Weiß-Einsamkeit 100 Bilder – 100 Geschichten

by Wortklauberin Erika

Hel­ler Tag: Ich atme die kalte Luft ein, sehe beim Aus­at­men meine Atem­wolke auf­stei­gen. Sie passt zu den Schnee­ber­gen rund um mich, durch die ich stapfe. Die Schnee­schuhe sind schwer an den Füßen, mir ist es zu früh. Was macht man nicht alles dafür, die weni­gen Stun­den Sonne so hoch im Nor­den zu ver­län­gern?, frage ich mich seuf­zend. Die Straße liegt vor mir in der wei­ßen Weite, ver­schwimmt – wie immer zu die­ser Jah­res­zeit – mit der Umge­bung und ist nur daran zu erken­nen, dass sie platt­ge­fah­ren ist. Der Boden ist rau, die Bäume glit­zern im Reif, der sich schwer auf ihre ver­eis­ten Nadeln legt. Ein Wind­stoß treibt mir klir­rend Eis­zap­fen ent­ge­gen; außer mei­nem lau­ten Atem ist nichts zu hören.

Die Weite ist manch­mal alb­traum­haft; es ist so still. Als Stadt­mensch muss man sich daran gewöh­nen, mit sich und sei­nen Gedan­ken allein­ge­las­sen in einer Wet­ter­sta­tion zu hau­sen. Manch­mal begegne ich auf mei­nen Streif­zü­gen den wan­dern­den Völ­kern, den Ein­hei­mi­schen, die weite Land­stri­che ihr Zuhause nen­nen und sich an Ster­nen ori­en­tie­ren. Ihr Tee ist grau­en­haft, ihr Wis­sen fas­zi­nie­rend. Manch­mal tau­sche ich den star­ken Selbst­ge­brann­ten gegen über­lie­fer­tes Wis­sen: Sie kön­nen dem Wind die Ant­wor­ten abrin­gen, die er mir verweigert.

Foto: Worteweberin Annika

Wie ich das in Zah­len und Fak­ten ver­pa­cken soll – dar­über mache ich mir meis­tens spät­abend­lich Gedan­ken, wenn er mir Unver­ständ­li­ches durch die Rit­zen und Spal­ten der Obser­va­ti­ons­sta­tion zuflüstert.

Das rhyth­mi­sche Stap­fen mei­ner Schnee­schuhe ver­lang­samt sich: Ich bleibe irri­tiert ste­hen, sehe nach rechts – nach links – gera­de­aus. Es ist nichts rundum: Keine Häu­ser, keine Sträu­cher, keine Bäume, nichts.

Ich wider­stehe, mir ungläu­big die Augen zu rei­ben und gra­tu­liere mir men­tal selbst: Ich bin wohl tat­säch­lich durch­ge­dreht. Am hell­lich­ten Tag, stock­nüch­tern, inmit­ten mei­ner Weiß-Ein­sam­keit (von Wald­ein­sam­keit ist in der wei­ßen Ebene aus Schnee und Eis nicht zu sprechen).

Nichts­des­to­trotz warte ich, bis die Ampel auf Grün springt, um das weiße Nichts zu überqueren.

Text: Wort­klau­be­rin Erika
Foto: Worte­we­be­rin Annika

Ein Bei­trag zum Pro­jekt 100 Bil­der – 100 Geschich­ten – Bild Nr. 32.

Weiterlesen

Leave a Comment

Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Nutzung unserer Website erklärst du dich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. OK Erfahre mehr