Wie es ist, ein Eisblock zu sein

by Bücherstadt Kurier

Für den Blog zum Lite­ra­tur­fes­ti­val glo­bale° hat sich Stadt­be­su­che­rin Athina Ana­sta­siou mit einem unfass­ba­ren Roman aus­ein­an­der­ge­setzt: „Und es schmilzt“ von Lize Spit. Dank einer Koope­ra­tion zwi­schen der Uni­ver­si­tät Bre­men, der glo­bale° und dem Bücher­stadt Kurier könnt ihr ihre Rezen­sion nun auch bei uns lesen.

Nach neun Jah­ren ent­schei­det sich Eva zum Schau­platz ihrer Ver­gan­gen­heit zurück­zu­keh­ren. Dort­hin, wo sie längst nicht mehr sein wollte: Boven­meer, einer klei­nen Pro­vinz am Rande Bel­gi­ens, wo sie ihre Kind­heit ver­brachte. Mit einem Eis­block im Kof­fer­raum star­tet sie ihre Reise in Bel­gien, fängt immer wie­der Gedan­ken­schnip­sel längst ver­dräng­ter Erin­ne­run­gen auf. Sie han­deln von dem Bund der Freund­schaft, dem auf­re­gends­ten Som­mer ihres Lebens, von all den Ent­täu­schun­gen und Schmer­zen ihrer längst zer­bro­che­nen Familie.

Lize Spit erzählt mit ihrem Debüt­ro­man die Geschichte einer Frau, die uns von den Ereig­nis­sen ihrer trost­los­ten Kind­heit berich­tet. Dabei setzt sie den Stift fest auf, damit kein Detail ihrer Geschichte ver­lo­ren­geht, damit nie­mand von der Kraft ihrer gewal­ti­gen und trotz­dem gna­den­lo­sen Worte ver­schont bleibt.

Den Som­mer ver­bringt Eva mit ihren bes­ten Freun­den, Lau­rens und Pim, die sich sel­ber „Die drei Mus­ke­tiere“ nen­nen. Zwi­schen Scheu­nen, Schup­pen und Fried­hö­fen trei­ben sie sich herum, schmie­den geheime Pläne, schwö­ren, ein­an­der nie­mals in Stich zu las­sen: „Einer für alle, alle für einen.“

Doch dann geschieht das Unaus­sprech­li­che, dem Lize Spit mit dem Mut, der Uner­bitt­lich­keit ihrer Spra­che Nach­hall ver­leiht: „Lau­rens drückt mich mit den Schul­tern auf den Boden, setzt sich mit sei­nem vol­len Gewicht auf mich, quer, das Gesicht zu mir“. Mit eis­kal­ter Prä­zi­sion erzählt sie Evas uner­träg­li­ches Schick­sal und expe­ri­men­tiert mit den Gren­zen der Leser: Wann erreicht sie ihre per­sön­li­che Grenze? Wann hört das Ver­lan­gen, immer mehr und mehr wis­sen zu wol­len, auf? Die Leser wer­den sel­ber zu Zuschau­ern des Gesche­hens, die es nicht ver­mö­gen, die Zeit zu stop­pen, zu hel­fen, zu sagen, dass das doch nur Fik­tion ist.

Am Ende des Romans erfah­ren die Leser, was nach dem Som­mer 2002 von Eva über­ge­blie­ben ist: Ein Eis­block, der zu schmel­zen droht, wenn sie sich wie­der daran erin­nert, ein frü­he­res Ich, Hoff­nun­gen, Wün­sche, Träume gehabt zu haben. Ein Eis­block, der im sel­ben Moment wie­der gefriert, sich besinnt, wes­we­gen es doch bes­ser ist, sich zu ent­schei­den, nie­mand zu sein. Weder Stein noch Eis­block, noch ein Bestand­teil die­ser Welt. Son­dern schlicht und ergrei­fend weni­ger als nie­mand, näm­lich nichts. Kein Teil von ihr wird mehr von Bedeu­tung sein, – wie sie aus­sah, was sie errei­chen wollte, wonach sie strebte, wird keine Rolle mehr spie­len: „Es wird nur noch von Bedeu­tung sein, dass ich hier gestan­den habe, an die­sem ers­ten kal­ten Tag in einem ansons­ten mil­den Winter.“

Lize Spit zwingt einen dazu, ganz genau hin­zu­schauen, nicht weg­zu­gu­cken, sich zu füh­len, als würde beim Lesen der schwarz­k­leb­rige Teer von Evas Ver­gan­gen­heit lang­sam die eigene Haut erset­zen. Man muss ihren Roman lesen, um durch­le­ben zu kön­nen, wie es einem Men­schen geht, der von den Schre­cken des Gewe­se­nen heim­ge­sucht wird.

Und es schmilzt. Lize Spit. S. Fischer Ver­lag. 2017.

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