Über die Verflechtung der Erinnerungen

by Bücherstadt Kurier

Romane, die sich mit Kind­heits­er­in­ne­run­gen aus­ein­an­der­set­zen, gibt es viele. Ger­trud Leu­ten­eg­ger setzt die Refle­xion der Ver­gan­gen­heit in „Pani­scher Früh­ling“ jedoch in einen ori­gi­nel­len zeit­lich-räum­li­chen Kon­text, in dem das Ver­gan­gene sich mit traum­wand­le­ri­scher Leich­tig­keit mit der Gegen­wart verwebt.

Lon­don ist im April 2010 vom Rest der Welt abge­schnit­ten, als der Aus­bruch des islän­di­schen Vul­kans den Flug­ver­kehr behin­dert. Wäh­rend­des­sen streift die namen­lose Ich-Erzäh­le­rin durch die Metro­pole und lässt sich von ihren Sin­nes­ein­drü­cken und ihren Erin­ne­run­gen trei­ben. Eines Tages lernt sie Jona­than ken­nen, einen jun­gen Ver­käu­fer einer Obdach­lo­sen­zei­tung mit einem ent­stell­ten Gesicht. Beide mer­ken, dass sie etwas ver­bin­det, und so begin­nen sie, ein­an­der von ihrer Ver­gan­gen­heit zu erzäh­len und sie dabei zu ver­ar­bei­ten. Die Gren­zen ihrer Erfah­run­gen ver­schwim­men lang­sam, sodass die Ich-Erzäh­le­rin immer mehr von Jona­than wis­sen möchte...

So sim­pel und schnell die Hand­lung des Romans erzählt ist, so raf­fi­niert ist sie sprach­lich ein­ge­bet­tet. Kurze Pas­sa­gen, geglie­dert von Hoch- und Nied­rig­was­ser der Themse, geben einen schil­lern­den Ein­blick in das heu­tige Lon­don und ver­schie­dene Kind­hei­ten in unter­schied­li­chen Epo­chen. Dabei sind die Sätze mit­un­ter so aus­ge­feilt, dass sie fast wie Pro­sa­ly­rik wir­ken. In der Ver­we­bung von Erin­ne­rung und Erfah­rung schei­nen alle Pas­sa­gen selbst wie Traum­sze­ne­rien, die den Leser in den Bann schla­gen. Beson­ders span­nend ist das Motiv der Tren­nung und des Zuein­an­der­fin­dens, das den Roman bis in das kleinste Detail wie Puls­schläge durch­zieht. Groß­bri­tan­nien ist getrennt vom Rest der Welt, eine Mut­ter von der Toch­ter, die Ich-Erzäh­le­rin von Jona­than, Gegen­wart von der Ver­gan­gen­heit – und doch berührt sich alles schließ­lich immer wie­der. Wo die Hand­lung und die Figu­ren nur an der Ober­flä­che ange­tas­tet wer­den, springt die Spra­che statt­des­sen ein, um den Leser zu vereinnahmen.

Mit „Pani­scher Früh­ling“ hat es die Schwei­zer Autorin geschafft, auf die Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses auf­ge­nom­men zu wer­den. Alles in allem ein kur­zer, melan­cho­li­scher Roman, der es in sei­ner Rät­sel­haf­tig­keit ver­dient, zwei­mal gele­sen zu werden.

Maike

Ger­trud Leu­ten­eg­ger, Pani­scher Früh­ling, Suhr­kamp, 2014

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1 comment

amethyststurm 27. Oktober 2014 - 20:42

Hat dies auf ame­thyst­sturm reb­loggt und kommentierte:
Wie ich vor eini­ger Zeit ver­spro­chen habe, hier die Rezen­sion eines Titels der Short­list zum Deut­schen Buchpreis. 

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