Wer nicht die Wahrheit sagt und wer lügt

by Worteweberin Annika

Auf einer klei­nen Insel kochen die Gefühle über – was im Stru­del von Tauch­gän­gen, Lust, Macht­spiel­chen und Boots­fahr­ten tat­säch­lich vor­ge­fal­len ist, lässt Juli Zeh in „Null­zeit“ offen. Worte­we­be­rin Annika ist in den Roman abgetaucht.

Jola, eine junge Schau­spie­le­rin, und ihr Freund Theo, ein Schrift­stel­ler, ver­brin­gen die Ferien in der Tauch­schule des Ich-Erzäh­lers Sven. Jola, die vor­her nur in Tele­no­ve­las auf­ge­tre­ten ist, will sich hier auf ihre erste große Rolle vor­be­rei­ten. Doch es kommt anders. Jola, Sven und Theo gera­ten in einen Stru­del aus Begeh­ren, Lügen und Gewalt, der dazu führt, dass Theo fast ertrinkt. Oder ertränkt wird?

Zwei Ver­sio­nen eines Urlaubs

Die Hand­lung von „Null­zeit“ besteht größ­ten­teils aus der zurück­bli­cken­den Erzäh­lung des Ich-Erzäh­lers Sven. Sven beschreibt den All­tag mit sei­nen Gäs­ten Theo und Jola, die Tauch­gänge, auf denen die bei­den sich mehr­mals dane­ben beneh­men, aber auch die Anzie­hung zwi­schen Jola und ihm. Kon­tras­tie­rend zu Svens Erzäh­lung sind der Chro­no­lo­gie der Ereig­nisse fol­gend Ein­träge aus dem Tage­buch von Jola ein­ge­fügt. Schnell wird klar: Das, was die bei­den erzäh­len, wider­spricht sich. In Svens Ver­sion ist Jola eine intri­gante Ver­füh­re­rin – Jola hin­ge­gen schil­dert die Annä­he­rung als eine Ver­liebt­heit, die auch von Sven aus­geht und in einer lei­den­schaft­li­chen Affäre mün­det. Was auch immer vor­fällt, es führt dazu, dass Svens ohne­hin fra­gile Bezie­hung zur deut­lich jün­ge­ren Antje in die Brü­che geht und auch seine rest­li­che Exis­tenz auf der Insel bedroht wird.

Schon früh in Svens Erzäh­lung – einem schrift­li­chen Bericht übri­gens, den er ver­fasst, um sich recht­lich gegen Jolas Ver­sion der Ereig­nisse abzu­si­chern – wird deut­lich, dass die Geschichte ein böses Ende neh­men wird. Sven deu­tet an, dass die Insel mit sei­ner Tauch­schule inzwi­schen für ihn zur Ver­gan­gen­heit gehört.

„Was pas­siert war, ließ sich nicht rück­gän­gig machen. Aber es war mög­lich, nach einem Schlen­ker die Spur zu hal­ten. Heute würde ich hin­zu­fü­gen: Vor­aus­ge­setzt, man kann fah­ren. Scharf brem­sen und das Steuer her­um­rei­ßen ist nie­mals die rich­tige Stra­te­gie.“ (S. 105)

Span­nung ent­steht im Roman des­we­gen auch weni­ger dar­aus, dass man erfah­ren möchte, wie genau es für Sven und Jola eigent­lich aus­ge­hen wird, son­dern eher, weil man sich fragt, wer hier eigent­lich die Wahr­heit erzählt. Die Pas­sa­gen aus Jolas Tage­buch ent­spre­chen teil­weise bis in den Wort­laut Svens Erzäh­lung, wei­chen aber in den wich­ti­gen Punk­ten deut­lich ab. Gleich­zei­tig bezich­ti­gen die Figu­ren sich gegen­sei­tig der Lüge; ins­be­son­dere Theo ist es, der an Jolas Glaub­haf­tig­keit Zwei­fel sät. Doch auch Sven erkennt, dass seine Geschichte an der Grenze zur Unwahr­heit oszil­liert: „Am Stra­ßen­rand duckte sich ein trief­nas­ser Fuchs. Er sah bedau­erns­wert aus. Soweit ich weiß, gibt es keine Füchse auf der Insel.“ (S. 61)

Sub­jek­tive Wahrheit

In „Null­zeit“ ent­zieht sich den Lesen­den und den Figu­ren eine objek­tive Wahr­heit, was auch im Roman selbst ver­han­delt wird:

„Bei Gericht hatte ich erlebt, wie Men­schen die Ver­gan­gen­heit nach selbst ent­wi­ckel­ten Mus­tern form­ten. In hei­li­ger Über­zeu­gung erzähl­ten sie den gröbs­ten Unsinn. Viel­leicht war das die wich­tigste Erkennt­nis mei­ner Aus­bil­dung: Wer nicht die Wahr­heit sagte, log noch lange nicht.“ (S. 81)

Letzt­end­lich trifft diese Aus­sage auch auf Svens und Jolas Erzäh­len zu. Doch wäh­rend für Sven Schrift­stel­ler die „höchs­ten Rich­ter“ sind, die über wahr und falsch ent­schei­den kön­nen, wider­spricht Juli Zeh dem mit ihrem Text. Jolas und Svens Ver­sio­nen der Wahr­heit blei­ben neben­ein­an­der ste­hen. Beide kön­nen wahr sein, beide gelo­gen – wahr­schein­lich sind sie sogar beide falsch, nur sub­jek­tive „Wahr­hei­ten“.

Erzäh­len und Realität

Juli Zeh gilt als eine der erfolg­reichs­ten Autorin­nen der deutsch­spra­chi­gen Gegen­warts­li­te­ra­tur. In ihren Roma­nen wie „Unter­leu­ten“ oder „Cor­pus Delicti“ spricht sie oft gesell­schaft­lich rele­vante The­men an und zeigt sich poli­tisch enga­giert. „Null­zeit“ hin­ge­gen prä­sen­tiert auf den ers­ten Blick eine thril­ler­ar­tige Geschichte, die vor allem Span­nung ver­spricht. Durch die Bear­bei­tung des The­mas Wahr­heit, auch in Bezug auf die Mög­lich­kei­ten von Lite­ra­tur, wird jedoch mehr aus die­sem Roman.

Das liegt sicher­lich auch an den Bezü­gen, die die Autorin zu ihren eige­nen Tex­ten her­stellt: Ver­weise fin­den sich nicht nur auf die Romane „Spiel­trieb“ und „Cor­pus Delicti“, son­dern sogar auf spä­ter erschie­nene Texte, näm­lich auf „Unter­leu­ten“ und das damit ver­bun­dene „Dein Erfolg“.* Da auch in den Tex­ten um „Unter­leu­ten“ herum (ver­schie­dene Web­site­texte zum Bei­spiel) lite­ra­ri­sches Erzäh­len und Rea­li­tät in Ver­hält­nis gesetzt wer­den, ergibt sich hier­aus ein grö­ße­res Pan­orama auf das Thema Lite­ra­tur und Wahrheit.

„Null­zeit“ lässt sich wun­der­bar als ein­fa­che, span­nende Urlaubs­lek­türe lesen. Wer jedoch Lust hat auf ein biss­chen mehr, der kann von die­sem Text aus­ge­hend einen Streif­zug an die Gren­zen der Wahr­heit unter­neh­men und wei­ter in das Text-Uni­ver­sum von Juli Zeh abtauchen.

Null­zeit. Juli Zeh. Btb. 2012.

* „Dein Erfolg“ erschien ursprüng­lich als Rat­ge­ber des Autoren Man­fred Gortz ohne Hin­weis auf Juli Zeh und „Unter­leu­ten“. Da zwi­schen „Dein Erfolg“ und „Unter­leu­ten“ große Über­schnei­dun­gen bestehen, wurde die Bezie­hun­gen zwi­schen „Dein Erfolg“ und „Unter­leu­ten“ zuerst als Pla­giat, dann als Fake dis­ku­tiert, das Zeh schließ­lich medial bestä­tigte. Vor­her war die Exis­tenz von Man­fred Gortz Gegen­stand der media­len Aus­ein­an­der­set­zung, leg­ten doch online-Prä­sen­zen die Exis­tenz eines Gortz nahe, den aber nie­mand kannte: Der Autor (und Tri­ath­let) hat einen Account beim Kurz­nach­rich­ten­dienst twit­ter (von dem aus der Zwei­fel an sei­ner Exis­tenz kri­ti­siert wurde), ein face­book-Pro­fil und wird auch vom Ver­lag als Autor vor­ge­stellt. In einem auf you­tube erschie­ne­nen Video zeigte sich außer­dem ein Mann, der für sich in Anspruch nimmt, Gortz zu sein.

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