Wie heute – und jeden Tag

by Zeichensetzerin Alexa

„Jeder Tag wie heute“ heißt der Debüt­ro­man von Ron Segal, erschie­nen 2014 im Wall­stein Ver­lag. Bereits beim Betrach­ten des Covers wird ein unstim­mi­ges Gefühl her­vor­ge­ru­fen: Die kaput­ten Sai­ten der Harfe sowie die Wahl von Rot und Schwarz als Leit­far­ben, erwe­cken den Ein­druck, dass sich viel mehr hin­ter dem Titel ver­birgt als es der Anschein erweckt. – Von Zei­chen­set­ze­rin Alexa

Jeder Tag wie heuteErin­ne­run­gen festhalten

Adam Schu­ma­cher kehrt als Holo­caust-Über­le­ben­der und israe­li­scher Schrift­stel­ler nach Deutsch­land zurück. Hier will er seine Erin­ne­run­gen für ein Lite­ra­tur­ma­ga­zin nie­der­schrei­ben. Doch schon bald muss er mer­ken, wie ihn sein Gedächt­nis immer mehr im Stich lässt. Er ver­gisst Dinge, die er bereits erle­digt oder gesagt hat. Seine Erin­ne­run­gen ver­blas­sen ste­tig und ver­mi­schen sich mit sei­ner Fan­ta­sie. Hat er das wirk­lich erlebt oder spielt ihm sein Gedächt­nis einen Streich? Die Zeit drängt – das spürt Adam, und des­halb bemüht er sich, seine Lebens­ge­schichte und jene sei­ner Frau Bella für die Nach­welt aufzuschreiben.

„Ich werde, wie man es von mir erwar­tet, nicht mit dem Anfang begin­nen.“ (S. 10)

Der Auf­bau des Romans in Pro­log, Kapi­tel und Epi­log hat den Anschein einer struk­tu­rier­ten Geschichte. Adams Art, seine Geschichte zu erzäh­len, gleicht aller­dings kei­ner Dra­ma­tur­gie mit Anfang-Mitte-Ende. Viel­mehr setzt sich der nur 137 Sei­ten lange Roman wie ein lite­ra­ri­sches Puz­zle zusam­men: Erin­ne­run­gen und gegen­wär­tige Hand­lun­gen wech­seln sich ab, flie­ßen nicht sel­ten inein­an­der und erge­ben erst zum Ende hin ein schwach erkenn­ba­res Bild. Aber selbst dann bleibt die eine oder andere Frage unge­löst, das Puz­zle hat einige Lücken, wie jene im Gedächt­nis eines an Alz­hei­mer erkrank­ten Man­nes. Diese Lücken for­dern gera­dezu auf, eigen­stän­dig wei­ter­zu­den­ken und im Roman zurück­zu­blät­tern. Für die Leser bleibt das Gefühl zurück, etwas über­se­hen zu haben; hier eine Bemer­kung, da eine Andeu­tung. Was bleibt, ist das Bedürf­nis, den Roman aber­mals zu lesen und zwi­schen die Zei­len zu blicken.

Fik­tion oder Realität?

Im Pro­log berei­tet der Erzäh­ler seine Leser auf eine Geschichte vor, die auf rea­len Ereig­nis­sen beruht. Doch nur wenige Zei­len spä­ter gibt er zu: „Auch in mei­nem Fall sag­ten so einige, man könne nicht wis­sen, was mir gesche­hen sei, denn die Zeu­gen­aus­sa­gen seien nicht weni­ger ‚unscharf‘ als Hun­dert­tau­sende Bil­der von Göt­tern und Unge­heu­ern, und sehr wahr­schein­lich hätte ich eine ima­gi­näre Wirk­lich­keit erlebt, […].“ (S. 8) Die Frage, die sich hier­bei stellt, ist weni­ger, ob die Geschichte tat­säch­lich so gesche­hen ist, son­dern viel­mehr, inwie­weit sie mit fik­ti­ven Ereig­nis­sen aus­ge­schmückt wurde – und ob die „unschar­fen“ Zeu­gen­aus­sa­gen nicht etwa auf die sub­jek­tive Wahr­neh­mung zurück­zu­füh­ren sind.

Die Kate­go­rie „Roman“ lässt jedoch aus­rei­chend Spiel­raum, sowohl für den Autor als auch für die Inter­pre­ta­tion der Leser. Letzt­end­lich ent­schei­det jeder für sich, was er glaubt oder glaubt zu wis­sen oder für sich mit­neh­men will. Der Roman bie­tet den ein oder ande­ren inter­es­san­ten Gedan­ken, der sich – unab­hän­gig vom Wahr­heits­an­spruch – als Impuls zum Wei­ter­den­ken auf­grei­fen lässt.

Aus­ge­schmückt: Legen­den, Mär­chen, Lyrik

Wenn es darum geht, Erklä­run­gen oder Beschrei­bun­gen zu fin­den, bedient sich der Autor aus­ge­wähl­ter Legen­den, Mythen und Mär­chen. Es sind Geschich­ten in Geschich­ten, die die­sen Roman schmü­cken, Bil­der erzeu­gen, wo sonst Farbe gefehlt hätte oder gar ein wenig Leben. So fin­den sich hier unter ande­rem Andeu­tun­gen auf die Gebrü­der Grimm und deren Mär­chen „Vom Fischer und sei­ner Frau“: Damit ein Wun­der gesche­hen kann, muss Bella zu einem Gold­fisch spre­chen. Tat­säch­lich scheint die­ser ihren Wunsch erhört zu haben. Denn nur wenige Tage spä­ter erhält sie eine kleine Harfe. Diese Inter­tex­tua­li­tät sowie die Ver­wen­dung von lyri­schen Ver­sen ermög­li­chen einen ande­ren Zugang zum Werk und des­sen Thematik.

Holo­caust – Reflexion?

Die Holo­caust-Erin­ne­rungs­kul­tur erfolgt unter Berück­sich­ti­gung unter­schied­li­cher Medien. Viele Bücher und Filme erzäh­len Geschich­ten von Juden, die dem Natio­nal­so­zia­lis­mus zum Opfer gefal­len sind. Doch wäh­rend Werke wie „Komö­die in Moll“ (Hans Keil­son) und „Jeder stirbt für sich allein“ (Hans Fal­lada) den Holo­caust kon­kret the­ma­ti­sie­ren, schwingt die­ser in „Jeder Tag wie heute“ nur unter­schwel­lig mit. Im Zen­trum steht hier die Lebens- und Lie­bes­ge­schichte Adams. Dass er Jude ist, spielt für ihn nur eine zweit­ran­gige Rolle: „Ich ver­su­che sicher nicht, mei­ner Iden­ti­tät oder mei­ner Ver­gan­gen­heit zu ent­flie­hen, aber was denn – wenn ich nun kein Jude wäre, wäre ich dann kein wich­ti­ger Schrift­stel­ler?“ (S. 88)

Unver­ges­sen

„Jeder Tag wie heute“ ist ein ruhi­ger Roman, vol­ler Sym­bo­lik und tief­grün­di­ger Gedan­ken. Auf nur 137 Sei­ten erschafft Ron Segal eine Welt, die zwi­schen Rea­li­tät und Fik­tion schwingt. Eine, in der Mär­chen und Mythen ebenso Bedeu­tung erfah­ren wie Poe­sie. Und nur ganz neben­bei – voll­kom­men unauf­dring­lich – trägt die­ser Roman dazu bei, dass ver­gan­gene Ereig­nisse nicht ver­ges­sen werden.

Jeder Tag wie heute. Ron Segal. Aus dem Hebräi­schen von Ruth Ach­lama. Wall­stein Ver­lag. 2014.

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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Bücherstadt Kurier 11. November 2017 - 13:01

[…] Wie heu­te – und je­den Tag […]

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