Wahnsinn auf Rezept Deutscher Jugendliteraturpreis

by Worteweberin Annika

Man nehme 100 Gramm Ghul­au­gen, 500 Gramm Dra­chen­her­zen und eine Prise Irr­sinn – her­aus kommt mit Dita Zip­fels „Wie der Wahn­sinn mir die Welt erklärte“ ein wun­der­ba­res Jugend­buch über Nor­ma­li­tät, Fami­lie und das Erwach­sen­wer­den. – Von Worte­we­be­rin Annika

Lucie Schmur­rer ist fast drei­zehn. Auch wenn sie für ihr Alter schon sehr erwach­sen ist, ver­steht sie doch ziem­lich oft die Welt nicht mehr – und vor allem nicht die Men­schen, die in ihr leben. Da wäre zum Bei­spiel Michi, der neue Freund ihrer Mut­ter, der mehr Acht­sam­keit und Wert­schät­zung in das Leben der Schmur­rers brin­gen möchte. Er ist in die enge Woh­nung der Fami­lie ein­ge­zo­gen, erhebt Ansprü­che auf Lucies Zim­mer und geht Lucie mit sei­ner Mis­sion der Liebe tie­risch auf die Ner­ven. Oder Mar­vin aus der ach­ten Klasse, von dem Lucie sich viel­leicht wünscht, er würde sich in sie ver­lie­ben. Vor allem aber ist da Herr Klinge…

Ein beson­de­res Kochbuch

Herrn Klinge lernt Lucie durch einen Aus­hang ken­nen: Angeb­lich zahlt er 20 € die Stunde, wenn man mit sei­nem Hund Gassi geht. Aller­dings hat Herr Klinge eigent­lich gar kei­nen Hund, son­dern höchs­tens einen Knall. Er glaubt daran, dass Toma­ten Dra­chen­her­zen sind, Honig Wer­wolfs­pu­cke und Mais Feen­zähne und sucht jeman­den, der sein Wis­sen für ihn auf­schreibt. Die­ses Koch­buch – übri­gens mit Rezep­ten, die die Lese­rin­nen und Leser tat­säch­lich nach­ko­chen kön­nen – soll geheim blei­ben, denn Herr Klinge ist sich sicher, dass er ver­folgt wird.

Weil Lucie drin­gend Geld für eine Fahrt nach Ber­lin braucht, über­nimmt sie die Auf­gabe. Sie möchte vor dem lie­be­vol­len Michi flie­hen und ein neues Leben in der Haupt­stadt begin­nen. Doch wer hätte damit gerech­net, dass sie des­we­gen schon bald einen Lie­bes­ketchup zusam­men­mi­schen und mit Herrn Klinge auf dem Fried­hof Ghule fan­gen würde?

Ein nor­ma­ler Teenager?

Lucie beschäf­ti­gen die glei­chen The­men wie viele Mäd­chen in ihrem Alter: ner­vige Eltern, der Wunsch nach Aner­ken­nung bei Klas­sen­ka­me­ra­din­nen und natür­lich auch Jun­gen. Diese The­men wer­den im Roman lus­tig und ganz anders als gewohnt auf­be­rei­tet. Das liegt zum einen daran, dass Lucie eine Außen­sei­te­rin ist und meis­tens auch ganz zufrie­den damit, anders als die ande­ren zu sein. Zwar lässt sie sich auf einen Nach­mit­tag im Frei­bad mit den Klas­sen-Zicken ein, ist aber auch nicht sehr trau­rig, als sich die „Freund­schaft“ zerschlägt.

Zum ande­ren liegt es an ihrer Fami­li­en­si­tua­tion, dass „Wie der Wahn­sinn mir die Welt erklärte“ kein 08/15 Jun­gend­buch ist. Lucies Mut­ter war näm­lich lange mit Ber­nie zusam­men, einer Frau. Auch wenn inzwi­schen der acht­same Michi in die Woh­nung der Schmur­rers ein­ge­zo­gen ist, spielt Ber­nie als Vor­bild wei­ter­hin eine große Rolle für Lucie. Ihre Mit­schü­le­rin­nen und Mit­schü­ler jedoch hän­seln sie und ihren Bru­der dafür, dass ihre Mut­ter „ein Homo“ ist. Homo­se­xua­li­tät und die Fra­gen, die sich für Jugend­li­che damit ver­bin­den kön­nen, wer­den dadurch the­ma­ti­siert und als nor­mal dar­ge­stellt, ohne dass das Thema den Roman kom­plett bestim­men würde. Denn auch in vie­len ande­ren Berei­chen lotet Dita Zip­fel aus, was alles als „nor­mal“ gel­ten kann – die Band­breite ist riesig.

Dies ist kein Apfel

Sprach­lich begibt sich der Roman auf die Augen­höhe sei­ner Ich-Erzäh­le­rin Lucie, ohne dabei gestelzt zu wir­ken. Durch die All­tags­spra­che las­sen sich die fast 200 Sei­ten schnell weg lesen und kön­nen auch Lese­muf­fel fes­seln. Gleich­zei­tig ent­ste­hen so Witz und ein ori­gi­nel­ler Erzählton.

Der Arbeits­kreis Jugend­li­te­ra­tur lobt Zip­fels Roman als „inno­va­ti­ves Buch­re­zept“ und hat „Wie der Wahn­sinn mir die Welt erklärte“ für den Deut­schen Jugend­li­te­ra­tur­preis 2020 nomi­niert. In der Jury­be­grün­dung wer­den neben der Geschichte auch die außer­ge­wöhn­li­chen Illus­tra­tio­nen der Islän­de­rin Rán Fly­gen­ring her­vor­ge­ho­ben. Wie auch in „Reise zum Mit­tel­punkt des Wal­des“ kom­bi­niert Fly­gen­ring Zeich­nun­gen mit hand­schrift­li­chen Noti­zen. Die in orange, schwarz und weiß gestal­te­ten Bil­der ergän­zen den Roman in Form von Lucies anthro­po­lo­gi­schen Noti­zen, Herrn Klin­ges Rezep­ten und Zeich­nun­gen von abson­der­li­chen Situa­tio­nen aus Lucies Alltag.

„Wie der Wahn­sinn mir die Welt erklärte“ ist ein unter­halt­sa­mer, intel­li­gen­ter und schön gestal­te­ter Roman (nicht nur) für Jugend­li­che und hat eine starke Prot­ago­nis­tin. Die Nomi­nie­rung für den Deut­schen Jugend­li­te­ra­tur­preis ist da nur verständlich.

Wie der Wahn­sinn mir die Welt erklärte. Dita Zip­fel. Illus­tra­tio­nen: Rán Fly­gen­ring. Carl Han­ser Ver­lag. 2019.

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