Unmögliche Dinge…

by Bücherstadt Kurier

„Manch­mal denke ich bereits vor dem Früh­stück an sechs unmög­li­che Dinge…“ (Alice im Wun­der­land, 2010)

Bild: mor​gue​file​.com

Es ist die erste Nacht, dass ich mit mei­nen zwei jün­ge­ren Geschwis­tern alleine zuhause bin. Meine Eltern sind übers Wochen­ende weg­ge­fah­ren und unsere Groß­mutter, die in die­sen Fäl­len immer das Kom­mando über­nimmt, kommt erst am nächs­ten Tag. Wir sind mitt­ler­weile auch wirk­lich alt genug, alleine zu blei­ben: mein Bru­der zehn, meine Schwes­ter sech­zehn und ich ein­und­zwan­zig. Sollte alles kein Pro­blem sein.
Und zunächst scheint es auch so. Mein Bru­der schläft noch vor 21 Uhr über sei­nem Buch ein und auch ich gehe nicht zu spät zu Bett, da meine Schwes­ter am nächs­ten Mor­gen Schule hat und sams­tags gerne ihren Wecker über­hört, was dazu führt, dass ich eben­falls um halb sie­ben auf­ste­hen und dar­auf ach­ten muss, dass sie pünkt­lich das Haus ver­lässt. Alles kein Pro­blem für mich; ich bin Früh­auf­ste­her und liebe den Morgen.
Um etwa 21 Uhr sitze ich im Wohn­zim­mer vor dem Kamin­feuer beim Schrei­ben, als meine Schwes­ter kommt. Sie will sich jetzt, noch um diese Uhr­zeit, einen Film anse­hen. Ich bin dage­gen, am nächs­ten Tag ist Schule und sie soll wenigs­tens in einer Nacht ein­mal genü­gend Schlaf abbe­kom­men. Sie argu­men­tiert dage­gen, meint, sie könne vor zwei Uhr mor­gens sowieso nicht schla­fen, ver­spricht mir aber, der Film sei spä­tes­tens um 22.30 Uhr zu Ende. Ich lasse sie also gewäh­ren und sie zieht sich mit Lap­top und Chips in ihr Zim­mer zurück.
Bevor ich kurz vor 22 Uhr zu Bett gehe, ermahne ich meine Schwes­ter noch­mals, es nicht zu spät wer­den zu las­sen und vor allem, nicht zu laut zu sein. Ich schlafe diese Nacht näm­lich mit offe­ner Tür, nur für den Fall, und wenn mein inne­res Alarm­sys­tem in Bereit­schaft ist, wache ich selbst mit­ten in der Nacht wegen dem kleins­ten Geräusch auf. Immer­hin habe ich ja die Ver­ant­wor­tung und man kann schließ­lich nie wis­sen, oder?
Ich bin schon fast ein­ge­schla­fen, als mir ein­fällt, dass ich ver­ges­sen habe, die Alarm­an­lage zu akti­vie­ren. Ich erle­dige das also, gehe zurück ins Bett und wenige Minu­ten spä­ter befinde ich mich schon im Reich der Träume.

Ich wache auf, weil jemand das Licht im Bad anmacht. Mein Zim­mer liegt schräg gegen­über und auf­grund der offe­nen Tür fällt mir der Licht­schein genau ins Gesicht. Jetzt, da ich schon wach bin, beschließe ich nach­zu­se­hen, ob meine Schwes­ter ihr Wort gehal­ten hat. Auf lei­sen Soh­len tappe ich zum Modem und bin sofort hell­wach. Alle Lämp­chen des Modems leuch­ten, es ist ein­ge­schal­tet. Ich schaue auf die Uhr. 00:56 Uhr. “You have got to be kid­ding me“, ist alles, was mir dazu ein­fällt. Jetzt reicht’s.
Ent­täuscht dar­über, dass sie ihr Ver­spre­chen mal wie­der nicht gehal­ten hat, aber auch ziem­lich wütend klopfe ich an die Zim­mer­tür mei­ner Schwes­ter. Ich gebe ihr nicht die Chance, den Lap­top schnell unter ihrem Kopf­kis­sen zu ver­ste­cken, son­dern öffne noch im sel­ben Moment die Tür. Da sitzt sie, auf ihrem Bett, den Lap­top auf dem Schoß, die Kopf­hö­rer in den Ohren.
„Das ist doch wohl ein Scherz“, knurre ich sie an. „Du schal­test jetzt sofort den Com­pu­ter aus. Und das jetzt gleich, denn ich will wie­der ins Bett und will vor­her sehen, dass alles aus­ge­schal­tet ist.“
Sie meint gelas­sen: „Ja, ja, wir las­sen es schon.“
‚Wir las­sen es schon‘?? Das kann doch nicht wahr sein. Das heißt näm­lich, dass sie mit ihrem Freund skypt. Um ein Uhr morgens.
Stink­sauer setze ich mich in mein Bett und warte, bis meine Schwes­ter den Com­pu­ter und das Modem abschal­tet. Irgend­wie bin ich wütend auf mich selbst, dass ich es nicht wenigs­tens ein­mal schaffe, meine Schwes­ter im Griff zu haben. Doch dann fällt mir ein, dass es mei­nen Eltern oft nicht anders mit ihr ergeht und ich die Tat­sa­che, dass meine Schwes­ter das aus­nutzt, wenn meine Eltern nicht da sind, höchst­wahr­schein­lich nicht per­sön­lich neh­men sollte.
Als wie­der alle Lich­ter aus sind und Ruhe im Haus ein­ge­kehrt ist, kommt mir ein genia­ler Gedanke. Ich traue es mei­ner Schwes­ter zu, dass sie nur war­tet, bis ich wie­der schlafe, um wie­der wei­ter­zu­ma­chen, wo ich sie unter­bro­chen habe. Also spa­ziere ich, mit einer Taschen­lampe bewaff­net, zum Modem, um es aus­zu­ste­cken und in mei­nem Zim­mer zu verstecken.
Ich finde einen regel­rech­ten Kabel­sa­lat und zig Anschlüsse vor, die ich mir noch nie wirk­lich näher ange­se­hen habe. Wäh­rend ich also hier um ein Uhr mor­gens her­um­bas­tele und ver­su­che, nur das Modem, nicht aber das Tele­fon außer Gefecht zu set­zen, muss ich fast über mich selbst und die ganze Situa­tion lachen. Irgend­wie finde ich das ganze unglaub­lich komisch. „Na ja, despe­rate times call for despe­rate mea­su­res“, denke ich nur und wun­dere mich ein­mal mehr dar­über, dass mein Gehirn so früh am Mor­gen, aus dem Tief­schlaf geris­sen, nichts Bes­se­res zu tun hat als mit mir auf Eng­lisch zu kommunizieren.
Als ich schließ­lich wie­der im Bett liege, das Modem tief in mei­nem Schrank ver­steckt, denke ich, dass ich an kaum einem ande­ren Mor­gen schon so viel geschafft habe. Mit einem Teen­ager fer­tig zu wer­den ist nicht leicht und wie­der ein­mal bin ich froh, dass ich noch keine eige­nen Kin­der und doch noch etwas Zeit habe, dar­über nach­zu­den­ken, ob ich jemals dazu bereit sein werde. Doch das brau­che ich nicht jetzt zu entscheiden.
Wäh­rend ich im Bett liege, an die Decke starre und in die Nacht hin­ein­höre, muss ich an Alice im Wun­der­land den­ken. Lang­sam beginne ich zu ver­ste­hen, wie schwer es ist, bereits vor dem Früh­stück an sechs unmög­li­che Dinge zu den­ken. Mit einem grin­se­kat­zi­gen Lächeln auf den Lip­pen und den ver­rück­ten Hut­ma­cher vor mei­nem inne­ren Auge schließe ich die Augen. In mei­nem Traum falle ich durch ein Kanin­chen­loch. Der Hase mit der Uhr, der dau­ernd zu spät ist, kommt mir irgend­wie bekannt vor. Er sieht mei­ner Schwes­ter ver­dammt ähn­lich. Aber das kann doch nicht sein, oder etwa doch?

Sil­via

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