Wintergeist #litadvent

by Geschichtenerzähler Adrian

Auf die Frage, ob sie sich als Kind ebenso auf den Weih­nachts­mann gefreut hat, ant­wor­tete ihre Oma: Der Weih­nachts­mann war für die Rei­chen, für uns war der Wald. Damals hat Anja das nicht ver­stan­den, doch mehr wollte ihre Oma nicht verraten.
Als ihre Oma ver­stor­ben ist, hin­ter­ließ sie Anja einen Brief­um­schlag, mit der Bedin­gung, ihn erst an einem vier­ten Advent zu öff­nen. Trotz ihrer nagen­den Neu­gier hat sich Anja daran gehal­ten und liest den Brief an jenem Tag mit zit­tern­den Händen:

Meine liebe Anja,
du hast du mich gefragt, ob ich mich als Kind eben­falls auf den Weih­nachts­mann gefreut habe. Der Weih­nachts­mann war damals nur für die rei­chen Kin­der und wir waren nicht reich, also werde ich dir zei­gen, wer mir die Geschenke gebracht hat. Geh am Tag vor Hei­lig­abend um Schlag fünf in den nächs­ten Wald und …

Gerade ist der erste Glo­cken­schlag ver­klun­gen, da hat Anja auch schon die Grenze zu dem klei­nen Wald über­schrit­ten. Der Schnee steht ihr bis über die Schien­beine, sodass das Lau­fen müh­sam ist. Der kalte Dezem­ber­wind heult zwi­schen den Bäu­men und lässt Anja frös­teln. Sie zieht ihre Mütze mit dem lachen­den Kak­tus tie­fer ins Gesicht und kämpft sich voran, weiße Atem­wol­ken stei­gen von ihr auf. Immer geradeaus.
Sie läuft bei­nah schon eine Vier­tel­stunde, da kom­men die ers­ten Zwei­fel. War der Brief doch nur ein Märchen?
Es ver­ge­hen wei­tere fünf Minu­ten und gerade will Anja umkeh­ren, da erkennt sie zwi­schen den Bäu­men einen Ort aus dem Brief wie­der: ein von fünf Bäu­men umring­ter Bereich, in des­sen Mitte ein Gefäß steht. Auch wenn der Ort, abge­se­hen vom Gefäß, dem sons­ti­gen Wald zu glei­chen scheint, umgibt ihn eine andere Atmo­sphäre: mys­ti­scher … unheimlicher.
Anja zögert kurz, doch schließ­lich obsiegt die Neu­gier über die Furcht.
Sie hält die Luft an, als sie den Baum­kreis durch­schrei­tet und sofort umfängt sie eine ange­nehme Wärme.
Schnell setzt Anja den Ruck­sack ab und zieht dar­aus eine Plas­tik­tüte, eine Keks­dose und eine Glas­fla­sche mit einer roten Flüs­sig­keit her­vor. Aus der Plas­tik­tüte zieht sie ein Kanin­chen, das bereits gehäu­tet und aus­ge­nom­men ist und legt es neben die Dose und die Fla­sche auf den Waldboden.
Noch ein­mal tief durch­at­mend stellt sich Anja vor das Gefäß, einen roten Eimer, des­sen eins­tige Farbe sie nur noch erah­nen kann. Mit einem Stück Zei­chen­kohle malt sie sich ein Kreuz auf die Stirn und beide Hand­rü­cken, dann packt sie das Kanin­chen an den Hinterläufen.

Sprich: Dies ist mein Geschenk an dich für dein Geschenk an mich.

Anja lässt das Kanin­chen in den Eimer fal­len, öff­net die Keks­dose, wirft die selbst­ge­mach­ten Plätz­chen hin­ter­her und leert den Inhalt der Fla­sche in das Gefäß. Dann dreht sie ihm den Rücken zu, blickt in Rich­tung des Baumkreises.
Sie tritt vor den ers­ten Baum und flüs­tert, wie im Brief steht: Der Tisch ist gedeckt. Sie klopft zwei Mal auf das Holz und geht zum nächs­ten Baum. Dort zitiert Anja wei­ter: Ich lade dich ein. Wie­der zwei­mal klopfen.
Abwech­selnd wie­der­holt Anja die bei­den Sätze bei jedem der fünf Bäume, die die Lich­tung säu­men, und kniet sich dann vor den roten Eimer. Ein letz­tes Mal flüs­tert sie den zwei­ten Satz, nur die­ses Mal lauter.
Mit jedem Klop­fen ist es käl­ter gewor­den und Anja kann ihren Atem wie­der sehen. Mit der Kälte kehrt auch der Wind zurück, nur anstatt zu wehen tanzt er jetzt. In die­sen Tanz stimmt etwas mit ein, was nicht der Wind zu sein scheint. Ein Geist?
Anja kommt die War­nung aus dem Brief in den Sinn: Sprich nicht mit ihm!
Als Anja hör­bar aus­at­met, wird das Wesen auf sie auf­merk­sam. Es spricht, wäh­rend es um sie her­um­tanzt. Mal klingt es näher, mal wei­ter weg. Es stellt Fra­gen und äußert Ver­mu­tun­gen. Ob sie denn wisse, was sie hier tue. Gleich dar­auf: dass sie es bestimmt nicht wisse.
Nach eini­gen Momen­ten schweigt der Geist und selbst der Wald scheint mit ihm zu schwei­gen. Anja spürt, dass das Wesen ihr nun gegen­über­steht, denn sie fühlt sei­nen erwar­tungs­vol­len Blick.

Er muss dich um dei­nen Wunsch bitten!

Anja hält dem Blick stand, bis der Geist auf­gibt und sie nach ihrem Wunsch fragt. Ohne etwas zu sagen, zieht Anja ein Stück wei­ßes Lein­tuch aus der Jacken­ta­sche: Dar­auf sind ihr Wunsch und ein gefor­der­ter Trop­fen Blut. Sie wirft es in den Eimer und wartet.
Anja hört das zufrie­dene Schmun­zeln, als der Geist sie lobt und sich bedankt. Dar­auf­hin been­det der Wind sei­nen Tanz.
Ein Kna­cken ertönt, wel­ches in Anja die Vor­stel­lung aus­löst, als würde sie auf dün­nem Eis über einen zuge­fro­re­nen See lau­fen. Erst als die­ses Geräusch ver­klingt, fällt all die Anspan­nung von Anja ab und sie erhebt sich. Schwei­gend packt sie ihre Sachen, reibt sich die Koh­le­kreuze ab und ver­lässt den Baum­kreis. Mitt­ler­weile schneit es und Anja lächelt auf dem Weg nach Hause zufrieden.

Text: Geschich­ten­er­zäh­ler Adrian
Illus­tra­tio­nen: Geschich­ten­zeich­ne­rin Celina

Ein CLUE-Bei­trag zum Spe­cial #lit­ad­vent. In die­sem Jahr haben wir vier Clues vor­ge­ge­ben, die in den krea­ti­ven Tex­ten auf­tau­chen soll­ten: Schlag, auf dün­nem Eis, Kak­tus, roter Eimer. Was sich die AutorIn­nen aus­ge­dacht haben, könnt ihr an den Advents-Wochen­en­den hier in der Bücher­stadt erfah­ren. Anhand die­ser Illus­tra­tion, gestal­tet von Sei­ten­künst­ler Aaron, erkennt ihr alle CLUE-Texte.

Zwi­schen den Wochen­en­den erwar­ten euch u.a. Buch- und Film­tipps zur Win­ter- und Advents­zeit und einige span­nende Buch­ver­lo­sun­gen. Hier wer­den alle Bei­träge zum #lit­ad­vent gesam­melt. Wir wün­schen allen eine besinn­li­che, ruhige Advents­zeit und viel Freude beim Lesen!

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