Strandgut oder die Entdeckung der Philosophie

by Bücherstadt Kurier

Damals war ich vier­zehn und an der Nord­see; ein Fami­li­en­ur­laub mit mei­nen Eltern und mei­ner Schwes­ter. Zuerst war noch alles ganz ein­fach und ding­lich. Dann aber machte ich unver­mu­tet eine Erfah­rung fürs Leben, die mich dazu brachte, nach­denk­lich und der­je­nige zu wer­den, der ich jetzt bin.

Die Sache nahm ihren Anfang in einer Sei­ten­straße des Urlaubs­or­tes. Dort befand sich ein klei­ner Shop mit aller­lei Kram, natür­lich mit Bezug zum Mari­ti­men. See­sterne inter­es­sier­ten mich nicht, Muscheln konnte man leicht am Strand fin­den, ein Pira­ten-Shirt hatte ich schon, eine Prinz-Hein­rich-Mütze war etwas für Opas. Doch dann ent­deckte ich hin­ten auf einem Fens­ter­brett die­ses Ein­mach­glas, son­nen­be­schie­nen. Ein Glit­zern und Leuch­ten, ein herr­li­cher Glanz ging von die­sem Glas aus. Das Gold der Meere! Bern­stein! Ich war fas­zi­niert, wies aber das Ange­bot mei­nes Vaters zurück, mir ein Stück zu kau­fen. Das erschien mir zu ein­fach, zu unsport­lich. Der Laden­be­sit­zer meinte auf meine Frage hin, dass jetzt (es war August) ein Fund am Strand oder im Watt recht unwahr­schein­lich sei, bes­sere Chan­cen böte der Herbst mit sei­nen Stür­men, die den Bern­stein an den Strand brächten.

Das hielt mich aber in den rest­li­chen zwei Wochen nicht davon ab, den Strand ent­lang­zu­wan­dern, den Blick auf den Boden gerich­tet, alles prü­fend, was gelb, orange oder röt­lich war und nach Bern­stein aus­sah. Erfolg hatte ich damit aber nicht, was meine kleine Schwes­ter ach­sel­zu­ckend so kom­men­tierte: „Sammle doch Muscheln wie ich!“ Vor allem die Herz­mu­scheln hat­ten es ihr ange­tan, mit denen man Sand­bur­gen schmückt, doch das schien mir kein pas­sen­der Ersatz für Bern­stein zu sein. So suchte ich wei­ter, meine end­lo­sen Strand­gänge nur unter­bro­chen von gele­gent­li­chem Schwim­men im Meer. Bald dehnte ich meine Suche aufs Watt aus, bei Nied­rig­was­ser ging ich weit hin­aus. Statt Bern­stein fand ich dort von den Wel­len ver­formte Holz­stü­cke, manch­mal auch Steine, von denen ich dachte, dass sie viel­leicht Über­reste von im Meer ver­sun­ke­nen Häu­sern seien, denn im Lauf der Zeit ist viel bewohn­tes Land an die Nord­see verlorengegangen.

Am Ende des Urlaubs hatte ich fast schon resi­gniert. Da war kein Bern­stein für mich! Am letz­ten Tag ging ich aber noch ein­mal ins Watt, und sah von Wei­tem ein Glit­zern. Was war dort? Lang­sam ging ich näher. Eine Fla­sche ... Doch was war das? Da befand sich ein Zet­tel drin! Eine Fla­schen­post! Der Ver­schluss ging schwer auf, bloß nichts nass machen. Worte in Eng­lisch: Hello, I´m Tim from Dover ... Ich war begeis­tert, hatte ja auch schon Eng­lisch in der Schule, so nahm ich die Post mit. Ich hatte Bern­stein gesucht und eine Fla­schen­post gefunden.

Das gab mir zu den­ken. Das Erhoffte blieb mir ver­wehrt, das Unver­hoffte hielt ich in Hän­den. Kein schlech­ter Tausch. Und zurück Zuhause schrieb ich dann eine Ant­wort auf die Fla­schen­post (mit ein biss­chen Hilfe von mei­nen Eltern). So ent­stand eine Brief­freund­schaft, die tat­säch­lich ein paar Jahre anhielt.

Aus dem Stre­ben nach Mate­rie war etwas viel Wert­vol­le­res gewor­den. Ist dies das Erwach­sen­wer­den, wie es sein sollte? Weis­heit zu erken­nen, ein Freund der Weis­heit zu wer­den, ein Phi­lo­soph, wie es auf Grie­chisch heißt? Jeden­falls begann ich nun mehr über die Dinge nach­zu­den­ken, mich zu fra­gen, was wirk­lich zählt – der Erfolg von Musik in den Hit­pa­ra­den oder die Aus­sage und tat­säch­li­che Qua­li­tät von Songs. Der mit allen Mit­teln erkämpfte Sieg oder die ehren­volle Nie­der­lage nach einer guten Leistung ...

Irgend­wann riss dann der Kon­takt zu mei­nem Brief­freund ab, bis ich neu­lich eine Karte erhielt, die im Brief­kas­ten mei­ner Eltern gelan­det war, wel­che immer noch die­selbe Adresse haben. „Dear Jakob, do you remem­ber me ...“ Ob ich mich an ihn erin­nere? Of course, na klar! Dem­nächst besu­che ich Tim und seine Fami­lie in Eng­land, auf der ande­ren Seite des Was­sers sozu­sa­gen. Und Bern­stein? Bis­her habe ich noch kei­nen gefun­den, aber das macht nichts ...

Stadt­be­su­cher Jür­gen Rösch-Brassovan
Bild: Geschich­ten­zeich­ne­rin Celina

Ein Bei­trag zum Spe­cial #phi­lo­so­phie­stadt. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

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