Unter der Lupe: Zum wilden Mann

by Zeichensetzerin Alexa

Wil­helm Karl Raabe (1831−1910) war ein deut­scher Schrift­stel­ler und einer der wich­tigs­ten Ver­tre­ter des poe­ti­schen Rea­lis­mus. Erst vom Publi­kum tot­ge­schwie­gen, dann miss­ver­stan­den – sein Werk ist vol­ler Gesell­schafts­kri­tik und Mehr­deu­tig­keit. Zei­chen­set­ze­rin Alexa hat seine Novelle „Zum wil­den Mann“ mal unter die Lupe genommen.

Man könnte sich die Ein­füh­rung in die Novelle Wil­helm Raa­bes „Zum wil­den Mann“ wie eine Kame­ra­fahrt vor­stel­len: lang­sam fol­gen wir den Beschrei­bun­gen, ein Schwenk vom Weg hin zum Haus zeigt uns die Welt, in der die Geschichte statt­fin­det. Dabei nimmt der Erzäh­ler seine Leser mit durch den Regen und führt sie in die Apo­theke: „Schon hat der Erzäh­ler die Tür has­tig geöff­net und zieht sich den atem­lo­sen Leser nach, und schon hat der Wind dem Erzäh­ler den Tür­griff wie­der aus der Hand geris­sen und hin­ter ihm und dem Leser die Tür zuge­schla­gen, daß das ganze Haus wider­hallt […].“ (S. 5)

Phil­ipps Geschichte

Wäh­rend es drau­ßen stürmt, herrscht drin­nen Behag­lich­keit. Doch der Schein trügt. Die Geschich­ten, die an die­sem Abend erzählt wer­den, sind alles andere als ange­nehm, viel­mehr ver­ur­sa­chen sie bei den Prot­ago­nis­ten Beklem­mung. Phil­ipp Kris­tel­ler, der Besit­zer der Apo­theke „Zum wil­den Man“, fei­ert an die­sem Abend das 30jährige Bestehen eben die­ser und hat dazu seine Freunde ein­ge­la­den. Nun möchte er ihnen erzäh­len, wie er in den Besitz der Apo­theke gekom­men ist. Fei­er­lich trin­ken sie den von Phil­ipp erfun­de­nen Schnaps „Kris­tel­ler“ und lau­schen sei­nen Worten.
Phil­ipp erzählt, wie er Johanne ken­nen­lernte und sie hei­ra­ten wollte, aber aus finan­zi­el­len Grün­den nicht konnte, und wie er dem geheim­nis­vol­len August begeg­nete. Die­ser hieß nicht wirk­lich „August“, doch da Phil­ipp sei­nen rich­ti­gen Namen nicht her­aus­fin­den konnte und ihn im Monat August getrof­fen hat, nannte er ihn fortan genauso. Schon damals erschien ihm die­ser Mann selt­sam, doch zu naiv und gut­gläu­big war Phil­ipp, um die Gefahr, die von ihm aus­ging, zu erken­nen. Als Phil­ipp ihm zuletzt auf dem „Blut­stuhl“ (eine Fels­for­ma­tion im Harz) begeg­nete, war August nicht mehr rich­tig bei Sin­nen. Bevor sich ihre Wege schein­bar end­gül­tig trenn­ten, erhielt Phil­ipp einen Umschlag mit Geld. Phil­ipp mochte es nicht anneh­men, doch Johanne riet ihm zur Nut­zung des Gel­des. Auf diese Weise könn­ten sie ihre Hei­rat finan­zie­ren. Aller­dings hielt das Glück nicht lange, denn am Tag der Hoch­zeit starb Johanne aus uner­klär­li­chen Grün­den. Dar­auf erwarb Phil­ipp die Apo­theke „Zum wil­den Mann“ und wird seit­dem unter­stützt von sei­ner Schwes­ter Dorothea.

Ago­s­tins Geschichte

Als Phil­ipp seine Geschichte been­det hat, sit­zen sie noch eine Weile da. Doch schon bald betre­ten zwei Gäste die Apo­theke: der Land­phy­si­kus Dr. Eber­hard Hanff und Kolo­nel Dom Ago­s­tin Ago­nista. Dass es sich hier­bei um nie­mand gerin­ge­res han­delt als August, stellt Phil­ipp schnell fest, wagt es jedoch nicht, ihn dar­auf anzu­spre­chen. Nun erzählt Ago­s­tin seine Geschichte: dass er in die Fuß­stap­fen sei­ner Vor­fah­ren als Scharf­rich­ter trat und einen Men­schen tötete, dar­auf aber ein so schlech­tes Gewis­sen hatte, dass er sich für einen ande­ren Lebens­weg ent­schied. Bevor er auf dem Schiff „Dia­blo Blanco“ („Wei­ßer Teu­fel“) lan­dete, wo er im Feuer stand und von einem „Teu­fels-Arzt“ geheilt wurde, voll­führte er auf dem „Blut­stuhl“ einen Veits­tanz. Ago­s­tin erzählt noch von vie­len wei­te­ren Aben­teu­ern, wel­che jedoch nicht näher beschrie­ben wer­den: „Was die­ser wun­der­li­che Erzäh­ler jetzt zu erzäh­len hatte, war frei­lich bunt genug und voll Feu­er­werk und Gepras­sel zu Was­ser und Lande; allein das alles war doch schon von ande­ren hun­dert­tau­send­mal erlebt und münd­lich oder schrift­lich, ja sogar dann und wann durch den Druck mit­ge­teilt wor­den.“ (S. 65)

Teu­fels­pakt?

Nach­dem sich Phil­ipp und Ago­s­tin aus­ge­spro­chen haben, beschließt Ago­s­tin eine Weile zu blei­ben. Wäh­rend es die Dorf­ge­mein­schaft span­nend fin­det, dass hier end­lich ein­mal etwas pas­siert, sind die Schwes­ter und der Pas­tor skep­tisch. In der Nähe von Ago­s­tin füh­len sie sich unwohl. Unbe­grün­det ist das Gefühl aber nicht: bald gibt Ago­s­tin zu, sein Geld zurück­ha­ben zu wol­len. Kris­tel­ler, der bis zum Ende gut­gläu­big bleibt, geht dar­auf ein, ver­kauft sein Hab und Gut und zahlt das Geld, das er einst von Ago­s­tin erhal­ten hat, mit Zin­sen wie­der zurück. Oben­drein erhält Ago­s­tin das Rezept für den „Kris­tel­ler“, mit dem er im Aus­land Pro­fit schla­gen kann. Phil­ipp und Doro­thea leben fortan in Armut und kön­nen doch nie­man­dem erzäh­len, was wirk­lich vor sich gefal­len ist.
Immer wie­der wird in der Erzäh­lung auf den Teu­fel ver­wie­sen und Worte wie „Feuer“, „Seele“, „Rot“ und „Men­schen­al­ter“ wer­den wie­der­holt. Ago­s­tin begeg­net einem „Teu­fels-Arzt“, befin­det sich auf dem Schiff „Dia­blo Blanco“ und freut sich über die Anwe­sen­heit von Flie­gen, wel­che in der Bibel auf den Teu­fel ver­wei­sen. Merk­wür­di­ger­weise legt sich auch der Sturm, als Ago­s­tin die Apo­theke betritt, so als hätte das Wet­ter die Ankunft des „wet­ter­fes­ten“ Ago­s­tin ange­kün­digt. Und kurz nach­dem Phil­ipp das Geld annimmt, stirbt seine Ver­lobte – als Aus­tausch? Könnte man hier von einem Teu­fels­pakt spre­chen? Im Text wird dies nicht expli­zit geäu­ßert, es wer­den nur immer wie­der Andeu­tun­gen gemacht, die dar­auf ange­legt sein könn­ten, es aber nicht müs­sen. Stets fin­det sich – auch im Text – ein dezen­tes Gegenargument.

Die Viel­schich­tig­keit die­ser Novelle ist zwei­fel­los. Allein die Hand­lung ist sowohl von der Struk­tur als auch inhalt­lich so kom­plex, dass viele Worte not­wen­dig sind, um einen Umriss des­sen zu geben, was einen erwar­tet. Dabei hat die Novelle nur 105 Sei­ten. Eine tie­fere Inter­pre­ta­tion würde hier gänz­lich den Rah­men spren­gen, wes­halb ich an die­ser Stelle nur allen Inter­es­sier­ten ans Herz legen kann, diese Novelle zu lesen. Allein zur Betrach­tung der hier ent­hal­te­nen Sym­bo­lik lohnt sich diese Lek­türe alle­mal – auch wenn es sich bei die­ser um keine leichte Kost handelt.

Wil­helm Raabe

Raabe schei­terte bei dem Ver­such, das Abitur zu schaf­fen. Da ihm die Uni­ver­si­täts­reife nicht zuer­kannt wurde, begann er selb­stän­dig zu stu­die­ren. Dazu ging er im Jahre 1854 als Gast­hö­rer an die Uni­ver­si­tät Ber­lin, wo er Vor­le­sun­gen zu Phi­lo­so­phie, Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ten und Geschichts­wis­sen­schaf­ten besuchte. In Ber­lin schrieb er auch sein ers­tes Werk „Die Chro­nik der Sper­lings­gasse“, das 1856/1957 ver­öf­fent­licht wurde.
Von 1862 bis 1870 durch­lebte Raabe eine geis­tige Ent­wick­lung: In Stutt­gart lernte er Fried­rich Theo­dor Vischer, Fer­di­nand Frei­li­grath und Edu­ard Mörike ken­nen. In die­ser Zeit ent­stan­den wich­tige Werke, beein­flusst von Bezie­hun­gen und Freund­schaf­ten, die er damals pflegte.

Das Werk Raa­bes war „Kri­tik an der Zeit, und der kri­ti­sche Poet ist zu allen Zei­ten ein unwill­kom­me­ner Mah­ner.“ Lange Zeit wurde er von der Öffent­lich­keit kaum wahr­ge­nom­men, bis man in den 90er Jah­ren begann, „ethi­sche Lebens­hilfe“ bei ihm zu suchen. Erst wurde er miss­ach­tet, dann begann das Miss­ver­ste­hen sei­ner Werke. Ab 1910 wurde Raa­bes Werk wie­der­ent­deckt, doch wurde es zuneh­mend miss­ver­stan­den: Es ging weni­ger um die Inter­pre­ta­tion des eigent­li­chen Wer­kes als um das Ver­ste­hen der Zeit zwi­schen 1910 und 1945. Eine ästhe­ti­sche Aus­sage wurde als ethi­sche Aus­sage ange­nom­men, sodass in Raa­bes Werk faschis­tisch-natio­na­lis­ti­sche Ele­mente hin­ein­ge­le­sen wur­den. So sei Raa­bes „Bot­schaft“ angeb­lich gegen u.a. „Welt­ju­den­tum“ und „rus­si­sches Unter­men­schen­tum“ gerich­tet (Hahne, 1942, S. 116).
Dabei hatte Raa­bes Werk nichts damit gemein – hier tra­fen zeit­li­che, ört­li­che und per­so­nelle Gege­ben­hei­ten auf­ein­an­der, die in einem ande­ren Zusam­men­hang miss­braucht wur­den. Erst nach 1945 distan­zierte man sich von sol­chen Fehl­deu­tun­gen und begann eine objek­ti­vere Betrach­tung sei­ner Werke.

Die Feuil­le­töne spra­chen in ihrer gest­ri­gen Sen­dung über den „poe­ti­schen Rea­lis­mus“, die Bür­ger­lich­keit und Zeit­lo­sig­keit. Was sie von Raa­bes Novelle „Zum wil­den Mann“ hal­ten, erfahrt ihr hier.

Lite­ra­tur:
Raabe, Wil­helm; Hrsg.: Dun­ker, Axel: Zum wil­den Mann. 1959. Reclam.
Hel­mers, Her­mann: Wil­helm Raabe. Stutt­gart. 1968. Metzler.

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2 comments

lenariess 6. Juli 2015 - 12:00

Danke für Ihre Emp­feh­lung! Ich habe Zum wil­den Mann schon zwei­mal gele­sen. Es gibt viel zu ent­de­cken. Über­haupt: Gut, daß wir den Raabe haben! 

Reply
Sonntagsleserin Juli 2015 – Teil 1 | buchpost 18. Juli 2015 - 8:08

[…] Begin­nen wir mit einem Autor des 19. Jahr­hun­derts: Der Bücher­stadt Kurier erin­nert an Wil­helm Raabe und sein Werk Zum Wil­den Mann. […]

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