Wie kann man Jugendlichen Basiswissen zum Thema „Flucht und Integration“ vermitteln?

by Bücherstädterin Rosi

Kein Tag ver­geht ohne Bericht­erstat­tung zum Thema Flücht­linge – und diese wirft viele Fra­gen auf: Warum ver­las­sen so viele Men­schen ihre Hei­mat? Woher kom­men sie? Wie ergeht es ihnen in Deutsch­land? Was ist Inte­gra­tion? Und was hat das alles mit mir zu tun? Buch­schatz­meis­te­rin Rosi ver­sucht anhand des Buches „Nach­ge­fragt: Flucht und Inte­gra­tion“ nicht nur die Fak­ten zu ken­nen, son­dern auch die Zusam­men­hänge zu verstehen.

Stell dir vor, in dei­nem Stadt­vier­tel treibt eine Bande von üblen Schlä­gern ihr Unwe­sen. Um zur Schule oder zur Arbeit zu kom­men, musst du Umwege in Kauf neh­men, um der bru­ta­len Gang aus dem Weg zu gehen. Irgend­wann kannst du aus Angst vor den mie­sen Ker­len nachts nicht mehr schla­fen. Und schließ­lich ziehst du in eine neue Wohn­ge­gend, weg von allem, was dir ver­traut ist, weg von dei­nen Freunden.

Mit einer sol­chen Beschrei­bung beginnt Chris­tine Schulz-Reiss ihr Buch „Nach­ge­fragt: Flucht und Inte­gra­tion – Basis­wis­sen zum Mit­re­den“, erschie­nen 2016 im Loewe-Ver­lag. Sie ver­gleicht die Situa­tion von Flücht­lin­gen mit die­ser Beschrei­bung. Kin­der und Jugend­li­che wis­sen viel­leicht aus eige­ner Erfah­rung, wie es ist, von ein paar weni­gen Schlä­gern drang­sa­liert zu wer­den, große Angst zu haben und schließ­lich die ver­traute Wohn­ge­gend und Freunde auf­ge­ben zu müs­sen, weil die Fami­lie weg­zieht, um Ruhe vor der Gang zu fin­den. Durch die sehr plas­ti­sche Beschrei­bung kön­nen die jun­gen Leser die Situa­tion und das Emp­fin­den von Men­schen bei­spiels­weise in Syrien deut­lich nach­emp­fin­den. Unter­mau­ert wird deren schreck­li­che Situa­tion durch Fotos von zer­bomb­ten und zer­stör­ten Städ­ten in dem vom Krieg gebeu­tel­ten Land.

Klare Spra­che, prä­zise Inhalte

Flucht und Ver­trei­bung gab es schon immer. Dar­über wird schon in der Bibel berich­tet, als die Israe­li­ten wegen einer gro­ßen Dürre in ihrer Hei­mat nach Ägyp­ten flie­hen (damit sind sie die ers­ten „Wirt­schafts­flücht­linge“) oder wenn Jesus und seine Anhän­ger ver­folgt wer­den, weil sie die jüdi­sche Bibel anders aus­le­gen als die Gelehr­ten. Auch heute noch wer­den Men­schen wegen ihres Glau­bens verfolgt.

Ganze Völ­ker flo­hen bei­spiels­weise vor der Pest oder der Armut. Beson­ders tra­gisch ist die Geschichte der Juden, die von ihren Anfän­gen bis zur Mas­sen­ver­nich­tung im Drit­ten Reich auf­ge­zeigt wird. Es gibt noch wei­tere Bei­spiele bis hin zu den Men­schen, die die inner­deut­sche Mauer und damit das Régime der ehe­ma­li­gen DDR über­win­den woll­ten. Schulz-Reiss gibt einen sehr schö­nen und prä­zi­sen his­to­ri­schen Abriss zum Thema „Flucht und Vertreibung“.

Beson­ders gelun­gen finde ich das zweite Kapi­tel „Woher und warum?“. Hier beschreibt die Autorin in einer kla­ren Spra­che die wich­tigs­ten Her­kunfts­län­der der Flücht­linge, wie es dort zu krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen kam, was die Men­schen dort erlei­den müs­sen. So man­ches Aha-Erleb­nis ist dabei: Wer weiß schon, wie es zum Bür­ger­krieg in Syrien kam? Ich wusste das vor­her nicht. Und wie mir ging es auch eini­gen Men­schen in mei­nem Umfeld.

Auch die Berichte über einige der gefähr­lichs­ten Flucht­rou­ten der Erde – und damit sind nicht nur die Wege nach Europa gemeint – sind infor­ma­tiv und span­nend zu lesen. Schließ­lich gibt es nicht nur in unse­rem Teil der Welt große Flücht­lings­ströme. Betrof­fen ist bei­spiels­weise auch der ame­ri­ka­ni­sche Kon­ti­nent. Seit Jah­ren flüch­ten viele Men­schen aus Mit­tel­ame­rika über sehr gefähr­li­che Rou­ten in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, in der Hoff­nung, dort ein bes­se­res Leben zu finden.

Chris­tine Schulz-Reiss erklärt sehr ein­drucks­voll die Ursa­chen für die Nöte und Kon­flikte in so vie­len Staa­ten. Oft­mals haben diese ihren Ursprung in der Kolo­ni­al­zeit, von deren Aus­beu­tung durch die Kolo­ni­al­mächte sich viele afri­ka­ni­sche Län­der bis heute nicht erholt haben. Auch reli­giös moti­vierte Aus­ein­an­der­set­zun­gen, die Gier eini­ger weni­ger nach Boden­schät­zen und dem Land armer Bau­ern sowie der Kli­ma­wan­del las­sen viele Men­schen auf die Suche nach einer neuen Hei­mat gehen.

Warum fällt es uns so schwer, Men­schen aus ande­ren Län­dern bei uns aufzunehmen?

Die Deut­schen haben Pro­bleme damit, Men­schen aus ande­ren Län­dern zu inte­grie­ren. Das zei­gen schon Begriffe wie „Migran­ten“ oder „Per­so­nen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund“, die Behör­den, Poli­ti­ker oder Medien so gerne verwenden.

Ein ganz beson­ders unrühm­li­ches Kapi­tel in die­sem Sinne sind die „Gast­ar­bei­ter“, die deut­sche Fir­men wäh­rend der 1950er und 1960er Jah­ren in Ita­lien, Grie­chen­land, Por­tu­gal, Jugo­sla­wien und ande­ren Län­dern anwar­ben, weil es nach dem Zwei­ten Welt­krieg in Deutsch­land nicht genug Arbei­ter für die viele Arbeit gab. Mit den Gast­ar­bei­tern gin­gen die Deut­schen nicht gut um: Sie muss­ten in schä­bi­gen Wohn­hei­men hau­sen, weil Woh­nungs­ei­gen­tü­mer nicht an sie ver­mie­ten woll­ten; als Nach­barn wollte kei­ner diese Men­schen haben. Mitte der 1970er Jahre wur­den die Gast­ar­bei­ter dann wie­der in ihre Hei­mat geschickt, weil es in Deutsch­land auf ein­mal nicht mehr genug Arbeit gab. Die­je­ni­gen, die blie­ben, hol­ten ihre Fami­lien nach und erle­dig­ten die Arbei­ten, für die sich keine Deut­schen fan­den: zum Bei­spiel bei der Müllabfuhr.

Auch heute gibt es Sai­son- oder Wan­der­ar­bei­ter, die nach Deutsch­land kom­men, um dort zu arbei­ten, wo kaum ein Deut­scher arbei­ten will; hier sind vor allem die Land­wirt­schaft und die Vieh­schlach­te­rei zu nen­nen. Für diese Wan­der­ar­bei­ter ist es die ein­zige Mög­lich­keit, genü­gend Geld für den Unter­halt ihrer Fami­lien zu ver­die­nen. Dafür zah­len sie einen hohen Preis, indem sie für Monate von ihren Fami­lien getrennt sind.

Doch zurück zu den Flücht­lin­gen. In Arti­kel 16a des deut­schen Grund­ge­set­zes wird jedem poli­tisch Ver­folg­ten Asyl ein­ge­räumt. Doch wer ist ein poli­tisch Ver­folg­ter und wer nicht? Das Recht auf Asyl wurde in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer wie­der geän­dert und sogar ver­schärft. Flücht­linge aus soge­nann­ten „siche­ren Her­kunfts­län­dern“ haben kei­nen Anspruch auf Asyl und dür­fen abge­scho­ben wer­den. Chris­tine Schulz-Reiss macht die Schwam­mig­keit des Asyl­rechts deut­lich. Zudem erklärt sie ein­leuch­tend den Ablauf des Asylverfahrens.

Schließ­lich beschreibt das Buch die Ent­ste­hung von Vor­ur­tei­len und Frem­den­hass. Es geht auch auf die Grup­pie­run­gen ein, die Frem­den­feind­lich­keit gegen Flücht­linge schü­ren und pro­pa­gie­ren, manch­mal sogar aus­le­ben, indem sie bei­spiels­weise Brand­an­schläge auf Flücht­lings­un­ter­künfte aus­üben oder Flücht­lings­kin­dern einen Teddy mit durch­schnit­te­ner Kehle vor die Woh­nungs­tür legen. Immer wie­der ver­brei­ten sie auch Unwahr­hei­ten, wie die, dass alle Flücht­linge kri­mi­nell seien. Dabei zeigt die poli­zei­li­che Kri­mi­nal­sta­tis­tik, dass die Zahl der Straf­ta­ten von Flücht­lin­gen ver­schwin­dend gering ist.

Abschlie­ßend ver­deut­licht das Buch die Bedeu­tung von Inte­gra­tion und wie wich­tig es für uns Deut­sche ist, auf Men­schen aus ande­ren Kul­tu­ren zuzu­ge­hen und diese so wie sie sind bei uns auf­zu­neh­men. Wir kön­nen dar­aus neues Wis­sen und neue Impulse zie­hen, denn ein gutes Mit­ein­an­der beruht auf gegen­sei­ti­gem Respekt.

Ein Fazit

Chris­tine Schulz-Reiss‘ Buch „Nach­ge­fragt: Flucht und Inte­gra­tion“ ist für Jugend­li­che ab 12 Jah­ren geeig­net. Es will ihnen erklä­ren, warum der­zeit so viele Men­schen auf der Flucht sind und woher sie flüch­ten. Diese Auf­gabe löst Schulz-Reiss in einer für Jugend­li­che die­ser Alters­stufe sehr gut geeig­ne­ten Art, in ein­fa­cher und leicht ver­ständ­li­cher Spra­che. Unter­malt und bild­haft ver­deut­licht wird der Inhalt mit – eben­falls alters­ge­rech­ten – Zeich­nun­gen und Fotos. Wei­ter­füh­rende Infor­ma­tio­nen und Erklä­run­gen fin­den sich far­big abge­setzt an den Sei­ten­rän­dern, eben­falls leicht ver­ständ­lich dargebracht.
Das Buch ist in acht Kapi­tel geglie­dert. Jedes Kapi­tel beginnt mit einer Frage, die den Inhalt ver­deut­licht. Dann fol­gen ein klei­ner Ein­lei­tungs­text und schließ­lich der Haupt­text. An den Sei­ten fin­den sich immer wie­der Erläu­te­run­gen und Anmer­kun­gen, die das Thema noch ver­deut­li­chen oder schwie­rige Begriffe erklä­ren. So ist es dem Leser mög­lich, selek­tiv zu lesen – also nur das, was ihn auch interessiert.

Hin und wie­der kann man nette Anek­do­ten lesen, bei­spiels­weise dass der Fami­li­en­name unse­res Innen­mi­nis­ters Tho­mas de Mai­zière von sei­ner Vor­fah­rin Marie stammt, die im 17. Jahr­hun­dert als Huge­not­tin aus Frank­reich nach Deutsch­land floh. Marie kam aus Metz – daher der Name „de Maizière“.
Beruf­lich bin ich selbst in der Arbeit mit Flücht­lin­gen tätig. Viele Fra­gen tau­chen auf, viele Vor­ur­teile gegen­ein­an­der bestehen. Dies war für mich der Grund, mich mit die­sem Buch zu beschäf­ti­gen. Durch die Lek­türe kann ich bis­her unklare Zusam­men­hänge ver­ste­hen, und ich habe auch Neues erfahren.

Alles in allem hat Chris­tine Schulz-Reiss ein sehr lesens­wer­tes Buch ver­fasst, das den kom­pli­zier­ten und sehr kom­ple­xen Sach­ver­halt der welt­wei­ten Flücht­lings­be­we­gun­gen klar struk­tu­riert und sprach­lich leicht ver­ständ­lich erklärt. Damit ist „Nach­ge­fragt: Flucht und Inte­gra­tion“ für Jugend­li­che ab 12 Jah­ren geeig­net, die einen leicht ver­ständ­li­chen und kur­zen Ein­stieg ins Thema bekom­men wollen.

Nach­ge­fragt: Flucht und Inte­gra­tion – Basis­wis­sen zum Mit­re­den. Chris­tine Schulz-Reiss. Loewe. 2016.

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