Wie die Welt den Bach runter geht

by Geschichtenzeichnerin Celina

Im neuen, genia­len Best­sel­ler „GRM – Brain­fuck“ von Sibylle Berg wird eine dys­to­pi­sche, den­noch nicht unrea­lis­ti­sche Welt prä­sen­tiert. Kri­tisch zeich­net sie in Roman­form nach, was pas­siert, wenn Kapi­ta­lis­mus und Neo­li­be­ra­lis­mus vor­herr­schen. Geschich­ten­zeich­ne­rin Celina taucht in die Welt von GRM ein.

Die Prot­ago­nis­ten die­ses Wer­kes sind die vier Kin­der Don, Karen, Han­nah und Peter. Sie erlei­den aller­hand Schick­sals­schläge und müs­sen sich durch eine aso­ziale, hoch digi­ta­li­sierte und vom Geld­ge­winn der Rei­chen domi­nierte Welt kämpfen.

Die Geschichte star­tet in der Stadt Roch­dale in Eng­land, wo die gesell­schaft­lich aus­ge­schlos­se­nen und sozial benach­tei­lig­ten Kin­der sowie ihr Umfeld ins Visier genom­men wer­den. Ihre Lebens­la­gen wir­ken hoff­nungs­los und es scheint kein Ent­kom­men aus der miss­li­chen Situa­tion zu geben. Die Kin­der – die fast keine Kin­der mehr sind – erle­ben, jeder auf seine oder ihre Weise, Grau­sam­keit, Ernied­ri­gung, Her­ab­fäl­lig­keit und Demü­ti­gung. Gemein­sam ist ihnen die Musik Grime (eng­lisch: Schmutz). Es ist ein Stil aus Groß­bri­tan­nien, der seine Wur­zeln im Hip-Hop und der elek­tro­ni­schen Musik hat. Die Rich­tung erscheint roh, aggres­siv, düs­ter und greift text­lich gesell­schaft­li­che Pro­bleme auf. Grime wurde von Berg abge­kürzt als Titel des Buches verwendet.

Zuerst wer­den im Roman die ein­zel­nen Vor- und Lebens­ge­schich­ten der Kin­der erzählt, bis diese auf­ein­an­der- und zusam­men­tref­fen. Diese Erzähl­struk­tur ist hilf­reich, um die fol­gen­den Zusam­men­hänge und ihre wei­te­ren Hand­lun­gen zu verstehen.

Rea­li­täts­be­zug

Die Cha­rak­tere und ihre jewei­li­gen Lebens­ge­schich­ten in die­ser äußerst ver­kom­men­den Welt sind zwar fik­tiv, den­noch besteht ein Rea­li­täts­be­zug. Man hat das Gefühl, dass die Hand­lung in unse­rer heu­ti­gen Zeit spielt und zugleich in der Zukunft. Zum einen wer­den aktu­elle The­men – wie der Bre­xit oder die Digi­ta­li­sie­rung – sowie ihre nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen, die bereits jetzt zum Teil bestehen, auf­ge­grif­fen, und zum ande­ren wird zuge­spitzt dar­ge­stellt, wohin dies alles wei­ter­ge­dacht füh­ren könnte. Die Schief­la­gen und kras­sen Ten­den­zen und wel­che Aus­maße diese anneh­men kön­nen, wer­den einem beim Lesen erschre­ckend bewusst. Man wird zum Den­ken über Zukunfts­fra­gen angeregt.

Dass die Hand­lung des Romans nah an der Rea­li­tät ist, zeigt sich auch darin, dass Sybille Berg den Neo­li­be­ra­lis­mus auf­greift. Ein klei­ner Exkurs für alle, die wie ich die­sen Begriff noch ein­mal nach­schla­gen möch­ten. Auf der Web­site der Bun­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung ist dies unter Neo­li­be­ra­lis­mus zu finden:

„Denk­rich­tung des Libe­ra­lis­mus, die eine frei­heit­li­che, markt­wirt­schaft­li­che Wirt­schafts­ord­nung mit den ent­spre­chen­den Gestal­tungs­merk­ma­len wie pri­va­tes Eigen­tum an den Pro­duk­ti­ons­mit­teln, freie Preis­bil­dung, Wett­be­werbs- und Gewer­be­frei­heit anstrebt, staat­li­che Ein­griffe in die Wirt­schaft jedoch nicht ganz ablehnt, son­dern auf ein Mini­mum beschrän­ken will.“

Dies stellt Berg vorraus­schau­end dar, indem sie unter ande­rem auf­zeigt, wie die Schere zwi­schen Arm und Reich immer grö­ßer wird und wie es zu immer mehr Pri­va­ti­sie­run­gen vom Was­ser bis hin zur Poli­zei und dem Mili­tär kommt. Die Regie­rung tut dage­gen jedoch nichts, wäh­rend Wirt­schafts­bosse sagen, dass die Märkte sich schon von alleine regu­lie­ren werden.

Wei­tere The­men im Buch sind Über­wa­chung, Sozi­al­sys­tem, Grund­ein­kom­men, tech­ni­sche Inno­va­tio­nen, Miss­brauch und Vergewaltigung.

Ein­zig­ar­ti­ger Schreibstil

Man hat das Gefühl, als würde Berg die Cha­rak­tere ken­nen. Sie gibt wie­der, was diese den­ken bezie­hungs­weise wel­che The­ma­ti­ken sie gerade beschäf­ti­gen. Dabei wer­den auf gekonnte Art Worte, Aus­drü­cke und Sicht­wei­sen der jewei­li­gen Figu­ren aufgegriffen.

Nicht nur die Prot­ago­nis­ten, son­dern auch die Neben­cha­rak­tere wer­den leben­dig, da ihre Lebens­ge­schich­ten und Denk­wei­sen ebenso dar­ge­stellt wer­den. Durch die vie­len Per­spek­ti­ven unter­schied­lichs­ter Per­so­nen, auch der rei­chen und pri­vi­le­gier­ten, erhal­ten Leser einen umfang­rei­chen Ein­blick in die Welt von GRM. Dabei nimmt Berg kein Blatt vor den Mund. Auch unan­ge­nehme Gedan­ken von Men­schen wer­den offen­bart. Gene­rell ist das Geschrie­bene rela­tiv leicht ver­ständ­lich und nach­voll­zieh­bar verfasst.

Ein wei­te­rer genia­ler Punkt ist, wie der Wech­sel von Per­son zu Per­son und somit öfter auch von Ört­lich­kei­ten struk­tu­riert ist. Es wirkt wie genau gesetzte Schnitte im Film, wel­che einen Über­gang ein­lei­ten und zu ver­ste­hen geben, an wel­cher Stelle und bei wel­cher Per­son die Erzäh­lung fort­ge­führt wird.

Brain­fuck

Bereits beim Lesen des Unter­ti­tels wird einem bewusst, dass in „GRM“ eine krasse und hoff­nungs­lose Welt geschil­dert wird. Sibylle Berg schafft hier einen Best­sel­ler, der den Zahn der Zeit trifft. Die kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit poli­ti­schen und sozia­len The­ma­ti­ken und den dar­aus resul­tie­ren­den Fra­gen an die Zukunft wird durch die Erzäh­lun­gen im Roman erfahr­bar gemacht und regt zum Nach­den­ken an.

GRM – Brain­fuck. Sibylle Berg. Kie­pen­heuer & Witsch. 2019.

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