Unerwartete Begegnung

by Bücherstadt Kurier

Zag­haft strich Bou­min mit sei­nen klei­nen Fin­gern über eins der gro­ßen Blät­ter des alten Bau­mes, auf dem er saß. Grün und kräf­tig leuch­tete es in den ers­ten Son­nen­strah­len des anbre­chen­den Tages. Die Luft roch nach nas­sem Gras, nach Erde und alter Baum­rinde – er liebte die­sen Duft. Zufrie­den lehnte er sich gegen den Stamm des Ahorn­bau­mes und ließ ein Bein über den Rand des Astes bau­meln. Obwohl es frü­her Mor­gen war, fror er nicht. Die Sonne schien warm vom Him­mel und er genoss die Stille, kurz bevor die ers­ten Vögel zu sin­gen began­nen. Ein Eich­hörn­chen hüpfte an ihm vor­bei, hielt kurz inne, schnup­perte irri­tiert und ver­schwand dann aus sei­nem Blick­feld. Er kicherte leise. Auf­grund sei­nes grü­nen Kör­pers war er für jeg­li­che Tiere des Wal­des nahezu unsicht­bar, da er zwi­schen den Blät­tern der Bäume mühe­los ver­schwand. Doch sein Geruch ver­schwand dadurch natür­lich nicht und genau das schien sie zu verunsichern.
Nicht sel­ten machte Bou­min sich einen klei­nen Spaß dar­aus, die Tiere ein wenig durch­ein­an­der zu brin­gen, indem er mit Blü­ten­pol­len oder wei­chen Gras­bäl­len nach ihnen warf, um sich dann schnell wie­der zwi­schen den Blät­tern zu ver­ste­cken. Die Ältes­ten hat­ten ihn schon oft dafür geta­delt. „Unsere Auf­gabe ist es, uns um das Leben im Wald zu küm­mern, nicht es zu ver­schre­cken!“, hat­ten sie gesagt und nur die Köpfe geschüt­telt. Ihre lan­gen Bärte, die schon lang­sam braun wur­den, hat­ten dabei gera­schelt wie altes Herbst­laub. „Wir sind die Wald­geis­ter.“ Wie er die­sen Satz hasste. Als wüsste er das nicht selbst. Seit dem Tag sei­ner Geburt hatte er nichts ande­res gehört. Es war die erste Geschichte, die kleine Wald­geis­ter­kin­der hör­ten, sobald sie aus ihren Nest­höh­len gekro­chen kamen. Das konnte unge­mein anstren­gend sein. Oft wünschte er sich, er könnte dem Gefa­sel der alten Män­ner irgend­wie entkommen.
Auch heute war er des­halb heim­lich aus dem Zelt geschli­chen, als die Ältes­ten zur mor­gend­li­chen Ver­samm­lung geru­fen hat­ten, noch bevor die Sonne auf­ge­gan­gen war. Unge­se­hen war er die Trep­pen des Turms hin­un­ter­ge­klet­tert, in dem sein Volk wohnte, seit er den­ken konnte und deren Stu­fen wie Zähne aus dem alten Gemäuer rag­ten, umge­ben von Sträu­chern und Wild­blu­men. Über die gras­be­wach­sene Lich­tung war er dann in die schüt­zende Ruhe der Bäume geflüch­tet. Hier würde ihn für die nächs­ten Stun­den nie­mand fin­den und er konnte in Frie­den sei­nen Gedan­ken nach­hän­gen. So dachte er zumindest.
Träge schweifte sein Blick über die umlie­gen­den Baum­spit­zen und er spürte, wie eine woh­lige Müdig­keit ihn erfasste. So ließ es sich leben. Lang­sam fie­len ihm die Augen zu, als plötz­lich ein lau­tes Kna­cken die mor­gend­li­che Stille des Wal­des durch­brach und ihn jäh aus sei­nen Tag­träu­men riss. Ver­är­gert sprang er auf. Wer störte seine wohl­ver­diente Ruhe? Flink krab­belte er an die Spitze sei­nes Astes, und lugte vor­sich­tig durch die Blät­ter nach unten. Er hatte ein Reh erwar­tet oder ein Wild­schwein, das sich auf der Suche nach Nah­rung gna­den­los sei­nen Weg durch das Dickicht bahnte. Was er aber dort am Fuße sei­nes Bau­mes erblickte, ließ ihn erschro­cken nach Luft schnap­pen. Die­sem Wesen, das sich mit lau­tem Schnau­fen auf dem Boden nie­der­ließ und müde sein rot­blon­des Haar aus der Stirn strich, war Bou­min noch nie zuvor begeg­net. Nichts­des­to­trotz kannte er diese Art aus den Geschich­ten der Ältes­ten. Geschich­ten über soge­nannte Zwei­bei­ner, die außer­halb des Wal­des wohn­ten und vor lan­ger Zeit den Turm erbaut hat­ten, in dem sein Volk nun lebte. Doch seit den ers­ten Tagen der Ältes­ten war keins die­ser Wesen je hier auf­ge­taucht. Es hieß, ein alter Zau­ber schütze den Wald und seine Bewoh­ner vor ihnen und den Gefah­ren, die sie mit sich brach­ten. Wie hatte die­ser es also geschafft, bis hier­her vorzudringen?
Bou­min warf einen kur­zen Blick nach Wes­ten. Nicht weit ent­fernt befand sich sein Volk mit­ten in der mor­gend­li­chen Ver­samm­lung in Sicher­heit und er hockte hier, allein, mit­ten im Wald, wäh­rend sich unter ihm eines der gefähr­lichs­ten Wesen, von denen er je gehört hatte, an sei­nen Baum lehnte. Unschlüs­sig kratzte er sich an dem grü­nen Flaum an sei­nem Kinn. Sollte er umkeh­ren und sein Volk war­nen? Sein Kopf sagte ihm, dass er schleu­nigst den Weg nach Hause neh­men sollte, doch seine Neu­gier ließ ihn nicht gehen.
Noch war der Zwei­bei­ner weit ent­fernt vom Turm. Bou­min konnte ihn also noch eine Weile beob­ach­ten, und selbst dann blieb ihm noch genü­gend Zeit, um vor ihm am Turm zu sein. Fas­zi­niert schaute Bou­min nun also zu, wie der Zwei­bei­ner auf­stand und sei­nen Weg durch das Unter­holz fort­setzte. Dabei fluchte die­ser immer wie­der leise, wenn ihn ein Ast in die Beine oder eine der Mücken in die Arme stach. Ein selt­sa­mes Wesen. Bou­min kicherte und klet­terte auf den nächs­ten Ast. So folgte er dem Zwei­bei­ner immer wei­ter in den Wald hin­ein. Er fragte sich, warum er wohl hier war. Suchte er etwas? Oder hatte er sich nur ver­irrt? Bou­min hoffte instän­dig, dass sein Ziel nicht der Turm war. Er wollte sich nicht vor­stel­len, wie die Ältes­ten dar­auf reagie­ren wür­den. Oder dar­auf, dass er nicht sofort zu ihnen geeilt war. Die­sen Gedan­ken ver­drängte er lie­ber sofort.

Nach einer Weile machte der Zwei­bei­ner schließ­lich an einer Bir­ken­gruppe Halt und griff in den Tie­fen sei­ner Klei­dung nach etwas, das er sich an den Mund setzte. Gespannt beugte sich Bou­min auf sei­nem Ast vor, um bes­ser sehen zu kön­nen. Und genau das hätte er lie­ber nicht getan. In sei­ner Neu­gier ver­la­gerte er sein Gewicht immer wei­ter nach vorn und ver­suchte zu erken­nen, was der Zwei­bei­ner da in der Hand hielt. Und bevor er sich ver­sah, hatte er auch schon das Gleich­ge­wicht ver­lo­ren und lan­dete mit einem spit­zen Schrei auf dem Boden im Unterholz.
Zum Glück lan­dete er weich auf Moos und Blät­tern. Erschro­cken und leicht benom­men blieb er ein­fach dort lie­gen. Im nächs­ten Moment beugte sich eine dunkle Gestalt über ihn und tippte ihn sanft mit dem Fin­ger an. Ein­mal. Zwei­mal. Bou­min war wie erstarrt. Über ihm kniete der Zwei­bei­ner in sei­ner vol­len Größe. Er beäugte Bou­min skep­tisch, so als ob er nicht recht wusste, wen oder was er da vor sich hatte. Unsi­cher sah er sich um. Bou­min nutzte den Moment, stieß einen Schrei aus und sprang hek­tisch ins nächste Gebüsch. Der Zwei­bei­ner zuckte zusam­men. „Hey“, rief er aus. „So warte doch!“ Doch Bou­min tat ihm den Gefal­len natür­lich nicht. So weit wie mög­lich kroch er in das schüt­zende Dickicht, das ihn vor den Bli­cken des Zwei­bei­ners ver­barg. Was sollte er jetzt nur tun? Er war die­sem Wesen so gut wie schutz­los aus­ge­lie­fert. Nicht mal um Hilfe rufen konnte er. Wer würde ihn schon ret­ten? Er glaubte nicht, dass einer der Ältes­ten auch nur eine Träne um ihn wei­nen würde.
Mit ban­gem Blick beob­ach­tete er, wie der Zwei­bei­ner mit bei­den Armen ver­suchte, die Äste vor ihm aus­ein­an­der­zu­schie­ben. Mit wenig Erfolg, wie Bou­min nun doch tri­um­phie­rend fest­stel­len musste. Viel­leicht gab es noch Hoff­nung. Erneut hörte er wie der Zwei­bei­ner zu flu­chen begann und sich auf den Boden fal­len ließ. Miss­trau­isch sah Bou­min ihn an. Was hatte er nur vor? Wollte er dar­auf war­ten, dass er her­aus­kam, um ihn dann wie eine Ameise unter sei­nen rie­si­gen Füßen zu zer­quet­schen? Oder wollte er ihn doch lie­ber aus­hun­gern las­sen? Bei dem Gedan­ken daran schnürte ihm die Angst die Kehle zu und er wünschte, er hätte den Turm heute Mor­gen erst gar nicht verlassen.
Mit pochen­dem Her­zen war­tete er dar­auf, dass etwas pas­sierte. Einige Minu­ten lang geschah nichts, der Zwei­bei­ner rieb sich nur mehr­mals über die gerö­tete Haut und seufzte. Irgend­et­was an ihm war selt­sam, Bou­min wusste nur nicht genau, was. Doch je län­ger er in sei­nem Ver­steck aus­harrte und den Zwei­bei­ner beob­ach­tete, desto mehr musste er zuge­ben, dass die­ses Wesen im Prin­zip nur halb so gefähr­lich aus­sah, wie ihn das die Geschich­ten der Ältes­ten hat­ten glau­ben las­sen. Wenn Bou­min ehr­lich war, wirkte die­ses hier eher trau­rig und müde. Woher wusste er eigent­lich, dass Zwei­bei­ner ihm wirk­lich Böses woll­ten? Genau, von den Ältes­ten. Und wann hat­ten sie jemals einen zu Gesicht bekom­men? Oder einem gegen­über gestan­den? Eben, noch nie. Das gab den Ausschlag.

Bou­min atmete tief ein. Einen Ver­such war es doch wert. Er mochte gar nicht daran den­ken, dass ihm viel­leicht auch nur die­ser eine blieb. Vor­sich­tig und sicht­lich ner­vös gab er also seine Deckung auf und kroch mit zit­tern­den Bei­nen aus sei­nem Ver­steck. Noch nie hatte er sol­che Angst gehabt. Einer Ein­ge­bung fol­gend griff er nach einem abge­bro­che­nen Ast und fühlte sich sofort etwas siche­rer, obwohl er wusste, dass er damit nichts würde aus­rich­ten kön­nen. Der Zwei­bei­ner hob den Kopf, als Bou­min sich ihm zag­haft näherte, die Spitze des Stocks zit­ternd auf ihn gerich­tet. Beide fixier­ten ein­an­der und Bou­min lau­erte auf jede unge­wöhn­li­che Bewe­gung. Schließ­lich hob der Zwei­bei­ner einen Fin­ger. Mit einem Auf­schrei schlug Bou­min mit dem Stock danach. „Au!“, ent­fuhr es sei­nem Gegen­über und der Zwei­bei­ner zog die Hand wie­der zurück. „Bitte“, sagte er rau. „Ich will dir nichts tun. Ich kann es nur nicht glau­ben. Es gibt euch wirklich.“
Bou­min ver­stand zwar kein Wort, doch er hörte das Erstau­nen in der Stimme des Zwei­bei­ners. Mutig, wie er fand, machte er einige wei­tere Schritte auf ihn zu und berührte leicht des­sen Knie. Was soll‘s, dachte er und sah hoch in das große Gesicht über ihm, aus dem ihn leuch­tende Augen anstarr­ten. Etwas unbe­hag­lich fuhr Bou­min sich durch die grü­nen Haare. Bei­nahe ehr­fürch­tig hob der Zwei­bei­ner die Hand. Bou­min ging in Kampf­stel­lung. Doch sein Geg­ner lachte und anstatt nach ihm zu grei­fen, winkte er nur. „Hallo, klei­ner Kerl. Mein Name ist Felix“, sagte er und lächelte. Ver­blüfft ließ Bou­min seine Waffe sin­ken. Sein Gefühl sagte ihm, dass er nicht in Gefahr war. Also tat er es dem Zwei­bei­ner gleich: Er winkte. Das gefiel ihm. Was wür­den nur die Ältes­ten sagen, wenn sie mich jetzt sehen könn­ten, dachte er und musste grin­sen. Was schon, sagte er sich selbst. Er war ein Wald­geist, seine Auf­gabe war es, sich um das Leben im Wald zu küm­mern. Und genau das tat er doch.

Text: Mir­jam Schmidt
Foto: Satz­hü­te­rin Pia

Ein Bei­trag zum Pro­jekt 100 Bil­der – 100 Geschich­ten – Bild Nr. 30.

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