Spieglein, Spieglein …

by Worteweberin Annika

Jeder im Vier­tel kennt Younes Mut­ter Shahira: Sie trägt Mini­rö­cke, flir­tet mit dem Gemü­se­händ­ler, hat Affä­ren. Wie andere diese Frau wahr­neh­men, erzählt Karosh Tahas Wen­de­ro­man „Im Bauch der Köni­gin“. Worte­we­be­rin Annika hat in die zwei Wel­ten des Romans geblickt.

Ein Wen­de­ro­man? Eine Geschichte, zwei Per­spek­ti­ven, dachte ich, bevor ich mit „Im Bauch der Köni­gin“ begann. Beide Sei­ten des Romans ziert das glei­che Umschlag­bild – zwei Augen, deren Far­ben sich spie­geln –, auf bei­den Sei­ten beginnt eine Geschichte. Damit stellt sich direkt die erste Frage: Mit wel­cher Seite des Romans begin­nen? Letzt­end­lich zeigt sich, dass das kaum einen Unter­schied macht. „Im Bauch der Köni­gin“ stellt näm­lich keine zwei Per­spek­ti­ven gegen­über, es sind zwei Rea­li­tä­ten, die sich ergän­zen und spie­geln wie die Augen auf dem Umschlag.

Spu­ren sammeln

Einer­seits erzählt hier Amal, ein kur­disch­stäm­mi­ges Mäd­chen im Abitur­jahr­gang. Als Younes beste Freun­din bewun­dert sie des­sen Mut­ter Shahira, die Frau mit den kur­zen Röcken und dem gro­ßen Selbst­be­wusst­sein. Denn auch Amal reibt sich an der für sie vor­ge­se­he­nen Rolle als Frau. Schon als Kind ver­prü­gelt sie die älte­ren Jun­gen der Schule, sie trägt ihre Haare kurz und lie­ber weite Sport­tri­kots als enge Klei­der. Der rote Nagel­lack scheint für sie der Aus­weg, um trotz­dem als Frau wahr­ge­nom­men zu wer­den – vergeblich.

Neben die­sen The­men beschäf­tigt Amal vor allem, dass ihr Vater die Fami­lie vor Jah­ren ver­las­sen hat, um in Kur­di­stan zu arbei­ten. Dort kann er Archi­tekt sein statt Gabel­stap­ler­fah­rer, doch dort hat er inzwi­schen auch eine neue Fami­lie. Aus Amals Leben ist er fast voll­stän­dig ver­schwun­den, der jün­gere Bru­der hat sei­nen Vater nie ken­nen­ge­lernt. Nach dem Abitur beschließt Amal, ihn zu besuchen.

„Ich habe ange­fan­gen, Vaters Spu­ren zu sam­meln. Vater hin­ter­ließ Abwe­sen­heit, Vater hin­ter­ließ Feh­len, Vater hin­ter­ließ Scham, Vater hin­ter­ließ Unge­wiss­heit, Vater hin­ter­ließ Zer­split­te­rung, Vater hin­ter­ließ Auf­lö­sung. Und Vater hin­ter­ließ Unvoll­stän­dig­keit.“ (S. 26)

Reflek­tiert wird im Roman auch der Sta­tus der kur­di­schen Figu­ren in Deutsch­land. Amal träumt von einer gemein­sa­men Spra­che, die sie mit ihren Eltern, aber auch der neuen Hei­mat ver­bin­det, dem „Kur­deutsch“. Skep­tisch beob­ach­tet sie, wie ihre Mut­ter sich ein Kopf­tuch umbin­det, um nicht von frem­den Män­nern ange­spro­chen zu wer­den und damit zum Kli­schee der mus­li­mi­schen Frau in Deutsch­land wird: „sie ist ein Streit­fall, sie ist eine Schlag­zeile.“ (S. 42)

Dem Vier­tel entwachsen

Von der ande­ren Seite der Medaille erzählt Raf­fiq, Younes bes­ter Freund, der ver­stoh­lene Bli­cke auf Shahi­ras lange Beine wirft und in Gedan­ken immer wie­der zu ihr zurück­kehrt. Dabei ist Raf­fiq mit Amal zusam­men, einem selbst­be­wuss­ten, lang­haa­ri­gen Mäd­chen mit roten Fin­ger­nä­geln. Und er weiß, dass Younes sich unend­lich dafür schämt, dass seine Mut­ter im Vier­tel als „Hure“ gilt. Nur wenn Raf­fiq sie in Gedan­ken als „Younes Mut­ter“ bezeich­net, kann er ihrem betö­ren­den Äuße­ren standhalten.

„Shahira ist ein Geist, der Younes umspielt und stän­dig mit uns ist, ohne dabei zu sein, als wären wir gefan­gen in ihrem Bauch. Irgend­wann wird Younes ihrem Bauch ent­wach­sen, und kei­ner weiß, was dann pas­siert, und das macht uns alle ner­vös.“ (S. 22)

Am liebs­ten würde Younes zu sei­nem Vater nach Frank­furt flüch­ten und Raf­fiq gleich mit­neh­men: Nach dem Abitur könn­ten sie dort eine WG grün­den, ein Stu­dium begin­nen. Aber Raf­fiq ist sich unsi­cher. Er möchte nicht, dass sein Vater zurück nach Kur­di­stan geht, um dort statt als Gabel­stap­ler­fah­rer als Archi­tekt zu arbei­ten und er möchte auch nicht, dass Amal als Au Pair nach Chi­cago geht. Aber was er selbst eigent­lich in sei­nem Leben errei­chen möchte, das kann er nicht benennen.

Die Schönste im gan­zen Viertel

Die bei­den Roman­hälf­ten zei­gen Figu­ren mit den glei­chen Namen in ähn­li­chen Situa­tio­nen, doch in vie­len Punk­ten unter­schei­den sich die Amals, Raf­fiqs und Väter in die­sen Geschich­ten. Andere Ele­mente tau­chen in bei­den Geschich­ten auf, aber ver­zerrt oder gespie­gelt: ein an die Wand gemal­tes Fuß­ball­tor oder der rote Nagel­lack zum Bei­spiel. Nur das Zen­trum der Erzäh­lun­gen bleibt gleich, Shahira. Durch die von­ein­an­der abwei­chen­den Rea­li­tä­ten, in die sie ein­ge­bet­tet wird, wer­den zwei ganz unter­schied­li­che Blick­win­kel auf das Leben im Mul­ti­kul­ti­vier­tel mög­lich. Und auch erzäh­le­risch unter­schei­den sich die bei­den Sei­ten des Romans: Amals Hälfte ist eine mäan­dernde Erzäh­lung ohne Anfüh­rungs­zei­chen, die von Wie­der­ho­lun­gen und star­ken Bil­dern lebt. Raf­fiqs Erzäh­lung hin­ge­gen ist näher an der all­täg­li­chen Spra­che und ent­hält viele Dialoge.

Karosh Taha ist mit „Im Bauch der Köni­gin“ ein viel­schich­ti­ger, unkon­ven­tio­nel­ler Roman gelun­gen. Wer sich auf die beson­dere Art des Erzäh­lens ein­las­sen kann, wird davon sicher­lich nicht ent­täuscht werden.

Im Bauch der Köni­gin. Karosh Taha. Dumont. 2020.

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