Vor dem Fest

by Bücherstadt Kurier

Sta­nišićs Roman spielt in Fürs­ten­felde, einem Dorf in der Ucker­mark, das sich auf das Annen­fest vor­be­rei­tet. Dabei wan­dert der Erzäh­ler zwi­schen den Ich-Per­spek­ti­ven der Bewoh­ner hin und her, nimmt deren Spra­che an. Die ver­schie­dens­ten Cha­rak­tere kom­men zu Wort, tra­gen ihre Geschichte hucke­pack: Herr Schramm, der doch nur eine rau­chen will. Johan­nes, der die Glöck­ner­prü­fung absol­vie­ren möchte. Frau Kranz, die malt. Eine Fähe auf Nah­rungs­su­che. Die depres­sive Frau Schwer­muth, die die Ver­gan­gen­heit im Haus der Hei­mat betreut. Der stumme Suzi. Und einige mehr.

Meine Mu wiegt dop­pelt so viel wie mein Pa. Sie wiegt 130 Kilo. Im Früh­ling kom­men 30 Kilo schwere Gedan­ken dazu. Dann legt sich meine 160-Kilo-Mu in die Nar­zis­sen im Gar­ten, weil im Lie­gen die dun­keln Wol­ken circa hun­dert­sech­zig Zen­ti­me­ter wei­ter weg sind.“

Sta­nišić skiz­ziert seine Cha­rak­tere meis­ter­haft, legt ihnen ein Gewand aus Iro­nie und Zynis­mus um und ver­schwin­det hin­ter der nächs­ten Ecke, um zu beob­ach­ten, was geschieht. Sou­ve­rän schenkt er ihnen Raum und gibt ihnen Licht. Wir ken­nen jeden die­ser Cha­rak­tere – irgend­wo­her. Des­halb fin­den wir so leicht Zugang, denn des Autors Feder zeich­net Tief­grün­dig­keit, die von ein­fa­chen Men­schen for­mu­liert wer­den und dann ver­schwin­den. Wie so oft im Leben. Doch wir als Leser neh­men sie wahr – wie wir Gedan­ken­gänge unse­rer älte­ren Zeit­ge­nos­sen bewun­dern, die ihnen ihre Lebens­ge­schich­ten ein­hau­chen, ohne sich des­sen allzu oft bewusst zu wer­den. Dabei frei von Gel­tungs­drang – als ginge es um ein Back­re­zept. Und wir ver­stum­men, schlie­ßen die­sen oder jenen Satz ein. All­täg­lich­keit, die mit­hilfe der Spra­che verzaubert.

„In Wil­fried Schramms Haus­halt fin­den sich im Schnitt mehr Gründe gegen das Leben als gegen das Rauchen.“

„Vor dem Fest“ ver­mit­telt eine Leich­tig­keit und den­noch wurde ich von einer Trau­rig­keit über­mannt. Stille. Man gelangt in ein Dorf, was wie aus­ge­stor­ben wirkt, kein Mensch ver­weilt auf der Straße. Es ist lang­wei­lig. Alt­ba­cken. Erdrü­ckend. Trau­rig. Diese Asso­zia­tio­nen über­roll­ten mich wäh­rend der gesam­ten Lek­türe und ich konnte nicht ent­kom­men, gleich wie schnell ich lief. Erst nach Tagen nähere ich mich wie­der eini­gen Sät­zen, bin ent­zückt von den For­mu­lie­run­gen, Gedan­ken. Warum war ich also trau­rig? Ver­mut­lich weil der Fähr­mann tot war. Gleich zu Beginn. Ich mag es nicht, wenn ich Men­schen nicht ken­nen­ler­nen darf, über die so viel Schö­nes gesagt wird.

„Der lange eiserne Schlag ver­stummt. Um die Fähe wird es so still, dass sie die Stille schmeckt. Wenn alles still ist, schmeckt die Stille wie alles auf einmal.“

Frau Kranz’ Bil­der erfas­sen all die Details, es scheint, als sei das Buch ein ein­zi­ges Gemälde – der Leser darf selbst ent­schei­den, ob ihm der Pin­sel­strich gefällt. Mit­tel­punkt in der Gemeinde: ein his­to­ri­sches Archiv im Haus der Hei­mat. Es stellt Ver­bin­dungs­punkt zwi­schen Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit dar – es wird sogar ein­ge­bro­chen. In die Ver­gan­gen­heit. Oder aus ihr heraus?

Nicole
urwort​.com

Vor dem Fest, Saša Sta­nišić, Luch­ter­hand Lite­ra­tur­ver­lag, 2014

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6 comments

Xeniana 16. April 2014 - 17:49

Eine sehr schöne Rezen­sion zu einem wun­der­ba­ren Buch.

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Bücherstadt Kurier 16. April 2014 - 18:16

Klasse! Danke für den Tipp!

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Xeniana 16. April 2014 - 19:20

Gern gesche­hen:)
Ich hab den link auf dem Blog von Sta­ni­sic gefunden:
http://​fuers​ten​felde​.wor​d​press​.com/
Ich freue mich heute im Buch wei­ter zu lesen, bin etwa bei der Hälfte. LG Xeniana

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Teamzuwachs: Nicole « BÜCHERSTADT KURIER 9. Mai 2014 - 9:49

[…] sind bereits ver­öf­fent­licht: “Der Brief des Zau­be­rers” von Britta Böh­ler und “Vor dem Fest” von Saša Sta­nišić. In Zukunft könnt ihr hier und im BÜCHERSTADT KURIER mehr von ihr […]

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„Jetzt versaust du denen die Jugend“: Saša Stanišić liest in Bremen 14. November 2019 - 22:40

[…] Rezen­sion: „Vor dem Fest“ (Buch) […]

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