Wenn Paragraphen persönlich werden

by Bücherstadt Kurier

Eine Rich­te­rin in Groß­bri­tan­nien. Fälle, die höchst grenz­wer­tig sind und über das Weh oder Wohl von Kin­dern ent­schei­den. Eine heile Welt im Reich­tum, im Erfolg, vol­ler Para­gra­phen und Gesetze. Alles wird logisch erklärt, alles belegt und geplant. Fak­ten, Refe­ren­zen und Pre­ze­denz­fälle. Und dann kippt Fio­nas schein­bar heile Welt.

Fio­nas Ehe, in deren Sicher­heit sie sich glaubt, droht sich zu ver­än­dern. Es folgt die Hilf­lo­sig­keit, denn eine Lösung lässt sich nicht mit Geset­zes­ent­wür­fen bele­gen. Um sich abzu­len­ken, stürzt sich Fiona in die Arbeit, behan­delt einen Fall, in dem es um die Behand­lung eines Jun­gen geht, der als Zeuge Jeho­vas keine Blut­trans­fu­sio­nen erhal­ten will. Ein Fall auf dem Papier. Alles, was sie will, ist es, den Fall was­ser­dicht zu machen, keine Lücken für Ein­sprü­che zu las­sen. Doch so ein­fach ist es nicht. Am Ende ent­schei­det sie sich, den Jun­gen per­sön­lich ken­nen­zu­ler­nen und zu spre­chen, um ihre Ein­schät­zung fes­ti­gen zu kön­nen. Der Fall auf dem Papier springt plötz­lich in ihr rea­les Leben und mit einem Mal kann sie nichts mehr damit erklä­ren und beschrei­ben, was sie jah­re­lang so meis­ter­lich getan hatte. Das, was ein Mensch denkt, fühlt und wie er danach han­delt, kann man nicht mit Para­gra­phen erör­tern. Dies muss auch Fiona bit­ter erfahren.

Das Buch „Kin­des­wohl“ beginnt so tro­cken wie die Geset­zes­texte der Juris­ten. Genaue Beschrei­bun­gen bis ins Detail, aber nichts davon wird mit emo­tio­na­ler Ver­bun­den­heit beschrie­ben. Wenn man sich in Lon­don aus­kennt, ist es kein Pro­blem, den Arbeits­weg Fio­nas genau nach­zu­ver­fol­gen. Selbst die Bezie­hungs­krise ver­liert sich erst ein­mal in Hilf­lo­sig­keit und Sprach­lo­sig­keit. Die­ses Stil­mit­tel wirkt beim Lesen zunächst etwas stumpf und tro­cken, doch erst spä­ter, als der Junge als Per­son und nicht als beschrie­be­ner Fall in einer Akte in Fio­nas Leben tritt, bemerkt man den ste­ti­gen Wan­del. Die Emo­ti­ons­lo­sig­keit ändert sich, mit einem Mal las­sen sich viele Dinge nicht mehr ratio­nal erklä­ren. Es sind Gefühle im Spiel, wie zum Bei­spiel die Ver­bun­den­heit zur Musik. Oder Gesprä­che, die sehr tief gehen, per­sön­lich wer­den und noch lange nachwirken.
Erst jetzt wird klar, dass diese tro­ckene und detail­ver­liebte, aber distan­zierte Art zu Schrei­ben Stil­mit­tel ist und nun, als die Emo­tio­nen Ein­zug hal­ten, an die­ser hei­len Welt krat­zen. Wie ein per­fek­tes Bild, das zu Boden fällt, bricht es und eröff­net einen Blick auf eine andere Welt, die viel wert­vol­ler ist. Nicht so per­fekt, aber vol­ler Leben und Echt­heit. Vol­ler Gedan­ken, Leid und Freude. Mit allen Farb­schat­tie­run­gen und Grau­tö­nen, die die Welt zu bie­ten hat. So wie das Leben eben spielt.

Ian McE­wan schafft ein unge­wöhn­li­ches Werk. Eins, das man nicht vom ers­ten Moment an lie­ben muss. Eins, das man erst ein­mal kate­go­ri­sie­ren muss. Und kaum hat man dies geschafft, wan­delt es sich wie­der und wird zu einer leben­di­gen Erzäh­lung, die sehr viel Tiefe und Emo­tion besitzt, sodass man es am Ende weg­legt und mit einem gan­zen Hau­fen vol­ler Gedan­ken zurück bleibt. Eine wan­del­bare und schließ­lich span­nende Lektüre.

Eli­sa­beth

Kin­des­wohl, Ian McE­wan, Mirko Bonné, Dio­ge­nes, 2015
Wei­tere Bespre­chun­gen gibt es hier: Feuil­le­töne, Bücher­Kaf­fee.

Weiterlesen

0 comment

gedankenlabyrintherin 16. Juli 2015 - 1:56

Ich war am Anfang etwas unsi­cher und dann war ein Sog. Ich mag das Buch sehr. 

Reply
Bücherstadt Kurier (Elisabeth) 28. August 2015 - 23:17

Ja rich­tig! Der Anfang war recht tro­cken durch die ganze, sehr distan­zierte und ratio­nale Erzähl­weise. Aber sobald dann tie­fer in der Gefühls­welt gegra­ben wurde, umso bes­ser war es mit dem Lese­fluss und am Ende musste ich erst ein­mal Luft holen!

Reply

Leave a Comment

Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Nutzung unserer Website erklärst du dich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. OK Erfahre mehr