­lands zu sagen hat – das alles und noch mehr könnt ihr im Inter­view in der neuen Aus­gabe des Bücher­stadt Kuriers nachlesen.

Annette

Buchgeschenk!

Wir ver­lo­sen 2 Exem­plare von Lukia­nen­kos neuem Roman „Die Wäch­ter – Licht und Dun­kel­heit“. Um in den Los­topf zu hüp­fen, schreibt uns bis zum 20. Dezem­ber 2015 an info@​buecherstadtkurier.​com (Betreff: Ver­lo­sung Lukia­nenko) und beant­wor­tet dabei fol­gende Frage: „Seid ihr eher ein frei­heits­lie­ben­der Dunk­ler oder ein ide­a­l­ori­en­tier­ter Lich­ter?“ Viel Glück!

Weiterlesen

0 comment

Dorothea Ender 20. Dezember 2015 - 10:25

Frei­heits­lie­ben­der Dunk­ler ? – Ide­a­l­ori­en­tier­ter Lichter ?
Bei­des steht für einen schwie­ri­gen Lebens­weg. Sel­ten wird sich ein Mensch für nur einen der Wege ent­schei­den. Je nach Lebens­lage wird er kämp­fen oder still hal­ten Als ich ein Kind war , habe ich stets rebel­liert. Auch gegen Nich­tig­kei­ten. Mei­nen Eltern war ich ein “ dum­mes Tschab­berl “ das nicht wußte ‚was es tat. Sie sehen schon, ich wurde als frei­heits­lie­ben­der Dunk­ler nicht ernst genom­men. Aber da hatte ich ja auch noch meine Phan­ta­sie­welt. Von da kam Hilfe. War mir wie­der ein­mal Unrecht gesche­hen, kam ein “ Ret­ter “ aus dem Nebel der Anderswelt,um mich zu beschüt­zen. Die Phan­ta­sie­welt änderte sich im Laufe der Jahre und als ich ein Teen­ager war, schrieb mir ein Leh­rer fol­gende Zei­len in mein Posiealbum :
Wer vom Ziel nicht weiß,
kann den Weg nicht haben,
wird im sel­ben Kreis
all sein Leben traben;
kommt am Ende hin,
wo er hergerückt,
hat der Menge Sinn
nur noch mehr zer­stückt. ——- Lange hat mich die­ser Vers von Mor­gen­stern beglei­tet. Jetzt begann ich abzu­wä­gen und zwi­schen Pro­dest und Zustim­mung zu wäh­len. Ein bestimm­tes Ziel hatte ich zu die­ser Zeit noch nicht. – Aber es begann sich abzu­zeich­nen. Inzwi­schen ord­nete ich mein Akti­vi­tä­ten die­sem Ziel unter.
Sinn­volle Akzep­t­ants ja- wenn es der Sache dient. Das heißt nicht, ich sei nun ein Ide­a­l­ori­en­tier­ter Lichter,
im Hin­ter­kopf ist immer noch der kleine Kampfhamster.

Reply
Annette 22. Dezember 2015 - 8:45

Ein sehr schö­ner und sehr tief­sin­ni­ger Kom­men­tar. Vie­len Dank, liebe Doro­thea, damit hast du dir ein Exem­plar des neuen Lukia­nenko-Romans gesichert!

Reply
Dorothea Ender 22. Dezember 2015 - 10:46

Liebe Annette, ich bin sehr gerührt. Schon vor Weih­nach­ten werde ich mit Büchern über­häuft. Jetzt weiß wie ich die lange Win­ter­zeit über­ste­hen werde. Wenn ich nun dem Bücher­stadt Kurier eines mei­ner Bücher über­las­sen möchte, so hiese dies, Eulen nach Athen zu tra­gen. Ich danke Ihnen viel­mals und wün­sche Ihnen auch so ein groß­zü­gi­ges Christ­kind. Beste Grüße Dorothea

Reply

Leave a Comment

Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Nutzung unserer Website erklärst du dich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. OK Erfahre mehr