Von der Schlacht der Ungezählten Tränen bis ins Jahr 2018 Überwundene Verständnisbarrieren in einer Neuauflage von „Die Kinder Húrins“

by Seitenkünstler Aaron

Sei­ten­künst­ler Aaron ver­suchte sich unvor­ein­ge­nom­men an sei­ner ers­ten „rich­ti­gen“ Tol­ki­en­lek­türe und berich­tet von einer uner­war­te­ten Reise nach Mittelerde.

Wie ver­fasse ich eine Rezen­sion zu einem Klas­si­ker der phan­tas­ti­schen Lite­ra­tur? Wo sind die Maß­stäbe zu set­zen bei einer neuen Auf­lage eines alten und weit­hin bekann­ten, oft gele­se­nen und bespro­che­nen Tex­tes? Soll­ten Ver­glei­che mit aktu­el­ler oder zeit­ge­nös­si­scher Lite­ra­tur vor­ge­nom­men wer­den? Zunächst muss kurz erklärt wer­den, warum ich nicht unvor­ein­ge­nom­men an „Die Kin­der Húrins“ her­an­tre­ten konnte.

Eine bücher­städ­ti­sche Welt ohne Tol­ki­ens phan­tas­ti­sches Uni­ver­sum ist heute kaum vor­stell­bar.1 Ring­geis­ter und Elben umge­ben uns als Spiel­fi­gu­ren und in ande­ren media­len Auf­be­rei­tun­gen. Nicht zuletzt die popu­lä­ren Ver­fil­mun­gen2 haben dazu bei­getra­gen, dass der „Hob­bit“ auch als Anto­no­ma­sie (wie „Tempo“ für Taschen­tü­cher) in unse­rer Spra­che lebt. Selbst­ver­ständ­lich kam auch ich bereits mit dem „Herrn der Ringe“ in Kon­takt – zunächst durch das Hör­spiel.3

Doch so leicht sich begeis­terte Gesprä­che über Lego­las und Gimli ent­wi­ckeln, so schwer ist es, über den „Maiar“ Gan­dalf zu spre­chen, der von den „Valar“ gekom­men ist, um „Mel­kors“ Ein­fluss auf „Arda“ ent­ge­gen­zu­wir­ken. Wer jedoch mal was von Tol­ki­ens Schrif­ten gele­sen hat, dem soll­ten sich Fra­gen wie „Wer hat den einen Ring geschmie­det?“ schnell erschlie­ßen. Dachte ich. In Erwar­tung einer auf­schluss­rei­chen und kom­pak­ten Story griff ich zunächst zum klein­for­ma­ti­gen Buch „Die Kin­der Húrins“. Wie sehr ich mich irrte …

Von Anfang an …

In einer Zeit des Krie­ges ver­flucht der bös­ar­tige und gott­glei­che Mor­goth die Fami­lie des auf­be­geh­ren­den Men­schen Húrin. Des­sen Sohn Túrin flieht und seine Wege ver­knüp­fen sich mit dem Schick­sal der Men­schen, Elben, Orks und Dra­chen. Der Fluch bleibt dabei stär­ker mit ihm ver­bun­den als sein eige­ner Name.

Soweit zusam­men­ge­fasst lässt sich die Hand­lung grob über­bli­cken, doch beim erst­ma­li­gen Lesen des Buches kön­nen sich Lesende unmög­lich ein sol­ches Bild machen. Zu kom­plex sind die Neben­hand­lun­gen und Hin­ter­gründe und zu ver­wir­rend sind die fan­ta­sie­vol­len Per­so­nen- und Orts­na­men. So ist nicht leicht aus­zu­ma­chen, ob nun Túrin­der Prot­ago­nist ist, oder etwa sein Vater oder etwa andere Mächte. Für vol­les Ver­ständ­nis der mär­chen­haf­ten Dia­loge müs­sen Zusam­men­hänge erst erschlos­sen wer­den, etwa warum Húrin ver­flucht wird, wieso Krieg herrscht und zwi­schen wem.

Die zum Teil stark zeit­raf­fende Erzäh­lung ver­zich­tet para­do­xer­weise auf häu­fige oder unnö­tige Aus­schmü­ckun­gen und springt von Wende zu Wende. Doch gerade durch die Rei­hung kom­pri­mier­ter Geschich­ten epo­cha­len Aus­ma­ßes wer­den auf jeder Seite sehr viele Akteure und Orte benannt. Dies ver­mit­telt zwar ein umfas­sen­des und ein­neh­men­des Bild der Welt, aber es erschwert, bei der Lek­türe den Über­blick zu behalten.

… krea­ti­ver Pro­zess im Familienerbe …

Der Text „Die Kin­der Húrins“ war ein unver­öf­fent­lich­tes Frag­ment vol­ler Ideen und Mög­lich­kei­ten und J.R.R. Tol­kien war ein Wis­sen­schaft­ler, der Spra­chen und Schrif­ten beforschte und ersann. Sein Sohn Chris­to­pher und des­sen Sohn Adam schei­nen die resul­tie­rende Viel­schich­tig­keit des Wer­kes zu wah­ren, indem sie es nicht zu stark ver­ein­heit­li­chen. Das Ergeb­nis bleibt ein anspruchs­vol­ler Text, der selbst geübte Lese­rIn­nen for­dern kann. Zum Bei­spiel kom­men Ver­ständ­nis­hür­den durch häu­fige Namens­wech­sel vor; Allein Túrin wird auch mal Thu­rin, Tur­am­bar, Agar­waen, Ada­ned­hel, Gor­thol, Mor­me­gil oder Neithan genannt.

Die Neu­auf­lage bringt einer­seits den vor­han­de­nen Text in eine kohä­rente Form, scheint aber auf starke Abän­de­run­gen zu ver­zich­ten. Ent­stan­den ist ein ord­nen­des Buch, das die sagen­hafte und emp­feh­lens­werte Geschichte mit Text­hil­fen les­bar macht. Die Ord­nung bringt aber auch Spoi­ler mit sich, wes­we­gen ich vor den Kapi­tel­über­schrif­ten im Inhalts­ver­zeich­nis warne!

… zu Ende gedacht.

Die Neu­auf­lage bie­tet Erst­le­se­rIn­nen einige Hil­fe­stel­lun­gen: Im Vor­wort erklärt der Sohn Chris­to­pher Tol­kien den unvoll­ende­ten Zustand des Wer­kes sei­nes Vaters und somit auch die durch Lücken schein­bar raf­fende Erzähl­weise. Anschlie­ßend bie­tet er einen Ein­stieg in das Uni­ver­sum, in dem das Land Mit­tel­erde besteht, und in wel­chem Zeit­al­ter die Geschichte statt­fin­det, näm­lich weit vor den Ereig­nis­sen im „Hob­bit“.

Auf zwei wei­te­ren Sei­ten wird kurz erklärt, wie die Sprach­laute (th, dh, c, ei, …) aus­ge­spro­chen wer­den. Dies hilft, „Túrin“ nicht fälsch­li­cher­weise als Tur­rin mit kur­zem U zu lesen. Auf den letz­ten 50 Sei­ten der Aus­gabe sind Stamm­bäume, Namens­lis­ten, eine Karte und wei­tere Anmer­kun­gen zu fin­den, die mir oft gehol­fen haben, den Text zu ver­ste­hen. Trotz all die­ser Hil­fe­stel­lun­gen war ich ab und zu froh, auch auf von Fans im Inter­net bereit­ge­stellte Infor­ma­tio­nen zugrei­fen zu können.

Das gra­fi­sche Bei­werk ist eben­falls lobens­wert. Die Illus­tra­tio­nen Allan Lees sind teils als dezente Blei­stift­zeich­nun­gen, teils als ganz­sei­tige far­bige Bil­der ein­ge­bun­den. Sie ver­mit­teln eine ernst­hafte Stim­mung und deu­ten meis­tens Land­schaf­ten, Gegen­stände und Figu­ren an, ohne die Vor­stel­lun­gen beim Lesen zu sehr zu beeinflussen.

Der Text wäre ohne die gebo­tene Hilfe der Neu­auf­lage nur sehr schwer zu ver­ste­hen, aber sollte des­we­gen nicht ver­ur­teilt wer­den. Die Lek­türe der eigent­lich lücken­haf­ten Lite­ra­tur for­dert Lese­rIn­nen her­aus, den Inhalt wirk­lich for­schend zu erar­bei­ten. Aktu­ell scheint die­ses Kon­zept auch bei Spie­len wie „Dark Souls“ und „Bloo­d­borne“ beliebt zu sein. Die Inter­ak­tion zwi­schen Mensch und Medium wird dabei nicht nur auf das bloße Anschauen beschränkt, denn die Hin­ter­gründe las­sen sich nur durch Mit­den­ken erfas­sen. Mich haben das Ein­tau­chen und das beglei­tende Anle­sen von Hin­ter­grund­wis­sen der­art gefes­selt, dass ich einige Zeit nichts ande­res im Kopf hatte.

Was die Geschichte hätte wer­den kön­nen und wie J.R.R. Tol­kien sei­nen Text voll­endet hätte, kann dank die­ser Aus­gabe erahnt wer­den. Es ist wirk­lich fan­tas­tisch, wie genera­tio­nen­über­schrei­tend an die­sem Text bis zu der hier bespro­che­nen Ver­sion gear­bei­tet wurde. Die Arbeit hin­ter die­ser Neu­auf­lage erschließt lese­in­ter­es­sier­ten Tol­ki­en­freun­den ein Werk, das in sei­ner bedeu­tungs­schwe­ren Tra­gik berührt und mit etwas gutem Wil­len in Tol­ki­ens tief­grün­dige Phan­tas­tik ein­führt. Der Griff zu die­sem Buch hat mei­nen Hori­zont über Mit­tel­erde und über Mög­lich­kei­ten des Fan­ta­sy­gen­res erwei­tert. Ich hoffe, dass die Geschichte um Húrins Kin­der nicht ver­ges­sen und statt­des­sen eines Tages neu erzählt wird…

Die Kin­der Húrins. Hg.: Chris­to­pher Tol­kien. Text: J.R.R.Tolkien. Über­set­zung: Hans J. Schütz, Hel­mut W. Pesch. Illus­tra­tion: Alan Lee. Klett-Cotta. 2015.

1 Beim BK sind bereits einige Texte zu Tol­ki­ens Wer­ken erschie­nen, hier eine Auswahl:

2 Der Herr der Ringe-Ver­fil­mun­gen (2001−2003) und „Der Hob­bit“ (2012−2014), Regie Peter Jackson.
3 Der Herr der Ringe-Hör­spiel (1991), der Hör­ver­lag, Regie: Bernd Lau, mit u.a. Rufus Beck, ca.12h Laufzeit.

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1 comment

Der Fall von Gondolin – Bücherstadt Kurier 27. August 2019 - 11:19

[…] Rezen­sion zu „Die Kin­der Húrins“ […]

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