Sonnenleiter

by Bücherstadt Kurier

Foto: Wortklauberin Erika

Wir wachen auf.

Um uns herum nur Bäume.

Wir wis­sen nicht, wie und warum es zu der Ent­schei­dung kam, auf dem Wald­bo­den zu schlafen.

Und doch scheint es uns allen eine gute Ent­schei­dung gewe­sen zu sein: Wir kön­nen uns in unse­ren Leben, in unse­ren gemein­sa­men 1000 Jah­ren, an kei­nen Schlaf erin­nern, der so erhol­sam war. Viel­leicht gab es so einen Schlaf in unse­ren Müt­ter­bäu­chen, an den sich nie­mand von uns erin­nern kann. Der Schlaf, aus dem wir gerade erwacht sind, war mehr als die unru­hige Unter­bre­chung des Tages­werks, war mehr als die not­wen­dige Pause, um kurz­fris­tig zu neuen Kräf­ten zu kommen.

Es war kein rück­wär­ti­ger Schlaf: Wir träum­ten nicht von unse­ren Erin­ne­run­gen, ver­ar­bei­te­ten nicht ein­fach, was uns wider­fah­ren ist. Wir träum­ten nicht archi­va­risch, wir träum­ten visio­när. Wir träum­ten uns eine Zukunft, die wir im Traum, mit dem Traum vor uns aus­ge­legt haben. Unser Traum ver­blasst nicht, wird nicht schumm­rig oder gerät in Ver­ges­sen­heit, wie es unse­ren Träu­men sonst widerfährt.

Wir schauen uns um.

Wir wis­sen genau, was unsere Augen suchen, über den Bäumen.

Eine Wolke ver­sperrt uns die Sicht.

Ein ande­rer Wind als der, der uns ins Gesicht weht, schiebt die Wolke beiseite.

Dahin­ter zeigt sich, was wir so sehn­lich sehen woll­ten: die Sonne.

Frü­her haben sie uns gesagt, wir sol­len nicht direkt in die Sonne schauen, wir wür­den erblinden.

Doch wir ver­ges­sen diese War­nung und schauen direkt in die Sonne. Wir sehen sie genau an.

Die Sonne ist unsere Zeit.

Sie war uns immer ein stum­mer Zeuge. Wir ver­such­ten unsere Scham vor ihr in der Nacht zu ver­ste­cken. Wenn wir aller­dings stolz waren, froh, glück­se­lig, dann woll­ten wir sie es sehen lassen.

Bis­her war uns die Sonne nicht mehr als eine bren­nende Kugel. Weni­ger: Eine leuch­tende Scheibe am Himmel.

Jetzt sehen wir mehr.

Wir sehen die Wir­bel der Flam­men auf ihrer Ober­flä­che, wir erken­nen die Uneben­hei­ten unter dem Feuer. Die Sonne ist uns nicht mehr eine ein­heit­li­che gelbe Flä­che. End­lose Farbe, in einem har­mo­ni­schen Spiel: Ein Strah­len von Gelb, ein Auf­blit­zen von Orange, ein Ste­chen von Rot. Unsere Augen trä­nen. Nicht, weil uns das Licht die Horn­haut ver­brennt. Wir sehen zum ers­ten Mal die Schön­heit der Göt­tin, die uns Jahr­tau­sende am Leben erhal­ten hat. Viel­leicht wird sie uns auch jetzt retten.

Wir wol­len zu ihr.

Mög­li­cher­weise ist es kein Ver­las­sen und statt­des­sen eine Heimkehr.

Wir sind uns sogar ziem­lich sicher.

Woher auch immer wir gekom­men sind, wir sind auf ihren Licht­strah­len ins Leben gekommen.

Wir machen uns auf den Weg zurück. Wir lau­fen durch den Wald, den Blick immer auf unse­ren Ursprung gerich­tet. Wir haben das Gefühl, dass wir sie nicht aus den Augen ver­lie­ren dür­fen, sonst wür­den wir den Weg nicht finden.

Dass nie­mand von uns stürzt, über eine Wur­zel stol­pert, scheint uns ein Zei­chen zu sein.

Natür­lich hel­fen uns die Bäume auf unse­rem Weg. Diese Lebe­we­sen, die in so gro­ßer Ver­bun­den­heit zur Sonne leben, stel­len sich ihren Wün­schen nicht in den Weg.

Der Weg fällt uns trotz­dem nicht leicht. Wir haben Angst, wir sind uns unsicher.

Bil­den wir uns alles nur ein? Ruft uns die Sonne überhaupt?

Wer kann uns ver­spre­chen, dass wir ihr ver­trauen kön­nen? Dass sie uns nicht nur täu­schen will, uns in den Abgrund führt?

Die Augen auf sie gerich­tet, ver­trauen wir ihr blind.

Viel­leicht ist es unsere letzte Mög­lich­keit, Ver­trauen zu haben. Der letzte Ver­trau­ens­be­weis, den wir erbrin­gen wol­len und können.

Doch die Angst bleibt in unse­ren Herzen.

Wir wis­sen nicht, wo wir hin­tre­ten. Ein gebro­che­nes Bein wäre das Ende der Reise und die Sonne lässt uns nicht auf den Boden schauen, um Löchern aus­zu­wei­chen. Wir kön­nen nur hof­fen, dass es keine auf unse­rem Weg gibt, oder dass wir sie zumin­dest mit unse­ren tas­ten­den Füßen ent­de­cken können.

Wir wis­sen nicht, wo die Tiere sind. Viel­leicht täuscht uns die Sonne nicht nur, legt bei­läu­fig eine fal­sche Fährte. Viel­leicht lockt sie uns in eine Falle, die sie ganz bewusst geschaf­fen hat. Wir haben gehört, dass in die­sem Wald beson­ders gif­tige Schlan­gen leben. Schlan­gen – sie leben, wie das Klein­kind an der Brust, sau­gen das Licht der Mut­ter Sonne. Sie wür­den bestimmt alles für sie tun.

Aber soll­ten wir ster­ben, dann hat­ten wir wenigs­tens Hoff­nung, ein Ziel und Schön­heit vor unse­ren Augen.

Und die Angst, die an unse­ren Bei­nen lang­sam hin­auf in unse­ren Kopf kriecht.

Wir wis­sen nicht, wie lange wir schon unter­wegs sind. Hat die Sonne die Nächte vor uns ver­bor­gen? Waren es Stun­den oder Minu­ten? Weit hin­ter uns hören wir immer noch die Schreie, das Wei­nen. Wir geben keine Geräu­sche von uns. Wir sehen uns nicht. Wir sind uns den­noch sicher, dass wir bei­ein­an­der sind. Wir hof­fen, dass wir uns nicht ver­lo­ren haben.

Es ist uns wich­tig, zusam­men zu sein, zusam­men­zu­ge­hö­ren. Wich­ti­ger als frü­her. Jeder von uns erin­nert sich daran, wer die ande­ren waren. Jetzt schwin­det die­ses Wis­sen. Wir ver­ges­sen mit jedem Schritt mehr. Gleich­zei­tig erfah­ren wir so viel, so viel Ungeahntes.

Die Sonne ver­schlei­ert sich. Ihre Far­ben­viel­falt ver­birgt sich vor unse­ren Augen, als sie sich wie­der hin­ter einer Wolke versteckt.

Wir füh­len Einsamkeit.

Die Sonne hat uns ver­las­sen. Wir sind auf uns allein gestellt.

Wir sehen trotz­dem wei­ter­hin zu ihrer Sil­hou­ette, wäh­rend wir lang­sam ste­hen bleiben.

Wir sehen uns wei­ter­hin nicht an, geben wei­ter­hin kein Geräusch von uns.

Es ist eine Prü­fung, alles ist eine Prü­fung. Das wird uns lang­sam klar. Haben wir Ver­trauen, wie gehen wir mit Ver­lust um, kön­nen wir kämpfen?

Wir müs­sen ohne ihre Füh­rung weiter.

Wir sehen durch die Bäume, Äste und Blät­ter. Wir sehen in eini­ger Ent­fer­nung eine Erhe­bung. Dort scheint sie. Wir neh­men es als Fin­ger­zeig. Denn mehr haben wir nicht.

Wir machen uns also auf den Weg durch die Ebene.

Wir sehen uns nicht an, spre­chen nicht miteinander.

Die Nacht, mond­los, macht uns einsam.

Wir essen nicht. Wir trin­ken nicht.

Wir errei­chen den Gip­fel, wäh­rend uns die Sonne zusieht.

Nach die­sem Augen­blick haben wir uns gesehnt, uns danach ver­zehrt. End­lich kön­nen wir sie wie­der sehen, in all ihrer Pracht.

Wir genie­ßen ihre feu­ri­gen Far­ben und ihre Wärme.

Gedan­ken strö­men in unse­ren Kopf. Es ist die letzte Sta­tion unse­rer Reise.

Unser Schwei­gen, unser Star­ren, unser stump­fes Stap­fen hat ein Ende.

Wir schauen uns um, bespre­chen unse­ren Plan. Wir reden nicht wild durch­ein­an­der. Wir wech­seln uns ab. Es gibt nur einen Text, den wir unter uns aufteilen.

Wir fin­den eine Hütte. Frü­her hat sie wohl Wan­de­rern oder Jägern gehört.

In der Spei­se­kam­mer fin­den wir Vor­räte, Nah­rung in allen For­men, in Glä­sern und Dosen. Wir tra­gen alles in die Küche. Schwei­gend essen wir alles auf. Wir las­sen nichts über. Wir brau­chen es spä­ter nicht mehr.

Hin­ter der Hütte fin­den wir Werk­zeug: Äxte, Schau­feln, Häm­mer – alles, was wir brau­chen. Wir begin­nen stumm und ziel­stre­big zu arbeiten.

Jeder von uns kennt seine Auf­ga­ben, wird zu einem Arm unse­res Vor­ha­bens. Wir gra­ben, sägen, hobeln.

Die Sonne beob­ach­tet uns.

Als unsere Lei­ter zu lang gewor­den ist für die Lich­tung, auf der wir arbei­ten, stel­len wir sie in das Gerüst. Wir müs­sen ver­ti­kal weiterarbeiten.

Am Boden fäl­len wir Bäume und zer­schnei­den sie zu Spros­sen und Stre­ben. Wir die Lei­ter her­auf, bil­den eine Kette, rei­chen die Bau­teile weiter.

Immer wei­ter wächst unsere Lei­ter in den Him­mel, gen Sonne.

Von oben sehen wir Rui­nen. Frü­her dach­ten wir, sie gehör­ten zu einer Stadt eines längst ver­ges­se­nen Königs. Jetzt erken­nen wir, dass es die Grund­mau­ern eines Turms sind. Uns wird klar, dass wir nicht alle das Ziel errei­chen kön­nen. Man­che von uns wer­den keine Zeit, keine Kraft mehr haben für das letzte Stück – wir wer­den kleiner.

Doch sie arbei­ten wei­ter. Viel­leicht mer­ken sie es gar nicht. Das glau­ben wir nicht. Wir erin­nern uns an den Schmerz, als die Sonne sich ver­schlei­ert hat. Und sie müs­sen jetzt ihre Augen bede­cken, wenn sie Bau­teile nach oben rei­chen. Die Sonne lässt sie schwit­zen, wird ihnen zur Last. Doch sie arbei­ten wei­ter. Viel­leicht hof­fen sie, dass es wie­der endet. Das zu glau­ben, hal­ten wir für aus­sichts­los: Warum sollte die Sonne sie sonst über­haupt im Stich las­sen? Sie arbei­ten wei­ter, weil sie den Traum ken­nen, weil sie wir waren.

Wir stei­gen die Lei­ter wei­ter hin­auf, den Blick immer zur Mut­ter Sonne gewen­det. Das Gefühl der Son­nen­strah­len auf unse­rer Haut ver­än­dert sich. Vor­her war es ein war­mer Hauch, jetzt wird es ein Prickeln.

Wir stei­gen die Lei­ter wei­ter hin­auf. Wir kön­nen das Licht jetzt in den Hän­den spü­ren. Die Sonne strei­chelt nicht län­ger mehr nur uns, wir strei­cheln auch die Sonne. Wollte sie nicht mehr län­ger die Ver­fluchte und Unbe­rühr­bare sein? Ihren Strah­len wurde kom­pro­miss­lose Gewalt zuge­spro­chen, dabei war es nur ihre Sehn­sucht nach uns, mit der wir nicht umge­hen konnten.

Wir stei­gen die Lei­ter wei­ter hin­auf. Wir grei­fen in das Licht und zie­hen ein­zelne Fasern her­aus. Es kann nicht mehr lange dau­ern. Bald kön­nen wir uns am Licht hoch­zie­hen. Sobald sich einer von uns von der Lei­ter gelöst hat, las­sen wir die Bau­teile aus den Hän­den fal­len und eilen nach oben.

Das Leuch­ten der Sonne wird lang­sam schwä­cher. Unser Kor­ri­dor aus Licht zer­fällt. Die Übri­gen ste­hen unten und sehen zu, wie wir uns von der Lei­ter absto­ßen. Sie wis­sen, dass es kei­nen Sinn hat, die Lei­ter zu bestei­gen – die Nacht kommt.

Ein Wind kommt auf. Wir spü­ren ihn ins Gesicht bei­ßen. Er weht das Licht fort. Wir müs­sen uns stre­cken, um es fest­zu­hal­ten. Die Angst kehrt wieder.

Mit letz­ter Kraft schaf­fen wir es. Alles um uns leuch­tet. Und in uns das Gefühl, ange­kom­men zu sein.

Unge­se­hen von uns weht der Wind unter uns wei­ter. Rüt­telt an unse­rer Lei­ter, als sei er zor­nig. Die Lei­ter war nicht für die Ewigkeit.

Unten ste­hen die Zurück­ge­blie­be­nen und schauen, wie der Wind gegen die Lei­ter schlägt, bis sie zerbricht.

Es beginnt zu reg­nen. Die Trop­fen fal­len den Zurück­ge­blie­be­nen in die Augen. Zu einem Teil Licht, das letzte Licht der Sonne. Zu zwei Tei­len Was­ser. Zu einem Teil große Split­ter von der Lei­ter, die sich lang­sam auf­löst – so wie sich alles um sie herum lang­sam auflöst.

Thilo Kör­ting
www​.schraeg​le​sen​.de
Foto: Wort­klau­be­rin Erika

Ein Bei­trag zum Pro­jekt 100 Bil­der – 100 Geschich­ten – Bild Nr. 29.

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10 Fragen an schraeglesen – Bücherstadt Kurier 25. Juni 2019 - 16:56

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