Wie ein Baum auf Asphalt

by Worteweberin Annika

Ein Mäd­chen kämpft für Bil­dung und ihr Glück. In „Ein Baum wächst in Brook­lyn“ zeigt Betty Smith einen lie­be­vol­len Blick auf Brook­lyn, aber auch die Armut und Ver­zweif­lung, in der die Men­schen dort zu Beginn des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts leb­ten. Worte­we­be­rin Annika ist mit der Prot­ago­nis­tin Fran­cie auf einen Baum geklettert.

Die kleine Fran­cie wächst im Brook­lyn der 1910er Jahre auf. Ihr All­tag ist geprägt vom Schrott­sam­meln, täg­li­chen Besu­chen in der Biblio­thek, zu wenig Essen und einer lie­be­vol­len Fami­lie. Die besteht aus Fran­cies jün­ge­rem Bru­der Nee­ley, der kämp­fe­ri­schen Mut­ter Kathie und Johnny, dem Vater, des­sen Lei­den­schaf­ten der Alko­hol und die Musik sind, außer­dem Kathies bei­den Schwestern.

Kathie wünscht sich für ihre Kin­der nichts mehr, als dass sie der Armut ent­kom­men. Der Schlüs­sel dazu ist Bil­dung, das weiß sie. Also lässt sie Fran­cie und Nee­ley jeden Abend aus der Bibel und Shake­speares gesam­mel­ten Wer­ken lesen, sorgt dafür, dass sie als erste in der Fami­lie die Grund­schule abschlie­ßen, und ver­sucht, ihnen auch wei­tere Schul­ab­schlüsse zu ermög­li­chen. Doch gerade da wird das Geld knapp und Fran­cie muss dafür kämp­fen, die High­school zu besu­chen statt zu arbei­ten. Dabei zeigt sie sich so wider­stands­fä­hig und wil­lens­stark wie der titel­ge­bende Baum in ihrem Hin­ter­hof, in dem Fran­cie jeden Sams­tag sitzt und liest:

„Der eine Baum in Fran­cies Gar­ten war keine Kie­fer und auch keine Hem­lock­tanne. Er hatte spitze Blät­ter an grü­nen Zwei­gen, die vom Ast abstrahl­ten und einen Baum bil­de­ten, der wie viele auf­ge­spannte grüne Schirme aus­sah. Man­che nann­ten ihn den Göt­ter­baum. Gleich, wo seine Samen hin­fie­len, wurde aus ihnen ein Baum, der sich him­mel­wärts mühte.“ (S. 9)

Der Roman beglei­tet Fran­cie von ihrem zwölf­ten bis zu ihrem sieb­zehn­ten Lebens­jahr, wirft aber auch einen Blick in die Ver­gan­gen­heit ihrer Eltern und auf deren Ken­nen­ler­nen. Mit der Zeit kom­men für Fran­cie einige neue Pro­bleme und Wün­sche hinzu, denn sie beginnt, sich für Jun­gen zu inter­es­sie­ren. Doch natür­lich ist die Liebe nie ein­fach, und schon gar nicht, wenn ein Welt­krieg vor der Tür steht. Ihr star­ker Cha­rak­ter und die Liebe zur Lite­ra­tur blei­ben aber Kon­stan­ten der Figur.

Von der Wahr­heit lesen

Fran­cie träumt davon, spä­ter Schrift­stel­le­rin zu wer­den und erzielt an der Schule mit ihren Tex­ten erste Erfolge. Doch ihre Eng­lisch­leh­re­rin hat kein Ver­ständ­nis mehr dafür, dass Fran­cie nach und nach nicht über Blu­men, Som­mer­licht und Schmet­ter­linge schrei­ben möchte, son­dern über Armut, Alko­hol und den Tod – das eben, was sie in ihrem All­tag bewegt. Die Leh­re­rin rät ihr, die Texte zu ver­bren­nen, doch Fran­cie hält dage­gen. Sie ist sich sicher, dass Men­schen lie­ber Geschich­ten über die Wahr­heit lesen.

Und eine eben sol­che ist auch der Roman „Ein Baum wächst in Brook­lyn“, der ein detail­lier­tes Bild vom Leben der Gesell­schafts­schicht zeich­net, in der auch die 1894 gebo­rene Autorin lebte. Wie Fran­cie wuchs sie als Toch­ter von Immi­gran­ten in Brook­lyn auf und musste hart dafür arbei­ten, Kurse am Col­lege besu­chen zu dür­fen. Gut mög­lich also, dass ein Stück von ihr auch in Fran­cies Erleb­nis­sen zu fin­den ist.

„Ein Baum wächst in Brook­lyn“ erschien 1943 und wurde ein Jahr spä­ter für den Pulit­zer Preis nomi­niert. Es ist das Erst­lings­werk der Autorin. Vor der Ver­öf­fent­li­chung der Neu­über­set­zung war der Roman lange nicht auf Deutsch erhält­lich. Schön, dass er nun wie­der gele­sen wer­den kann! Betty Smith erzählt locker und leicht, mit einem fei­nen Gespür für ihre Figu­ren, beob­ach­tet genau und sorgt dafür, dass auch heu­tige Lese­rin­nen und Leser noch mit­fie­bern. Neben­bei lernt man viel über das Ame­rika der 1910er Jahre. Ein Roman mit Sogwirkung!

Ein Baum wächst in Brook­lyn. Betty Smith. Aus dem ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch von Eike Schön­feld. Insel Taschen­buch. 2018.

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