Wie es zu Ende geht

by Worteweberin Annika

Lie­bes­ge­schich­ten begin­nen in der Lite­ra­tur meis­tens mit dem Ken­nen­ler­nen und enden vor dem Trau­al­tar. Geir Gul­lik­sens „Geschichte einer Ehe“ hin­ge­gen beleuch­tet das Ende einer Liebe, ihre Bruch­stel­len und Schwach­punkte. Worte­we­be­rin Annika hat den Roman gelesen.

Ein Mann erzählt einer Frau von ihrer Ehe, davon, wie sie begann, wie sie ver­lief, wie sie zu Ende ging. Bes­ser gesagt: Er lässt die Frau erzäh­len, begibt sich in die Per­spek­tive des Du, damit beide ver­ste­hen kön­nen, wie es eigent­lich dazu kam.

Als sie sich ken­nen­ler­nen, ist er – Jon – frisch ver­hei­ra­tet, hat bereits ein klei­nes Kind. Doch die neue Liebe schlägt zwi­schen ihm und der ange­hen­den Ärz­tin Timmy ein wie ein Blitz, lässt die alte ver­blas­sen. Jon und Timmy sind sich sicher, dass sie für immer mit­ein­an­der sein woll­ten, dass sie ganz beson­ders sind. Sie orga­ni­sie­ren Beruf, Haus­halt und Kin­der spie­le­risch und fin­den neben­bei noch Zeit für Zwei­sam­keit, für tief­grün­dige Gesprä­che und immer noch knis­tern­den Sex.

Ein ande­rer Mann

Sie sind sich sicher, dass es zwi­schen ihnen immer so blei­ben wird – nun reden sie kaum noch mit­ein­an­der. Es beginnt mit einem ande­ren Mann, einem Nach­barn und Kol­le­gen, der Timmy zum Freund wird. Und damit, dass sich Gewöhn­lich­keit ein­schleicht, die Jon so ver­zwei­felt ver­hin­dern möchte. Wäh­rend er Timmy noch dazu ermu­tigt, sich frei zu füh­len, sich auf den Mann ein­zu­las­sen, da „es ihrer Ehe gut ste­hen würde“, wenn sie es nur will, ver­liebt sie sich ernst­haft in den ande­ren Mann und kann sich bald schon nicht mehr vor­stel­len, wie sie eigent­lich war, die alte Liebe.

„Aber geht es bei der Liebe zwi­schen erwach­se­nen Men­schen nicht auch um die Furcht davor, allein zu leben, darum, sei­ner eige­nen Gesell­schaft zu ent­kom­men, bei­nahe um jeden Preis? Jeman­den zu fin­den, zu dem man nach Hause kom­men kann, auf den man war­tet und Rück­sicht nimmt, in den man hin­ein­horcht, der einen sanft kor­ri­giert? Das Gesicht eines Men­schen zu sehen, der viel­leicht weiß, wer du bist oder wer du nicht bist?“ (S. 98)

„Geschichte einer Ehe“ erzählt von Gefüh­len, vom mensch­li­chen Mit­ein­an­der, von Liebe und Ero­tik. Trotz­dem ist der Roman kein klas­si­scher Lie­bes­ro­man, im Gegen­teil. Genau beob­ach­tend seziert Gul­lik­sen diese Ehe, lässt Jon Ereig­nisse, Ver­mu­tun­gen und Gefühle offen­le­gen und Lese­rin­nen und Leser mit in einen Strom der Melan­cho­lie hin­ab­trei­ben. Von Anfang an ist klar, dass diese Ehe schei­tert, und mit Jon ver­ste­hen auch wir nach und nach, wie es dazu kam, ohne dass alles aus­er­zählt würde.

Die Trüm­mer

Sprach­lich hat mich „Geschichte einer Ehe“ in den Bann gezo­gen, viele Sätze habe ich mar­kiert, um sie erneut zu lesen. Gul­lik­sen erzählt in einer sehr kla­ren Spra­che, aus der die Wun­den her­vor­bre­chen, die die Lie­ben­den ein­an­der zufü­gen. Er lässt viele Leer­stel­len, trans­por­tiert vor allem die schmerz­li­che Stim­mung und kreist um ein­zelne Situationen.

„Bald wer­den die Trüm­mer des Win­ters auf dem Asphalt her­vor­schmel­zen, bald wird alles, was jemand aus Ver­se­hen oder Wut in den Schnee gewor­fen hat, vor allen Augen bloß­ge­legt sein, ein blas­ser, ärm­li­cher und auf­wüh­len­der Anblick.“ (S. 203–204)

„Geschichte einer Ehe“ ist ein Roman, der durch stim­mungs­volle Spra­che und eine inter­es­sante Erzähl­si­tua­tion über­zeugt. Wer über sehr aus­führ­li­che Sex­sze­nen hin­weg­se­hen kann, kann guten Gewis­sens zu die­sem Roman greifen.

Geir Gul­lik­sen hat sich in Skan­di­na­vien schon als Lek­tor und Ver­le­ger einen Namen gemacht. Mit „Geschichte einer Ehe“ (im Ori­gi­nal 2015) schaffte er es als Autor auf die Short­list des Nor­di­schen Lite­ra­tur­prei­ses. Dass der Roman nun auf Deutsch zu lesen ist, ver­dankt sich auch der För­de­rung durch NORLA (Nor­we­gian Lite­ra­ture Abroad), denn Nor­we­gen ist Gast­land der Frank­fur­ter Buch­messe 2019.

Geschichte einer Ehe. Geir Gul­lik­sen. Aus dem Nor­we­gi­schen von Ursel Allen­stein. Luch­ter­hand. 2019.

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