„Something is rotten...“ – Düstere Zelebrierung des Zerfalls

by Buchstaplerin Maike

Kino? Hirn­lose Block­bus­ter ohne Anspruch! Thea­ter? Ein­schlä­fernd und unzeit­ge­mäß! Bei­des zusam­men? Kann unmög­lich funk­tio­nie­ren! Von wegen! Buch­stap­le­rin Maike hat sich am ver­gan­ge­nen Don­ners­tag im Cine­maxX Bre­men „Ham­let“ ange­se­hen und ist fas­zi­niert von der mor­bi­den Auf­füh­rung. Die Live-Über­tra­gung des inter­na­tio­nal gefei­er­ten Stücks des Lon­do­ner Bar­bi­can Centre war­tet mit Bene­dict Cum­ber­batch in der Titel­rolle auf, doch das ist nicht der ein­zige Grund, warum sich ein Besuch lohnt.

Die Grund­hand­lung von Shake­speares „Ham­let“ (1603) sollte zur All­ge­mein­bil­dung gehö­ren: Der däni­sche Prinz Ham­let trau­ert um sei­nen ermor­de­ten Vater. Der Mör­der ist nie­mand ande­res als Ham­lets Onkel Clau­dius, der den Thron an sich reißt und Ham­lets Mut­ter zur Frau nimmt. Vom Gespenst des Vaters heim­ge­sucht, sinnt Ham­let nach Rache und ver­sucht, Clau­dius ein Schuld­ein­ge­ständ­nis abzu­rin­gen. Wäh­rend­des­sen droht Ham­let dem Wahn­sinn zu ver­fal­len, und nicht nur er. Fami­lien und Natio­nen schrei­ten unauf­halt­sam einer Tra­gö­die entgegen.

Brü­chig­keit und Zer­fall durch­zie­hen das ganze Stück: Ham­lets, aber auch Ophe­lias Fami­lie zer­fal­len, wäh­rend sie gegen den Wahn­sinn kämp­fen und ver­lie­ren. Natio­nen dro­hen unter­zu­ge­hen, da Däne­mark kurz vor dem Krieg mit Nor­we­gen steht. Und auch Komik und Ernst ste­hen in einer unbe­que­men, fata­len Nähe – so sor­gen Ham­lets Pha­sen des Wahn­sinns für Lacher – etwa, wenn er sich in einem Spiel­zeug­schloss gesäumt von Nuss­kna­cker­sta­tuen ver­schanzt, nur um inner­halb von Sekun­den vom kin­di­schen Trotz zu ver­stö­ren­dem Ernst und Ver­letz­lich­keit zu wech­seln. Doch nicht nur Cum­ber­batchs Leis­tung ist her­vor­zu­he­ben. Ciarán Hinds spielt den Clau­dius als stren­gen Patri­ar­chen, der zwar zum Schluss Reue durch­bli­cken lässt, für den es aber kein Zurück mehr gibt. Und Siân Brooke als Ophe­lia sorgt Gän­se­haut und unbe­hag­li­che Rüh­rung, bevor sie, von Trauer und Wahn gebro­chen ins Was­ser geht.

Hamlet„To be or not to be...“

Das Büh­nen­bild beginnt mini­ma­lis­tisch, wei­tet sich aber zur über­le­bens­gro­ßen Opu­lenz eines Sissi-Fil­mes aus. Doch es ist immer düs­ter, erfüllt mit einer Aura des Mor­bi­den. Schat­ten­spiele und auf­wän­dige Licht­ef­fekte sor­gen für eine schau­rige Grund­stim­mung. Der für das NT Live typi­sche Schnitt und ein­drucks­volle Spe­cial Effects las­sen die Grenze zwi­schen Thea­ter und Film stel­len­weise ver­schwim­men. Schnellt fällt auf, dass die haupt­säch­lich mili­tä­ri­schen Kos­tüme und die Requi­si­ten ana­chro­nis­tisch zusam­men­ge­wür­felt schei­nen. Aber das stört nicht, im Gegen­teil: Es wirkt wie eine wei­tere Erschei­nungs­form des Zer­falls schein­bar fes­ter Kategorien.
Das Stück folgt dem Ori­gi­nal und ist daher domi­niert von der Eli­sa­be­tha­ni­sche Spra­che. Doch an die gewöhnt man sich – auch wegen der Unter­ti­tel – recht schnell. Die schau­spie­le­ri­sche Leis­tung gleicht etwaige Text­schwie­rig­kei­ten für die Zuschauer alle­mal aus.

Über­tra­gun­gen des Natio­nal Theatre Live sind eigent­lich immer sehens­wert und zie­hen durch auf­wän­dig pro­du­zier­ten Thea­ter-Kino-Hybri­den ein bunt gemisch­tes Publi­kum an. Dies­mal liegt es wohl vor allem an Cum­ber­batch, dass das Stück ein Kas­sen­schla­ger wird – was sich schon an den Vor­ver­kaufs­zah­len des eigent­li­chen Thea­ter­stü­ckes zeigt – aber seine Leis­tung recht­fer­tigt auch den Hype. Teen­ager mit Reclam­hef­ten, auf­ge­regte Cum­ber­batch-Fans und mut­maß­li­che Thea­ter­gän­ger in fei­nem Zwirn fül­len den Kinosaal.

Fazit: Die Atmo­sphäre eines klas­si­schen Thea­ter­stücks und die Fas­zi­na­tio­nen eines schau­ri­gen Block­bus­ters ergän­zen sich in „Ham­let“ sehr gut. Shake­speare fin­det hier ein jun­ges Publi­kum. Wer kann, sollte sich die Wie­der­ho­lung von „Ham­let“ oder ein ande­res Stück von NT Live im Kino anse­hen – genü­gend Sitz­fleisch und aus­rei­chende Eng­lisch­kennt­nisse vorausgesetzt.

Natio­nal Theatre Live: Ham­let. Wil­liam Shake­speare. Regie: Lynd­sey Turner.
Dar­stel­ler: Bene­dict Cum­ber­batch, Ciarán Hinds, Siân Brooke. 200 Minu­ten. OmU, UK, 2015.

Weiterlesen

5 comments

Wolfgang Schnier 19. Oktober 2015 - 13:24

Sehr schön! Das würde mich auch inter­es­sie­ren. Die Kinos, in denen die Wie­der­ho­lung läuft, schei­nen aller­dings dünn gesät zu sein.

Reply
Buchstaplerin Maike 19. Oktober 2015 - 14:17

Hallo Wolf­gang,
Es lohnt sich!
Dass es nicht über­all wie­der­holt wird, ist mir lei­der auch auf­ge­fal­len, aber viel­leicht kom­men bei gro­ßer Nach­frage wie­der mehr Städte dazu?

Reply
Sherlock DE 19. Oktober 2015 - 13:58

Ich sah eben bei „mei­nem“ Münch­ner Kino nach, es hat wei­tere Wie­der­ho­lun­gen angesetzt:
http://​www​.cinema​-muen​chen​.de/​f​i​l​m​e​/​2​0​4​0​.​h​tml

Reply
charlssk 14. März 2016 - 17:42

es lau­fen tat­säch­lich Wie­der­ho­lun­gen! Lau­fen auch noch wel­che an ande­ren Stand­or­ten inner­halb Deutsch­lands? Ich wohne in Hes­sen und halte es für unwahr­schein­lich, dass ich so spon­tan nach Mün­chen komme... aber Ham­let ist eines mei­ner Lieb­lings­stü­cke von Shake­speare und ich liebe Bene­dict Cumberbatch!

Reply
Buchstaplerin Maike 15. März 2016 - 11:23

Das ist ja toll! Auf der Web­site von ntlive wird ange­zeigt, wo Scree­nings kom­men, viel­leicht ist da was in dei­ner Nähe? 

Reply

Leave a Comment

Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Nutzung unserer Website erklärst du dich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. OK Erfahre mehr