Was bedeutet es, irgendwo fremd zu sein?

by Wortklauberin Erika

Irena Kobald und Freya Black­wood erschaf­fen mit „Zuhause kann über­all sein“ ein Kin­der­buch für Groß und Klein, das nicht nur eine Geschichte vom Fremd­sein, son­dern auch vom Ankom­men erzählt. Wort­klau­be­rin Erika liest hinein.

„Meine Tante nannte mich Wild­fang“, stellt sich die Ich-Erzäh­le­rin vor. „Dann kam der Krieg und meine Tante nannte mich nicht mehr Wild­fang.“ (S. 5)

Die Prot­ago­nis­tin, deren Geschichte in der Aus­gabe vom Kne­se­beck Ver­lag auf Ara­bisch und Deutsch par­al­lel erzählt wird, flieht mit ihrer Tante in ein Land, in dem sie sich als Fremde zurecht­fin­den müs­sen. Alles wirkt dabei anders – die Men­schen, die Spra­che, sogar der Wind weht anders. Sie und ihre Tante, die auf den Illus­tra­tio­nen in war­men Farb­tö­nen her­vor­leuch­ten, fin­den nur all­mäh­lich einen Zugang zu die­ser Welt aus küh­len Far­ben und Men­schen, die unge­wohnte Laute von sich geben.

Wäh­rend die eigene Spra­che, die eigene Kul­tur im Hin­ter­grund ste­hen und zur Zuflucht wer­den, wie eine alte, viel­ge­liebte Decke, steht das Neue im Gegen­satz dazu. Die Men­schen, deren Haut­farbe hell ist, spre­chen in ande­ren Bil­dern als die Ich-Erzäh­le­rin. Zunächst scheint die Situa­tion aus­sichts­los, doch dem ist nicht so: Ein ein­hei­mi­sches Mäd­chen macht den Unter­schied, indem es sich nicht nur auf unver­ständ­li­che Wör­ter ver­lässt, son­dern zur Tat greift. Wenn­gleich die bei­den Mäd­chen sich zu Anfang nicht in Form von gespro­che­ner Spra­che ver­stän­di­gen kön­nen, fin­den sie einen Weg, ein­an­der Wör­ter mit- und beizubringen.

Eine Spra­che in Bildern

Freya Black­wood ver­steht es, Spra­che auch ohne Worte in „Zuhause kann über­all sein“ mit ihren Illus­tra­tio­nen dar­zu­stel­len. Die Men­schen spre­chen in Sym­bo­len, die für die Ich-Erzäh­le­rin nicht ver­ständ­lich sind.

Der Text spricht vom sich-fremd-Füh­len, was durch die Farb­wahl in der Gestal­tung geäu­ßert wird. Die neue Welt, in wel­che die Ich-Erzäh­le­rin ein­tritt, erscheint in kal­ten Far­ben, wäh­rend die Her­kunfts­kul­tur in warme Far­ben gehüllt ist. Der Kon­trast tritt gerade zu Anfang der Erzäh­lung deut­lich her­vor. Man fin­det etwa die Ich-Erzäh­le­rin, den Wild­fang, gemein­sam mit ihrer Tante in einem Zug. Sie leuch­ten rotorange aus dem in Blau, Grün und Grau gehal­te­nen Bild hervor.

Mit der zuneh­men­den Inte­gra­tion der Prot­ago­nis­tin ver­än­dern sich nicht die Far­ben. Die „alte Decke“ der hei­mi­schen Kul­tur bleibt leuch­tend rot, wäh­rend die neue Decke des Ankunfts­lan­des seine kal­ten, blas­sen Töne behält. Ein­zig die Bezie­hung der Ich-Erzäh­le­rin zu die­ser ande­ren Kul­tur in all ihren Eigen­hei­ten ver­än­dert sich, bis sich die ver­schie­de­nen Farb­töne im letz­ten Bild vereinen.

Fremde Zun­gen

Eine wei­tere Beson­der­heit an „Zuhause kann über­all sein“ ist neben den lie­be­vol­len Illus­tra­tio­nen und der Dar­stel­lung des kom­ple­xen The­mas der Spra­che auch die zwei­spra­chige Aus­gabe selbst. Die Über­set­zun­gen stam­men hier­bei von Tat­jana Kröll für das Deut­sche sowie Moham­med Abu Ramela und Moham­med Abdel­hady für das Ara­bi­sche. Der ein­zige Wer­muts­trop­fen daran bleibt das Feh­len einer Auf­nahme, die den ara­bi­schen Text für jene zugäng­lich machen könnte, die der Spra­che nicht mäch­tig sind.

Zugleich macht diese auf den ers­ten Blick kaum bedeu­tende Sprach­bar­riere das Gefühl deut­lich, wel­ches die Ich-Erzäh­le­rin im Laufe der Geschichte erfährt. Das Fremde und das Ver­traute ste­hen neben­ein­an­der und ver­bin­den sich zu einem neuen Blick auf die Situa­tion von Geflüchteten.

Eine Emp­feh­lung für Groß und Klein

Bemer­kens­wert ist dabei auch, dass weder Her­kunfts- noch Ankunfts­land benannt wer­den: Man muss sich auf Ver­mu­tun­gen ver­las­sen, was das Buch einem brei­ten Publi­kum zugäng­lich macht – sowohl in Aus­tra­lien, wo das Kin­der­buch 2014 erst­mals erschien, als auch in Europa oder den USA. Das zeigt: Die­selbe Geschichte kann sich über­all, in sämt­li­chen kul­tu­rel­len Kon­tex­ten abspielen.

„Zuhause kann über­all sein“, das im deut­schen Raum in Zusam­men­ar­beit mit der Deut­schen Kin­der- und Jugend­stif­tung erschien, ist eine Emp­feh­lung für Groß und Klein. Es bie­tet eine Bühne für das Anspre­chen der gro­ßen Band­breite an The­men, die mit dem sich-fremd-Füh­len ver­bun­den sind. Da es sich dabei aller­dings doch um eine rela­tiv kom­plexe The­ma­tik han­delt, ist „Zuhause kann über­all sein“ eher für grö­ßere Kin­der ab etwa sie­ben Jah­ren geeignet.

Zuhause kann über­all sein. Irena Kobald. Illus­tra­tio­nen: Freya Black­wood. Über­set­zung ins Deut­sche: Tat­jana Kröll. Über­set­zung ins Ara­bi­sche: Moham­med Abu Ramela, Moham­med Abdel­hady. Kne­se­beck. 2016. Illus­tra­tion (oben): www​.kne​se​beck​-ver​lag​.de 

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