Tunnelblick

by Bücherstadt Kurier

Foto: Wortklauberin Erika

Majes­tä­tisch brei­tete er die Schwin­gen aus und flog über das Land sei­ner Väter. Der Him­mel war blau und unter ihm glit­zerte der Snake River, der sich von Nadel­bäu­men gesäumt vor den Fel­sen­ber­gen schlängelte.
Der Adler pas­sierte hohe Gip­fel, seine Flü­gel tru­gen den leich­ten Kör­per über schroffe Schluch­ten, bis er nach Nor­den abdrehte. Er genoss seine Frei­heit und segelte mit dem Wind.
Sein Herz schlug in freu­di­ger Erwar­tung, wäh­rend er dem Ver­lauf des Berg­kamms folgte. Dann, über eine Ebene hin­weg, erspähte er sie end­lich, seine Chu­mani. Der große Vogel näherte sich vor­sich­tig und sah, dass sie Wild­kräu­ter pflückte. Dabei sang sie eine alte Weise ihrer Vor­fah­ren. Chu­ma­nis schwar­zes Haar glänzte im Son­nen­licht und den dicken Zopf schmück­ten viele bunte Holz­per­len. Mit weni­gen Flü­gel­stö­ßen war er über ihr und zog gemäch­lich seine Kreise.
„Hallo Wam­bleeska“, rief sie und winkte ihm zu.
Die Gegend wirkte fried­lich, aber der Adler spürte eine Ver­än­de­rung. Auf­kom­men­der Wind trug dunkle Wol­ken her­bei. Am Hori­zont sich­tete er fremde Rei­ter in Uni­form. Er erkannte die Farbe und die Ver­zie­run­gen und wurde von einer unsag­ba­ren Angst ergrif­fen. In Panik stürzte Wam­bleeska hinab. Er musste Chu­mani dort weg­brin­gen! Aber egal, wie stark er mit dem Schna­bel an ihrer Lederbluse zog, sie rührte sich nicht von der Stelle.
Statt­des­sen sah sie sich um. „Ich kann nicht vor ihnen flie­hen! Meine Flü­gel sind ver­wun­det. Du musst dich ret­ten! Schnell!“ Ihr stan­den Trä­nen in den Augen, als sie sei­nen Schna­bel sanft aus ihrer Klei­dung löste.
Er wusste nicht, was er tun sollte, wie er sie schüt­zen konnte. Die Rei­ter kamen in flie­gen­der Eile näher. Ein mäch­ti­ger Knall ließ den Adler tau­meln. Keine Sekunde spä­ter musste er mit anse­hen, wie eine wei­tere Kugel seine Chu­mani durch­bohrte und ihre gesam­mel­ten Kräu­ter wie in Zeit­lupe zu Boden fielen.
Ihr Kör­per sank hinab ins Gras. Ihr Gesicht zer­floss mit dem ein­set­zen­den Regen zu einer häss­li­chen Fratze.

„Nein!“, schrie Wam­bleeska und fegte die Bour­bon­fla­sche vom Tisch.
Isi fuhr erschro­cken in ihrem Bett hoch. Hell­wach lief sie drei Schritte aus ihrem Zim­mer in die angren­zende Küche des win­zi­gen Con­tai­ners, der ihnen als Wohn­raum zuge­spro­chen wor­den war.
„Vater?!“ Sie hob die aus­ge­lau­fene Fla­sche auf und setzte sich ihm gegenüber.
„Chu­mani …“
„Ich weiß. Es war nur ein Traum, keine Rea­li­tät!“ Isi hielt seine Hand. Ihre Hoff­nung, dass er jemals über die Aus­rot­tung sei­nes Clans hin­weg­kom­men würde, ver­flüch­tigte sich wie der aus­ge­schüt­tete Alkohol.
„Ich brau­che noch einen Schluck.“ Er ver­suchte, auf­zu­ste­hen, kippte jedoch starr neben dem Küchen­tisch vornüber.
Isi konnte ihn nicht schnell genug stüt­zen und so fiel er pol­ternd zu Boden. Seine Augen starr­ten ins Leere.
Sie schob ihrem Vater ein Kis­sen unter den Kopf. „Ich benach­rich­tige Saul.“
Wenig spä­ter stand Dr. Saul Miz­ra­chi im Wüs­ten­con­tai­ner Num­mer 43. Nor­ma­ler­weise kamen die Ärzte nicht zum Haus­be­such, aber Isi hatte Glück. Saul machte für sie gerne eine Ausnahme.
„Er war doch tro­cken, ver­dammt!“, fluchte der Arzt. Er prüfte Wam­blees­kas Blut­druck und Puls. Dann schaute er Isi ernst an. „Gibst du mir das Über­wa­chungs­band des Containers?“
„Aber … wenn das Band jemand sieht, der dem Gesetz folgt. Sie wer­den Vater umbrin­gen! Bis­her hat­ten sie kei­nen Grund, zu schnüf­feln. Viel­leicht hat er noch eine Chance, bitte!“
Saul nickte lang­sam. „Ich hätte gern her­aus­ge­fun­den, wieso er wie­der trinkt. Aber du hast recht, es ist zu gefähr­lich. Zumal vor drei Stun­den erst Con­tai­ner 40 fern­ver­rie­gelt wurde. Kei­ner kam mehr raus. Angeb­lich ein Virus. Mor­gen wird er geräumt und desinfiziert.“
„Für die nächs­ten“, ergänzte Isi bitter.
„Keine Sorge, ich passe auf euch auf. Die kurz­fris­tige Ein­la­dung bei mei­nem Pro­fes­sor heute Abend konnte ich aller­dings nicht ausschlagen.“
„Oh.“
„Hm.“
„Ich dachte wirk­lich, Vater hätte die­ses Chu­mani-Trauma über­wun­den.“ Isi schniefte geräusch­voll in ein Taschentuch.
„Er müsste eigent­lich in den Kran­ken­wür­fel, Isi. Kei­ner weiß, wie stark er sich den Kopf gesto­ßen hat.“
An Wam­bleeska gewandt, fragte er: „Kön­nen Sie mich hören? Haben Sie Schmerzen?“
Ein Stöh­nen war die Antwort.
„Die Kran­ken­sta­tion wäre sein siche­rer Tod, sie wer­den keine Säu­fer dul­den.“ Isis Ver­zweif­lung wuchs. „Da ist noch nie einer lebend zurückgekehrt.“
Wäh­rend Saul ihrem Vater Was­ser und Elek­tro­lyte ein­flößte, starrte Isi mit gesenk­tem Kopf auf die Ril­len im Fuß­bo­den. „Ich kann nicht dau­ernd auf ihn auf­pas­sen, muss doch arbei­ten und uns damit am Leben halten.“
„Das ver­stehe ich. Dich trifft keine Schuld. Dein Vater ist selbst für sich ver­ant­wort­lich.“ Er seufzte. „Ich gebe ihm ein Schmerz­mit­tel. Hof­fen wir, dass er keine inne­ren Ver­let­zun­gen hat. Du kannst ihm unter­stüt­zend einen Ing­wer­tee kochen, der sta­bi­li­siert den Blutzuckerspiegel.“
Zusam­men hiev­ten sie Wam­bleeska ins Bett.
„Ich ver­su­che, wie­der hier zu sein, wenn er in fünf bis sechs Stun­den auf­wacht. Der Ent­zug wird jedes Mal här­ter, er könnte Unfug anstel­len.“ Saul drückte Isi an der Tür noch ein­mal an sich und küsste sie auf die Stirn. Dann trat er in die kühle Nacht­luft. Über ihm erstrahlte ein ster­nen­kla­rer Him­mel. „Ich ver­stehe es wirk­lich nicht, Isi. Er ist die fünfte Genera­tion nach sei­nem Urgroß­va­ter und hat Chu­mani nicht gekannt. Glau­ben die Urein­woh­ner inner­halb einer Blut­li­nie an Wiedergeburt?“
„Es ist über­lie­fert, dass der Geist beim Tod eines Vor­fah­ren aus­tritt und in die nächste Genera­tion schwebt, auch über weite Ent­fer­nun­gen hin­weg. Einige Nach­kom­men müs­sen die Weis­heit unse­res gan­zen Vol­kes in sich tra­gen. Gute Erfah­run­gen genauso wie schlechte.“
„Ver­rückt.“ Saul winkte zum Abschied.
„Nein, essen­zi­ell.“ Isi schloss die Tür. Saul würde das als Außen­ste­hen­der nie verstehen.
Sie strei­chelte betrübt ihren Bauch, der sich lang­sam wölbte. Eben hatte sie es Saul end­lich sagen wol­len, aber wie­der war alles anders gekommen.
„Is … i!“ Es war mehr ein Röcheln, denn ein Rufen.
„Vater?“ Schnell betrat seine Toch­ter den win­zi­gen Raum und betä­tigte den Lichtschalter.
Sie zerrte Wam­bleeska aus sei­nem Erbro­che­nen und schaute ihn besorgt an. „Schaffst du es, sitzenzubleiben?“
In dem Moment über­gab er sich erneut.
So gut es ging, wischte Isi alles auf und bezog sein Bett neu, wäh­rend der einst stolze Adler ins Leere stierte. Auf ein­mal rang er gequält nach Luft.
Isi hielt seine Schul­tern. „Nicht auf­re­gen, Vater. Alles wird gut.“

Kurz war er ganz klar, blickte in Isis Gesicht. Es erschien ihm fremd. Was war mit ihr?
„Ich … mache so viel … Ärger. Bin ein Nichts­nutz.“ Wam­bleeska wurde schreck­lich müde. „Die letzte Feder des Adlers fällt zu Boden.“
„Das darfst du nicht sagen! Wir haben hier viele Freunde, die für uns da sind, und ich habe Arbeit.“
Er lachte bit­ter­lich. „Meine Flü­gel … sie sind genauso gebro­chen wie die von Chu­mani. Es ist … nur eine Frage der Zeit, bis … “ Bei die­sen Wor­ten kippte er wie­der ins Bett.
Zusam­men mit Isi schaffte er es in eine halb­wegs bequeme Sei­ten­lage. Sein Blick fiel auf eine win­zige röt­li­che Lampe an der Wand gegen­über. Kaum sicht­bar im grel­len Neon­licht. Wieso hatte er die nie bemerkt?
Bevor er seine Toch­ter fra­gen konnte, war er wie­der weggetreten.

„Da drü­ben, der Snake River!“, rief der Adler.
Dies­mal flog er neben Chu­mani über das Land sei­ner Väter.
Als sie dem Fluss näher kamen, klang ihre Stimme jedoch besorgt. „Er sieht heute so anders aus.“
Wam­bleeska ging in den Sink­flug und sah erschro­cken, was sie meinte. Der Strom – sein sonst so kla­res Was­ser war blutrot!
Chu­mani schrie neben ihm auf. Ihre Federn schie­nen selt­sam ver­krus­tet-ver­klebt. Sie stürzte panisch flat­ternd ab.
Auch dies­mal konnte er ihr nicht helfen.
„Nein!“

Blut­rot schien auch das Licht in Wam­blees­kas Zim­mer, als Isi mit Saul zur Tür her­ein­stürzte. Kurz dar­auf hör­ten sie ein unbe­kann­tes Geräusch.
Isis Stimme zit­terte, als sie begriff. „Nein! Nein, das dür­fen die nicht tun! Vater, wir müs­sen hier raus!“ Sie ver­suchte panisch, Wam­bleeska auf die Füße zu zie­hen, wäh­rend Saul sich wie­der und wie­der gegen das Fens­ter schmiss, um es einzuschlagen.
Doch es war zu spät. Er musste ent­setzt mit anse­hen, wie die auto­ma­ti­schen Rol­lä­den am Fens­ter­stock einrasteten.
Saul kau­erte sich zu den ande­ren aufs Bett.
Für Worte blieb keine Zeit mehr.
Der Con­tai­ner hatte sich selbst verriegelt.

Majes­tä­tisch brei­tete der Adler seine Schwin­gen aus und flog über das Land sei­ner Väter. Er musste es nun ver­las­sen. Seine Flü­gel tru­gen ihn weit weg von jeg­li­cher Zivi­li­sa­tion, bis zu einem Gebirgs­see. Dort fand er Chu­mani am Ende eines lan­gen Ufer­ste­ges. Neben ihr stand seine Toch­ter Isi, ein Baby lag in ihren Armen.
„Hallo Wam­bleeska“, rie­fen ihm die Frauen freu­dig zu.
Saul saß mit einer Angel am Ufer.
Wam­bleeska lan­dete in der Nähe und schaute sich um.
Hier gab es keine Rei­ter, keine Kugeln, kein Blut.
Zum ers­ten Mal, seit er den­ken konnte, spürte der Adler Geborgenheit.

June Is, Twit­ter: @ypical_writer
Foto: Wort­klau­be­rin Erika
Ein Bei­trag zum Pro­jekt 100 Bil­der – 100 Geschich­ten – Bild Nr. 29.

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