Von der fremdelnd vertrauten Fremde

by Bücherstadt Kurier

fremdheitDie Beschäf­ti­gung mit Fremd­heit ist ein gro­ßes Thema, das seit Jahr­tau­sen­den Bestand hat. Wort­klau­be­rin Erika blickt in den Spie­gel des Frem­den und erkennt sich selbst darin.

Das Fremde und wir selbst

Die bul­ga­risch-fran­zö­si­sche Phi­lo­so­phin und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Julia Kris­teva beschreibt in der 1988 im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal erschie­ne­nen Schrift „Fremde sind wir uns selbst“ eine Kreis­be­we­gung rund um „den Frem­den“ in einem gene­ri­schen Mas­ku­li­num. Sie ver­sucht zunächst, das Fremd­sein in einer „Toc­cata und Fuge“ in einem Grund­kon­zept zu erfas­sen, wobei ein Moment der Distanz gewahrt wird. Fremd­sein wird als Ver­wai­sung (vgl. Kris­teva 201:31) ver­stan­den, ein Ste­hen zwi­schen Her­kunfts- und Ankunfts­land, ohne Fuß in der Spra­che, der Kul­tur, im Natio­nal­staat selbst zu fas­sen, zumal die „moderne Defi­ni­tion des Frem­den“ (Kris­teva 2013:104) an einen sol­chen Natio­nal­staat gebun­den sei.

Im Fol­gen­den über­win­det ein his­to­ri­scher Abriss über den Umgang mit Fremd­heit ab der Antike bis zur Moderne die auf­ge­baute Distanz zuneh­mend, auch wenn das kon­zep­tu­ell eigent­lich uni­ver­selle Men­schen­recht bis heute vom Bür­ger­recht unter­schie­den wird. Kris­teva speist zunächst – gerade in der Beto­nung des Frem­den – ein Oppo­si­ti­ons­paar, wel­ches sie schließ­lich mit einem Blick zu Freuds „Das Unheim­li­che“ auf­löst. Gerade da sich Freud auf Bei­spiele aus dem lite­ra­ri­schen Gesche­hen kon­zen­triert, blickt sie auf die Lücke in der Betrach­tung und kehrt zu Freuds Fest­stel­lung zurück, dass das Unheim­li­che „jener Art des Schreck­haf­ten (sei), wel­che auf das Alt­be­kannte, Längst­ver­traute zurück­geht“ (vgl. Freud, nach Kris­teva 2013:199).

„Ange­sichts des Frem­den, den ich ablehne und mit dem ich mich iden­ti­fi­ziere, bei­des zugleich, lösen sich meine fest­ge­füg­ten Gren­zen auf, meine Kon­zu­ren zer­flie­ßen, Erin­ne­run­gen an Erleb­nisse, in denen man mich fal­len­ge­las­sen hat, über­flu­ten mich, ich ver­liere die Hal­tung.“ (Kris­teva 2013:203)

Das Fremde ist anders: Es zieht, gerade in Betrach­tung die­ser Pas­sage aus Kris­tevas Schrift, gewis­ser­ma­ßen den Boden unter den Füßen weg und raubt das so drin­gend benö­tigte Wort, wel­ches eine Kom­mu­ni­ka­tion und damit eine Über­win­dung des Frem­den bedingt.

Mensch­sein in Spra­che und Geste

Das Schwei­gen zeich­net sich auf bei­den Sei­ten ab, wel­ches viel­leicht von Unwis­sen, viel­leicht von Unwil­len geprägt sein kann. Ein ers­ter Schritt zur Über­win­dung die­ser Sprach­lo­sig­keit stellt die Geste der Gast­freund­schaft dar, wie sie etwa beim Leh­rer Daru in Albert Camus‘ „Der Gast“ zu beob­ach­ten ist. Wäh­rend er den Ara­ber, wel­chen er in die nächste Stadt brin­gen soll, anfangs noch mit Skep­sis beäugt, gibt er ihm doch unge­fragt Essen sowie eine Schlaf­statt. Er behan­delt ihn vor allem als Mensch. Doch da die­ses Ver­hal­ten nicht der Norm ent­spricht, fin­det Daru sich am Ende der Hand­lung bei der Rück­kehr in seine Schule einer Dro­hung gegenüber.

Diese Hal­tung gegen­über dem Indi­vi­duum als Mensch fehlt im Gerichts­pro­zess in „Der Fremde“, wel­chem sich Camus‘ Prot­ago­nist Mer­sault stel­len muss, nach­dem er schein­bar grund­los einen Ara­ber erschos­sen hat. Man hat den Ein­druck, es wer­den nach Grün­den gesucht, um Mer­sault zu einem Nicht-Men­schen zu machen: Weil er bei der Toten­wa­che für seine Mut­ter ein­ge­schla­fen ist, Ziga­ret­ten geraucht und Milch­kaf­fee getrun­ken hat. Er sei gott­los, wird geur­teilt. Erst eine sol­che Ent­frem­dung des Eige­nen, des Indi­vi­du­ums der eige­nen Gesell­schaft, macht es mög­lich, sich sei­ner zu ent­le­di­gen. Folgt man die­sem Gedan­ken­gang, ver­dient Mer­sault, der zum Nicht-Men­schen ver­ur­teilt wird, keine Gast­freund­schaft und kein Prin­zip des in dubio pro reo. Mer­sault wird zum Tode durch die Guill­ou­tine ver­ur­teilt – ein Moment, wel­chen Vis­conti in „Lo stra­ni­ero“ (1967) aus­spart, indem er den Film kurz vor dem Gang zum Scha­fott enden lässt.

Jelin­eks „Schutz­be­foh­lene“, die den anti­ken Stoff, wel­cher von Aischy­los und Euri­pi­des in den „Hiket­i­des“ bear­bei­tet wurde, mühe­los ins aktu­elle Zeit­ge­sche­hen ein­pas­sen, sto­ßen auf eine andere Form der Sprach­lo­sig­keit. Wäh­rend sie hän­de­rin­gend ver­su­chen, sich Gehör zu ver­schaf­fen, fin­det sich – außer viel­leicht im Zuschau­er­raum – kein Pro­xe­nos (vgl. Kris­teva 2013:58), wel­cher sich ihrer annimmt wie zur Zeit der Antike. Auch sie appel­liert an eine grund­le­gende Mensch­lich­keit, wel­che ange­sichts des Frem­den, Nicht-Eige­nen zu gern aus­ge­spart wird.

Das unheim­li­che Fremde?

Ange­sichts die­ses Umgangs mit dem Frem­den – dem Bei­spiel-Frem­den Mer­sault, der fremd ist in einer ihn befrem­den­den Welt, den nicht gehör­ten Frem­den Jelin­eks sowie dem Frem­den als uni­ver­selle Erfah­rung – stellt sich doch die Frage: Wie fremd ist uns das Fremde, wenn es schluss­end­lich auf die (un-)heimlichen Sei­ten des Selbst zurückfällt?
Schließ­lich steckt in „der fas­zi­nie­ren­den Ableh­nung, die der Fremde in uns her­vor­ruft, […] ein Moment jenes Unheim­li­chen, im Sinne der Ent­per­so­na­li­sie­rung, die Freud ent­deckt hat und die zu unse­ren infan­ti­len Wün­schen und Ängs­ten gegen­über dem ande­ren zurück­führt“ (Kris­teva 2013:208). Das Moment des Frem­den als uni­ver­selle Erfah­rung ist im Indi­vi­duum heim­lich heimelig/inhärent, und gerade darin unheimlich.
Wohl des­halb schlägt sich ein Moment der Fremd­heit immer wie­der in der Lite­ra­tur nie­der, wie etwa in Kaf­kas „Heim­kehr“ (1920) oder Ulrike Dra­se­ners 2016 erschie­ne­nem Roman „Sie­ben Sprünge vom Rand der Welt“. An die­sen bei­den Bei­spie­len wird deut­lich, wie nahe das Fremde am heim­lich Ver­trau­ten liegt.

„Je län­ger man vor der Tür zögert, desto frem­der wird man.“ (Kafka 1920)

Wäh­rend Kafka in der Kur­z­er­zäh­lung „Heim­kehr“ fest­stellt, dass eine Heim­kehr nicht zwin­gend eine Ein­kehr bedeu­ten muss, fin­det sich bei Dra­es­ner ein ähn­li­cher Gedanke des frem­den Ver­trau­ten und ver­trau­ten Frem­den, in einem Umkehr­schluss, wel­cher Kris­tevas Beob­ach­tun­gen zu bestä­ti­gen scheint. „Der Feind sah selt­sam aus. Wie ein Mensch. Mut­ter sah fremd aus.“ (Dra­es­ner 2016:466)

Erwähnte und zitierte Literatur:
Albert Camus: Der Gast. Mün­chen: dtv 2008 (im frz. Ori­gi­nal 1957)
Albert Camus: Der Fremde. Rein­bek: Rowohlt 2010 (im frz. Ori­gi­nal 1942)
Ulrike Dra­es­ner: Sie­ben Sprünge vom Rand der Welt. Mün­chen: Luch­ter­hand Lite­ra­tur­ver­lag 2016
Julia Kris­teva: Fremde sind wir uns selbst. Frank­furt am Main: Suhr­kamp 201311 [1990]
Elfride Jeli­nek: Die Schutz­be­foh­le­nen. Zugriff auf www​.elfrie​de​je​li​nek​.com, zuletzt am 01.08.2016
Franz Kafka: Heim­kehr. Zugriff auf: home​.bn​-ulm​.de, zuletzt am 02.08.2016

Illus­tra­tion: Geschich­ten­zeich­ne­rin Celina

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