Sex, Drugs und Übersinnliches in der Zeit des Stummfilms #Todesstadt

by Geschichtenbewahrerin Michaela

Chiara Mond­schein reist aus der Pro­vinz in das Ber­lin der 20er Jahre, um mehr über den Tod ihrer Schwes­ter Jula zu erfah­ren. Jula Mond­schein war eine bekannte Schau­spie­le­rin zur Zeit der Stumm­filme. Um ihren Selbst­mord, aber auch die ihr fremd gewor­dene Schwes­ter zu ver­ste­hen, über­nimmt Chiara Julas letzte Rolle. Geschich­ten­be­wah­re­rin Michaela taucht in die Zeit des Stumm­films ab und beob­ach­tet Abgründe und Okkul­tis­mus und erfährt eini­ges über die Geschichte des Films.

Die Lese­rin­nen und Leser erle­ben Ber­lin und die Men­schen der Stadt wie Chiara Mond­schein sie erlebt. Groß, laut, bunt, gefähr­lich, ver­wir­rend und undurch­sich­tig. Als Chiara aus Mei­ßen nach Ber­lin kommt, um die Ange­le­gen­hei­ten ihrer Schwes­ter zu regeln, bekommt sie das Ange­bot des Fil­me­ma­chers Felix Mas­ken, den letz­ten Film ihrer Schwes­ter zu Ende zu dre­hen. Sie nimmt an, um mehr über Jula und den Grund ihres Selbst­mor­des her­aus­zu­be­kom­men. Chiara hat Erfolg, dreht wei­tere Filme, denn das Publi­kum liebt sie. Doch sie ver­sinkt in einen Sumpf aus Ober­fläch­lich­keit, Dro­gen, Sex, Tod, Men­schen­han­del und Okkul­tis­mus. Und sie wird süch­tig nach Erfolg und Popu­la­ri­tät. Um diese Sucht zu befrie­di­gen, gibt es nur einen Weg: gren­zen­lo­ser Egoismus.

Eines Abends macht Chiara eine Ent­de­ckung, die sie an all dem zwei­feln lässt und sie kämpft sich aus ihrer Sucht, um nicht nur das Geheim­nis um Jula auf­zu­de­cken, son­dern auch ihr eigenes.

Der Stumm­film der 20er Jahre

Kai Meyer zeigt die Film­bran­che der Stumm­film­zeit als einen Ort der Ober­fläch­lich­keit, der Gier nach Geld, Macht und Popu­la­ri­tät, der Mani­pu­la­tion und des Men­schen­han­dels. Sex und Dro­gen gehö­ren dazu, sei es, weil man das Leben nicht anders ertra­gen kann oder weil man sich Vor­teile erhofft. Man könnte mei­nen, oder hof­fen, die Sze­nen von Orgien, gekauf­ten Kin­dern und das Gefü­gig­ma­chen von Men­schen mit Hilfe von Dro­gen, sei der Span­nung des Romans geschul­det. Doch Fälle wie Har­vey Wein­stein zei­gen, dass dies weder allein des Ideen­reich­tums Kai Mey­ers ent­sprang noch der Ver­gan­gen­heit angehört.

Er ver­steht es den Lese­rin­nen und Lesern den Stumm­film näher zu brin­gen, bevor er anschlie­ßend auf die nega­ti­ven Sei­ten ein­geht. Das schafft er, indem er berühmte Per­sön­lich­kei­ten erwähnt, wie die Schau­spie­le­rin­nen Pola Negri und Asta Niel­son oder den Kulis­sen­bauer Alfred Kubin. Den Regis­seur Fritz Lang und den Schau­spie­ler Bern­hard Goe­tzke bin­det Kai Meyer sogar direkt in die Hand­lung mit ein.

Ber­lin der 20er Jahre

Der Autor beschreibt das glän­zende Ber­lin, die Spaß­ge­sell­schaft und das wohl­ha­bende Ber­lin. Das Hotel Adlon, das Roma­ni­sche Café am Kur­fürs­ten­damm gab es, oder gibt es wie­der, ebenso die Ate­liers und das Kino Zoo­pa­last. Er zeigt auch die dunk­len Sei­ten der Stadt. Die Armut, Arbeits­lo­sig­keit, Pro­sti­tu­tion und den Kin­der­han­del. Er beschreibt das Scheu­nen­vier­tel, in dem vor allem die arme jüdi­sche Bevöl­ke­rung lebte und Ver­bre­cher­ban­den herrsch­ten. Frauen wie Män­ner waren Opfer und Täter. Er deu­tet die Unter­schiede die­ser bei­den Wel­ten an, indem er von Auto­mo­bi­len zu Pfer­de­kut­schen oder von hell beleuch­te­ten Stra­ßen zu schlecht beleuch­te­ten wechselt.

Okkul­tis­mus und Philosophie

Es wäre kein Kai Meyer-Roman, wenn nicht das Über­sinn­li­che darin vor­kom­men würde. Hier­bei bedient er sich dem Okkul­tis­mus, der bereits seit den 1860er Jah­ren in Deutsch­land beliebt war und „prak­ti­ziert“ wurde. In „Das zweite Gesicht“ geht es um die Mög­lich­keit, mit Hilfe eines Medi­ums mit den Geis­tern Ver­stor­be­ner in Kon­takt zu tre­ten. Das ist nichts Neues. Dage­gen ist mir noch nie ein Ritual unter­ge­kom­men, bei dem Dop­pel­gän­ge­rin­nen und Dop­pel­gän­ger erschaf­fen und für die eige­nen Ziele ein­ge­setzt wur­den. Kai Meyer ver­steht es, den Okkul­tis­mus der Geheim­lehre der Theo­so­phie von Helena Petrova Bla­va­t­sky mit dem Phi­lo­so­phen Fried­rich Nitz­sche und sei­nem „Über­men­schen“ sowie dem Eso­te­ri­ker und Begrün­der der Anthro­po­so­phie Rudolf Stei­ner zusam­men­zu­füh­ren, um dar­aus einen außer­ge­wöhn­li­chen und span­nen­den Roman zu entwickeln.

Das Vor­wort schrieb der Regis­seur und Dreh­buch­au­tor Domi­nik Graf. Im Anhang beschreibt die Lek­to­rin Hanka Jobke die Ent­ste­hungs­ge­schichte des Romans, wofür Kai Meyer ihr seine Unter­la­gen zur Ver­fü­gung stellte. Dies ist ein sehr inter­es­san­ter Ein­blick in die Arbeit des Autors.

Ein­tau­chen in die Zeit

Kai Meyer erwähnt viele bekannte Orte und bekannte Per­so­nen. Es macht Spaß und ermög­licht das abso­lute Ein­tau­chen in den Roman, wenn man sich mit dem Ber­lin der 20er Jahre und dem Stumm­film beschäf­tigt hat, oder wäh­rend des Lesens nach­schlägt, wen oder was der Autor gerade beschreibt. Man kann sich Stra­ßen­auf­nah­men der Zeit anse­hen, die Mode betrach­ten, sich einen Stumm­film anschauen, auch wenn es nur Aus­schnitte sind, die es auf You­Tube jedoch zahl­reich gibt.

Das zweite Gesicht. Kai Meyer. Blitz Ver­lag. 2002 (ver­grif­fen). / Rocket Books. Über­ar­bei­tete Neu­auf­lage mit Bonus­ma­te­rial. 2018.

Ein Bei­trag zum Spe­cial #Todes­stadt. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

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