Völlig falsche Tonart

by Bücherstadt Kurier

Immer lau­ter plät­scher­ten die Töne einer unbe­kann­ten Melo­die über meine Bewusst­seins­kante. Regel­mä­ßig folg­ten Stöße war­mer Luft. Sie kit­zelte auf mei­ner Kopf­haut. Ich erin­nerte mich, diese Musik schon ein­mal gehört zu haben.
Unter mir spürte ich har­tes, auf­ge­rau­tes Mate­rial. Es fühlte sich kalt an.
Ein wei­te­rer schie­fer Ton, ein Luft­zug. Ich erzit­terte. Etwas in mir sträubte sich. Wo war ich eigent­lich? Eben hatte ich noch in am Küchen­tisch gesessen.
Über mir fla­ckern­des Licht. Dun­kel. Hell. Dun­kel. Hell. Wei­tere laute Töne pras­sel­ten auf mich ein.
Dann Ruhe.
Mein Oben wurde zu seit­lich unten. Ich rutschte in Rich­tung einer gro­ßen Öff­nung. Doch bevor ich sie erreichte, drehte sich die Wand wie­der halb nach oben. Schwin­de­lig meinte ich zu erken­nen, dass ich mich wohl in einem Traum befand. Wer schlief denn in der Küche ein? Konnte auch nur mir passieren.
Nach­dem die Wand län­ger nicht rotierte, erkannte ich eine Art Tun­nel. Ganz am Ende drang viel Licht ein, viel­leicht war das der Aus­gang? Aber würde das nicht bedeu­ten … ich schluckte. War ich etwa … tot?
Echt gran­dios! Ob da meine Schwie­ger­mut­ter die Hände im Spiel hatte? Wer wusste das schon, viel­leicht diri­gierte sie die Hüter der Toten­welt genauso wie uns zu ihren Leb­zei­ten. Ich sah sie förm­lich grin­sen und wahl­los Arme tät­scheln. „Mary-Anne bekommt kein nor­ma­les Ende, nein nein, wir den­ken uns was ganz Beson­de­res für sie aus.“ Dazu noch ein keckes Blin­zeln, ja ja, das sah ihr ähnlich!
Laut­hals beschwerte sich eine Stimme über etwas und riss mich aus mei­nen Gedan­ken. Die Laute klan­gen nach mei­nem Sohn. Er hatte nicht nur Musik im Blut, son­dern auch in der Stimme. Wenn er sprach, fing er lang­sam an, dann schnel­ler, lei­ser, extrem laut, dann wie­der lang­sa­mer. Ich erin­nere mich genau an die letzte die­ser Auf­füh­run­gen von­sei­ten des Filius am Abend­brot­tisch. Ich hielt mir bei den lau­ten Pas­sa­gen die Ohren zu, wäh­rend sein Vater, ein begna­de­ter Diri­gent, häu­fi­ger nur „Ada­gio!“ dazwi­schen­rief – vor allem, wenn es ihm zu schnell wurde. Dann lach­ten wir alle. Wie lange war das her?
„Ah!“, schrie ich, als die nächste Ton­ti­rade auf mein Trom­mel­fell ein­prü­gelte. Der nach­fol­gende, extrem starke Luft­zug drückte mich in Rich­tung des nun weit ent­fern­ten Aus­gangs. Wäh­rend ich über­legte, ob das ein Zei­chen war, gab es eine Erschüt­te­rung. Ich flog inner­halb des Rohrs gera­de­wegs auf das Licht zu. Dann zurück ins Dun­kel, dann erneut in die andere Rich­tung. Falls ich wirk­lich tot war, hatte da einer arge Ent­schei­dungs­schwie­rig­kei­ten. Mein Magen war ent­schlos­se­ner – ich musste wür­gen. Es kam aber nicht viel her­aus. Wie auch, ich hatte ja gerade in der Küche das Essen zube­rei­tet, als ich … hm, komisch. Der Rest exis­tierte in mei­nem Kopf nicht. Wie konnte das denn sein? Ich erin­nerte mich nicht.
Erneut schüt­telte mich eine Tontirade.
Ein Luft­zug folgte.
Wei­tere Tontiraden.
Die hatte ich bei­nahe ver­misst. Anschei­nend war das eine Auf­for­de­rung von Schwie­ger­mama. Wenn ich ihr nicht nach­kam, würde wie­der alles um mich herum rotieren.
So schnell ich konnte, kroch ich, von Luft­stö­ßen beglei­tet, in Rich­tung des Lichts.
Der Tun­nel wurde hel­ler. Meine Augen gewöhn­ten sich lang­sam daran. Ich schob mei­nen Kopf aus der Öff­nung und stellte fest, dass – nein, das konnte nicht sein! Ich lugte wei­ter über den Rand. Da unten, das war doch mein Tep­pich! Der, den ich selbst vom Bau­markt nach Hause hatte schlep­pen müs­sen. Ohne Auto, weil der Ehe­mann mal wie­der wegen einer unglaub­lich wich­ti­gen Sache zur Schwie­ger­mut­ter geru­fen wor­den war.
Fort­wäh­rende Tontiraden.
Schwä­chere Luftzüge.
Ich ver­suchte, alles zu igno­rie­ren, so gut ich konnte.
Etwas seit­lich lag Jerry, mein Ras­se­ka­ter. Er schaute zu mir hoch und wippte dabei mit dem Schwanz. Wie absurd! Was für ein Lebens­ende sollte das sein? Andere sahen ihre inten­siv geleb­ten Momente, stan­den ihre tiefs­ten Gefühle – posi­tive wie nega­tive – noch mal durch. Und ich? Ich blickte mit miss­li­cher Hin­ter­grund­mu­sik auf einen alten Tep­pich und einen rie­si­gen Kampf­kater, der sich das Maul nach einem Leckerli – hof­fent­lich nicht mir – leckte.
Ich musste Jerry für meine Flucht aus dem Tun­nel nut­zen! Wenn ich auf dem Tier lan­den könnte, würde ich weich und nicht ganz so tief fallen.
„Jerry“, rief ich und hielt das für den bes­ten Plan der Welt. „Jerry!“
Ein beson­ders schie­fer Ton erschreckte den Kater – und mich. Ich pur­zelte aus der Röhre und fiel in die Tiefe. „Hiiiiiilfe!“
Ich stram­pelte und schrie, bis ich ein straf­fes Kat­zen­haar zu fas­sen bekam. Krampf­haft hielt ich mich daran fest. Der Ruck des unter­bro­che­nen Falls kugelte mir bei­nahe die Schul­ter aus. Rei­ßen­der Schmerz stellte sich ein. Das Haar schwang zwar leicht nach unten, blieb aller­dings noch weit vom Boden ent­fernt. „Mist!“ Ewig würde ich mich hier auch nicht hal­ten können.
An mei­nem Rücken spürte ich als Nächs­tes etwas Rau­hes, Feuch­tes. Oh nein! Ich hatte doch nicht etwa ein Schnurr­haar erwischt! Der Mund­ge­ruch nach Kat­zen­fut­ter, den ich auf ein­mal pene­trant wahr­nahm, gab mir die unlieb­same Ant­wort. Bloß nicht umdre­hen. Schnell ver­suchte ich in Rich­tung Nacken zu schau­keln. Höher, du schaffst das, redete ich mir gut zu. Ein­mal noch!
Absprung: Jetzt!
Rela­tiv sanft lan­dete ich in Jer­rys Fell und beeilte mich, hin­ter seine Ohren zu kommen.
Da war ich fürs Erste sicher.
Mein Herz pochte wie wild, als ich mich neben einem Ohr nie­der­ließ. Das kön­nen die echt nicht mit mir machen!
„Diese Kla­ri­nette ver­hält sich merk­wür­dig, fin­dest du nicht auch, Jerry?“
Das war ein­deu­tig mein Sohn. Ich schaute nach oben und sah ihn, wie er die Röhre, aus der ich gefal­len war, schüt­telte. „Mir scheint, die war ver­stopft. Kein Wun­der, dass die Töne so merk­wür­dig klangen.“

„Mary-Anne? Hörst du mich? Ich habe einen Not­arzt­wa­gen geru­fen, die sind gleich da!“
War das mein Mann?
„Wo ist der Kater? Nur hin­ter sei­nen Ohren ist sicher für mich …“, mur­melte ich mehr zu mir selbst.
„Sogar in einer der­ar­ti­gen Situa­tion denkst du nur an andere! Aber wieso sein Ohr? Oh, Mary, es wird alles gut!
Zur Abwechs­lung streifte mich ein küh­ler Luftzug.
„Hier ent­lang meine Frau muss wohl mit dem Küchen­mes­ser abge­rutscht sein … wahr­schein­lich die Ader unglück­lich getrof­fen dann ohn­mäch­tig gewor­den.

Text: June Is, Twit­ter: @ypical_writer
Illus­tra­tion: Geschich­ten­zeich­ne­rin Celina

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