Was wäre, wenn...

by Zeichensetzerin Alexa

Stellt ihr euch auch manch­mal die Frage, wie das Leben wohl ver­lau­fen wäre, wenn ihr euch für einen ande­ren Weg ent­schie­den hät­tet? „Das Glück, wie es hätte sein kön­nen“ von Véro­ni­que Olmi stellt die­sen Gedan­ken in den Vor­der­grund, Wün­sche neben Ver­ant­wor­tung und Gefühle neben ratio­na­les Den­ken. – Von Zei­chen­set­ze­rin Alexa

Serge führt ein Leben wie im Mär­chen: er hat zwei Kin­der – ein Junge und ein Mäd­chen – und eine viel jün­gere Frau, die sich liebe- und ver­ant­wor­tungs­voll um die Fami­lie küm­mert. Sein Job ist gut bezahlt, an Geld man­gelt es ihnen nicht. Doch wie jedes Mär­chen hat auch die­ses eine Schat­ten­seite, die erst nach und nach auf­ge­deckt wird. Dass Serge eine schwere Kind­heit hatte und seit vie­len Jah­ren große Schuld­ge­fühle mit sich trägt, kann nie­mand ahnen. Bis Suzanne in sein Leben tritt und er beginnt, sich ihr zu öffnen.

Suzanne ist Kla­vier­stim­me­rin, um eini­ges älter als seine Frau Lucie und auf den ers­ten Blick unschein­bar. Doch etwas ist an ihr, das ihn wie magisch anzieht. Sie begin­nen, sich zu tref­fen. Es ent­wi­ckeln sich Gefühle, die Serge in sei­ner Ehe gefehlt haben. Der Reiz des Unbe­kann­ten, Neuen und Ver­ant­wor­tungs­lo­sen bewe­gen ihn immer wie­der dazu, ihre Nähe auf­zu­su­chen. Lange hält das Glück jedoch nicht an: das Dop­pel­le­ben, das Serge fortan führt, zerrt an ihm. Er weiß, dass er sich ent­schei­den muss. Doch wie?

„Es ist wie eine Münze, die man wirft, Kopf oder Zahl, woher soll man wis­sen, ob das Leben strah­lend oder erbärm­lich ist, woher weiß man, ob man es geschafft und ob es sich gelohnt hat?“

„Das Glück, wie es hätte sein kön­nen“ ist ein viel­schich­ti­ger, tief­sin­ni­ger Roman, der sowohl inhalt­lich als auch sprach­lich über­zeugt. Die kur­zen Sätze unter­stüt­zen die bedrü­ckende Stim­mung und rufen, teils auch mit rhe­to­ri­schen Mit­teln, eine durch­gän­gige Trau­rig­keit und Melan­cho­lie her­vor. Nicht unbe­deu­tend ist dabei der Wech­sel der Spre­cher­stim­men: wäh­rend Suzan­nes Geschichte aus der Ich-Per­spek­tive erzählt wird, wird die Sicht Ser­ges durch eine beob­ach­tende Instanz geschil­dert. Zwei Per­spek­ti­ven, die eine näher als die andere, ähn­lich dem Gefühl und dem Ver­stand – die Frage ist nur: was wird über­wie­gen? Viel Tiefe steckt zwi­schen den Zei­len und aus­rei­chend Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum. Doch wie auch im rich­ti­gen Leben weiß man nicht, wie diese Geschichte enden wird.

„Er steht wenige Zen­ti­me­ter vor mir. Er ist in Reich­weite. Eine Hand­be­we­gung von mir ent­fernt. Und ich mache sie nicht. Danach kann ich alles über­le­ben. Jede Ein­sam­keit, jede Angst und jede Anwand­lung. Wenn ich gehe, ohne das Gesicht die­ses Man­nes in die Hände zu neh­men, meine Zunge in sei­nen Mund zu schie­ben und die­sen Kuss voll Blut und Dank­bar­keit lange fest­zu­hal­ten, wenn ich zu die­ser Kälte die­ser Unmensch­lich­keit fähig bin, dann wird nichts mich mehr tref­fen kön­nen. Bin ich keine Frau mehr.“

Den rich­ti­gen Ton tref­fen, um uns in unse­rem tiefs­ten Inne­ren zu berüh­ren – das kann Véro­ni­que Olmi. Mit „Das Glück, wie es hätte sein kön­nen“ hat sie ein Stück Lite­ra­tur geschaf­fen, das lange nachklingt.

Das Glück, wie es hätte sein kön­nen. Véro­ni­que Olmi. Über­set­zung: Clau­dia Stei­nitz. Kunst­mann Ver­lag. 2014.

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