Viktor Martinowitsch: Paranoia

by Bücherstadt Kurier

„Die Zeit heilt nicht etwa so gut, weil sie Men­schen, die ver­ges­sen wer­den sol­len, in Nebel auf­löst. Wir erwe­cken sie ja wie­der zum Leben und ver­schlie­ßen sie irgendwo in unse­rer Brust, päp­peln sie mit Erin­ne­run­gen und zie­hen uns bunte Taschen­zwerge heran, die nichts mehr mit den leben­den Per­so­nen von einst gemein haben, und wir lie­ben diese Zwerge, bis uns ein neuer, leben­di­ger Mensch begegnet.“

Der Schrift­stel­ler Ana­toli und die rei­che, junge und geheim­nis­volle Frau Jeli­sa­weta begin­nen eine Affäre, mie­ten sogar eine Woh­nung eigens für ihre heim­li­chen Begeg­nun­gen. Sie leben in einem tota­li­tä­ren Régime im Osten Euro­pas und ahnen trotz Vor­sichts­maß­nah­men nicht, dass jedes ihrer Worte, Laute, Geräu­sche nicht nur ihnen gehört, son­dern die gesamte Woh­nung ver­wanzt ist. Nach einem Streit ver­schwin­det Jeli­sa­weta spur­los und der Geheim­dienst nimmt Kon­takt zu Ana­toli auf.

„Gäbe es in der Fibel neben A, B und C auch einen Buch­sta­ben „Glück“, er müsste mit die­ser Berüh­rung illus­triert werden.“

Im Dezem­ber 2009 erschien der Roman „Para­noia“ des weiß­rus­si­schen Schrift­stel­lers Vik­tor Mar­ti­no­witsch (*1977) und wurde kurze Zeit spä­ter in Weiß­russ­land ver­bo­ten. Schon Orwells „1984“ war erschre­ckend, doch in „Para­noia“ schei­nen die Haupt­cha­rak­tere noch mehr im Fokus zu ste­hen, die Lieb­schaft wird aus­ein­an­der­ge­nom­men, seziert, jedes Wort, jede Tat wird fest­ge­hal­ten, der Abfall wird unter­sucht, Briefe wer­den abge­fan­gen – an sich nichts Neues, doch der Leser ist dabei, erlebt jedes Detail mit und das ist der kleine, for­male Unter­schied zu „1984“, der das Schick­sal mehr ins Zen­trum rückt, jeg­li­che Inti­mi­tät bloß­legt und nicht mehr nur erschre­ckend ist, son­dern offen­legt, wie dem Men­schen jeg­li­che Würde ent­ris­sen wird. Über allem, was einem Lie­bes­paar Bedeu­tung schenkt und eine Idylle kre­iert – Kose­na­men, Erin­ne­run­gen, Geschich­ten – liegt eine Komö­die. Es wird ein Farce geschaf­fen, in wel­cher nichts mehr Bedeu­tung hat.

„Sie brauch­ten die Außen­welt nicht mehr, hat­ten sie sich doch spie­le­risch die ganze Welt zu eigen gemacht.“

Ein Idyll der Liebe wird von schwar­zen Wol­ken über­schat­tet. Es ist erstaun­lich, wie der Fäden­zie­her des Lan­des, Mura­wjow, omni­prä­sent ist, die Dik­ta­tur aus jeder Pore atmet, doch dass eine Lieb­schaft – durch­aus ver­gleich­bar mit ande­ren Paa­ren – in ihrer pein­lich, klein­li­chen Auf­lis­tung des All­tags plötz­lich umso grö­ßer erscheint und die Wol­ken selbst über­schat­tet. Dass der Autor den Roman aus Angst zunächst nur auf sei­nem Tele­fon schrieb, ist nicht ver­wun­der­lich – so sehr ver­we­ben sich Fik­tion und Rea­li­tät. Es spricht nicht nur die Gefahr, der Sar­kas­mus erhebt den Schrift­stel­ler zum Hel­den, was den Leser unauf­hör­lich in Atem hält. Intel­lek­tu­ell. Bri­sant. Ein gran­dio­ser Wurf!

Nicole
urwort​.com

Para­noia, Vik­tor Mar­ti­no­witsch, Tho­mas Wei­ler (Über­set­zer), Voland & Quist, 2014

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1 comment

Paranoia – Viktor Martinowitsch | 9. April 2015 - 21:42

[…] gesamte Bespre­chung im Bücher­stadt Kurier zu […]

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