Von höchster Urgenz!

by Zeilenschwimmerin Ronja

Wohlan, ihr Sprach­ge­lehr­ten und Wort­jon­gleure, ihr Wiss­be­gie­ri­gen und mit­teil­sa­men Schlau­meier, schätzt ihr ebenso wie meine Wenig­keit die unzähl­ba­ren Mög­lich­kei­ten, die schiere Wort­ge­walt, die über­wäl­ti­gende Viel­falt der deut­schen Spra­che? Dann folgt mir in „Die Wun­der­kam­mer der deut­schen Spra­che“ und lasst uns neue wie alte, ver­ges­sene wie unver­gess­li­che Schätze (wieder-)entdecken. – Von Zei­len­schwim­me­rin Ronja

„Die Wun­der­kam­mer der deut­schen Spra­che“ ver­spricht im Unter­ti­tel, mit „Wort­schön­hei­ten, Kurio­si­tä­ten, All­tags­poe­sie und Epi­so­den der Sprach­ge­schichte“ auf­war­ten zu kön­nen. Und mit die­sen Ver­spre­chun­gen wird kein Schind­lu­der getrie­ben! Dies ist kein Pos­sen­spiel! Auf knapp 300 Sei­ten prä­sen­tiert die­ses Sam­mel­su­rium ein- und aus­ge­wan­derte Wör­ter, Tee­kes­sel­chen, Jar­gon- und Gos­sen­spra­che, kurze lin­gu­is­ti­sche und gram­ma­ti­sche Exkurse, absurde Sprach­ex­pe­ri­mente und die Lieb­lings­wör­ter bekann­ter Autor*innen. All dies geschieht in kunst­voll-schlich­tem, zwei­far­bi­gem Design, das selbst ein­fa­che Lis­ten ästhe­tisch wer­den lässt.

Natür­lich ist weder meine kurze Beschrei­bung des Inhalts noch der Inhalt des Buches selbst auch nur annä­hernd voll­stän­dig. Kein Buch ist in der Lage, eine Spra­che voll­um­fas­send wie­der­zu­ge­ben. Und doch bin ich über­zeugt, dass selbst die ein­ge­fleisch­tes­ten Wortsammler*innen unter den Bücherstädter*innen hier noch etwas Neues fin­den und ler­nen kön­nen. Beson­ders die Lis­ten mit Wör­tern aus Jargon‑, Gos­sen- und Fach­spra­che sind fas­zi­nie­rend und bie­ten immer mal wie­der eine Über­ra­schung, wenn eines der Wör­ter es in die All­tags­spra­che geschafft hat: etwa das Abbla­sen der Jäger oder die Tret­or­gel (=Fahr­rad) aus dem nächt­li­chen Sankt Pauli.

Die Viel­falt der Spra­che ist vielfältig

Dazwi­schen fin­den sich immer wie­der Kar­ten, auf denen dia­lek­tale Unter­schiede ver­zeich­net sind. Übri­gens wer­den Öster­reich und die Schweiz immer mit ein­be­zo­gen, auf den Kar­ten, bei der Auf­lis­tung der (Un-)Wörter des Jah­res oder in klei­nen Küchen­le­xika, in denen öster­rei­chi­sche und schwei­ze­ri­sche Essens­vo­ka­beln erläu­tert wer­den, die mir als „deut­sches Deutsch“-Sprechende größ­ten­teils unbe­kannt waren. Auch Begriffe aus der DDR sind gelis­tet. Spra­che ist eben immer ein Teil der Geschichte.

Auch dar­über hin­aus ist die Zusam­men­stel­lung sehr divers: Auf­zäh­lun­gen über Aus­schnitte aus alten Wör­ter­bü­chern ste­hen neben Figu­ren­ge­dich­ten und Mit­tel­hoch­deut­schen „false friends“, denen eine Auf­lis­tung von „haar­sträu­ben­den Wort­spie­len“ in den Namen von Fri­seur­sa­lons folgt (z.B. Direc­tors‘ Cut, Glücks­strähne, Kai­ser­schnitt & Sturm­fri­sur). Außer­dem ist neben der Ent­wick­lung des Vater Unser über die Jahr­hun­derte auch eine Gegen­über­stel­lung ver­schie­de­ner Über­set­zun­gen einer Sure des Korans ent­hal­ten. Und Zweif­lern an gen­der­ge­rech­ter Spra­che lege ich die drei Sei­ten zu femi­nis­ti­scher Sprach­kri­tik ans Herz.

Das Genie beherrscht das Chaos

Das Buch folgt bei all der Vari­anz kei­ner Chro­no­lo­gie oder the­ma­ti­schen Ord­nung. Das Umblät­tern ist eine völ­lige Über­ra­schung. Beglei­tet von kur­zen ein­lei­ten­den und erklä­ren­den Tex­ten fol­gen auf die femi­nis­ti­sche Sprach­kri­tik zum Bei­spiel unge­bräuch­lich gewor­dene Wör­ter und eine Erläu­te­rung der Kri­te­rien zur Ein­schät­zung von Sprach­kennt­nis­sen (A1 bis C2).

An die­ser Stelle möchte ich kurz bemer­ken, dass ich sehr für die Wie­der­be­le­bung des Wor­tes Urgenz (für Dring­lich­keit) plä­diere, obwohl auch Dring­lich­keit bereits sel­te­ner ver­wen­det wird. Welch‘ Schmach, welch‘ Pein!

Weil es so schön ist, möchte ich zum Schluss noch ein paar mei­ner High­lights auf­füh­ren, die ein­fach nicht uner­wähnt blei­ben kön­nen: Para­doxe Wör­ter (z.B. offe­nes Geheim­nis, Wahl­pflicht­fach, her­ren­lo­ses Damen­fahr­rad) oder Dich­ter, die Dich­ter beschimp­fen – es sind in der Tat haupt­säch­lich Män­ner, die dort vol­ler Freude ihre Kol­le­gen belei­di­gen („Völ­lig geist­lo­ser Mann.“) –, und Wort­neu­schöp­fun­gen von Kin­dern (bspw. Vor­wärts­ge­sicht als Gegen­teil von Hinterkopf).

Auf Grund der „Unord­nung“ ist „Die Wun­der­kam­mer der deut­schen Spra­che“ auch weit davon ent­fernt, ein Fach­buch zu sein und bean­sprucht dies auch nicht für sich. Für die­ses Buch ist kein Ger­ma­nis­tik-Stu­dium nötig. Wenn ihr Spaß daran habt, euch in den abge­le­ge­ne­ren Gegen­den der Spra­che her­um­zu­trei­ben, in den Archi­ven zu for­schen und euch an geschei­ter­ten (und erfolg­rei­chen) Expe­ri­mente zu erfreuen, wer­det ihr hier wohl fün­dig wer­den. Biblio­phile Men­schen kom­men dank des Ein­bands, des far­bi­gen Buch­schnitts und der all­ge­mei­nen Gestal­tung eben­falls auf ihre Kos­ten. Wenn ihr also sprach­af­fin und biblio­phil zugleich seid, schlagt ihr zwei Flie­gen mit einer Klappe.

Die Wun­der­kam­mer der deut­schen Spra­che. Her­aus­ge­ber: Tho­mas Böhm & Cars­ten Pfeif­fer. Ver­lag das Kul­tu­relle Gedächt­nis. 2019. Erhält­lich in der Buch­hand­lung eures Vertrauens.

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