Zu Recht nominiert: „Das Sandkorn“

by Buchstaplerin Maike

Zwi­schen all den Neu­erschei­nun­gen zum Ers­ten Welt­krieg, die die Tische der Buch­hand­lun­gen bede­cken, darf man nicht die­je­ni­gen ver­nach­läs­si­gen, die fernab der Schüt­zen­grä­ben spie­len, son­dern in einer Welt vol­ler Ästhe­tik und gefähr­li­cher Gefühle. So wie Chris­toph Poschen­rie­ders „Das Sand­korn“. – Von Buch­stap­le­rin Maike

„Denn ver­däch­tig ist er durch das, was er tut; selbst wenn es nicht ver­bo­ten sein sollte.“

Ber­lin, 1915: Es ist Krieg, und der junge Kunst­his­to­ri­ker Jacob Tol­meyn wan­dert durch die Haupt­stadt, um ita­lie­ni­schen Sand aus­zu­streuen. Keine Straf­tat, aber ver­däch­tig, und so wird er von Kom­mis­sar Trep­tow ver­nom­men. Tol­meyn beginnt, die Vor­ge­schichte zu sei­nem rät­sel­haf­ten Ver­hal­ten aus­zu­brei­ten, und immer mehr ver­schwim­men die Zei­ten und was Wahr­heit und Lüge ist. Denn eigent­lich sollte Tol­meyn im vori­gen Jahr eine aus­ge­dehnte For­schungs­reise in Süd­ita­lien unter­neh­men, bei der er nicht nur begon­nen hat, Sand als Erin­ne­rung ein­zu­ste­cken, son­dern sich auch in sei­nen Kol­le­gen Beat ver­liebt. In Deutsch­land ist Homo­se­xua­li­tät zu die­ser Zeit ein Ver­bre­chen, das nicht ans Licht kom­men darf, und so ist Tol­meyn froh, den Spu­ren Fried­rich II. in Apu­lien nach­zu­ge­hen. Noch kom­pli­zier­ter wird es für ihn, als eine junge Frau, Leti­zia, zu den For­schern stößt und damit eine span­nungs­ge­la­dene Drei­ecks­be­zie­hung entsteht.

„Der Feh­ler ist zu glau­ben, dass Men­schen, die viel erzäh­len, alles erzäh­len: Das ist genauso wenig wahr wie die Annahme, dass Men­schen, die wenig sagen, viel verschweigen.“

Die Hand­lung wird über drei Erzähl­stränge getra­gen – durch den Rei­se­be­richt Tol­meyns, das Ver­hör in Ber­lin und Trep­tows Memoi­ren – und es wird schnell klar, dass beide Män­ner ein­an­der ver­schwei­gen, wie viel sie wis­sen: Ein Spiel mit der Wahr­heit, die fast an ein Kam­mer­spiel den­ken lässt. Der Leser weiß immer mehr als die bei­den Haupt­fi­gu­ren und fie­bert den­noch mit, was gesche­hen wird. Das liegt vor allem an dem beson­de­ren Auf­bau der Geschichte. Über drei Zei­ten hin­weg liest sie sich homo­gen, nie kommt das Gefühl auf, unter­bro­chen zu wer­den, wenn der Erzähl­strang wech­selt; viel­mehr wer­den Fra­gen beant­wor­tet und neue Span­nungs­fel­der geöff­net. Gleich­zei­tig wird, fast neben­bei, ein nicht ermü­den­des Bild von der Zeit gemalt, die zwi­schen poli­ti­schen Umbrü­chen und dem bri­san­ten Thema des Para­gra­phen 175 chan­giert – man fällt naht­los in die skiz­zierte Welt.

Beson­ders inter­es­sant ist das Motiv des San­des, das sich von vorn bis hin­ten durch das Buch zieht. In allen Aus­prä­gun­gen tritt der Sand als Meta­pher für das Leben und die Men­schen ein. Wäh­rend sich Tol­meyn sei­nen Unter­su­chun­gen zu den klei­nen Kör­nern wid­met, beginnt auch der Leser über den Zusam­men­hang von Groß und Klein nachzudenken.

„Wis­sen Sie“, sagt er, „dass jedes Sand­korn ein Gesicht hat?“

Die Spra­che ist sinn­lich und flie­ßend und arbei­tet mit wun­der­schö­nen syn­äs­the­ti­schen Bil­dern, die den Leser gefan­gen neh­men und wech­selnd ins para­die­si­sche Ita­lien und ins graue Ber­lin ent­füh­ren. Sie ist wie Treib­sand; lässt man sich auf die glat­ten, künst­le­ri­schen Sätze ein, wird man mit­ge­ris­sen – sträubt man sich und will es grob, fin­det man kei­nen Zugang.

Poschen­rie­der kre­iert dar­über hin­aus eine unglaub­li­che Nähe zu Tol­meyn, sodass man fast gezwun­gen ist, sich mit sei­ner leicht welt­frem­den, leicht exzen­tri­schen Art anzu­freun­den und mit ihm zu zwei­feln, ob seine Liebe zu sei­nem Kol­le­gen erwi­dert wird. Vor allem, da Leti­zia erst nach gut zwei Drit­teln des Buches ein­ge­führt wird und Tol­meyn, und damit auch dem Leser, zunächst ein Korn im Auge ist – durch ihre Dar­stel­lung als Frau­en­recht­le­rin und Sand im Getriebe wird die­ser Ein­druck aber schnell abgemildert.

Fazit: „Das Sand­korn“ von Chris­toph Poschen­rie­der schafft es, aus den Büchern über den Ers­ten Welt­krieg durch seine Spra­che und den ein­fühl­sa­men Inhalt her­vor­zu­ste­chen. Die poli­ti­schen Ereig­nisse wer­den aus einer ande­ren Per­spek­tive geschil­dert und neh­men, durch die Augen Tol­meyns, eine bit­ter­süße Fär­bung an. Wie bei der Mischung vom Sand ver­schie­de­ner Orte gelingt eine Ver­schmel­zung von Rei­se­be­richt, Lie­bes­ge­schichte, Krimi und (Anti-)Kriegsroman, die lange nach­klingt. Nicht umsonst wurde „Das Sand­korn“ für den Deut­schen Buch­preis 2014 nomi­niert. Ich würde dem Titel den Sprung auf die Short­list wünschen.

Das Sand­korn. Chris­toph Poschen­rie­der. Dio­ge­nes. 2014.

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2 comments

amethyststurm 4. September 2014 - 19:04

Hat dies auf ame­thyst­sturm reb­loggt und kommentierte:
Wie ver­spro­chen – meine voll­stän­dige Rezen­sion zu einem Buch, das ich nur emp­feh­len kann.

Reply
Zwei Rezensionsankündigungen und ein Teaser | amethyststurm 4. September 2014 - 19:42

[…] Rezen­sio­nen dort erschei­nen – zu Poschen­rie­ders “Das Sand­korn” jetzt auf der Web­site, zu Fians “Das Poly­kra­tes-Syn­drom” in der Zeit­schrift, die am 1. Sep­tem­ber 2014 […]

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