„Zugrund – das heisst zum Meer“ – Böhmen liegt am Meer?

by Wortklauberin Erika

Hans Höl­ler und Arturo Lar­cati gelingt mit „Win­ter­reise nach Prag“ ein gelun­ge­ner Aus­blick auf die Salz­bur­ger Bach­mann-Gesamt­aus­gabe: Wort­klau­be­rin Erika ver­folgt mit ihnen die Spu­ren von Inge­borg Bach­manns Rei­sen im Jahr 1964.

„Zugrund – das heisst zum Meer, dort find ich Böh­men wie­der.“ („Böh­men liegt am Meer“, S. 17)

Im Jahr 1964 reist die öster­rei­chi­sche Autorin Inge­borg Bach­mann in Beglei­tung von Hans Opel nach Prag. 1962 erklärte sie, ihr fehle der Zwang, den sie als eine Grund­vor­aus­set­zung für das Schrei­ben emp­fand. „Es werde erst wie­der Gedichte geben, wenn es ‚Gedichte sein müs­sen und nur Gedichte, so neu, daß sie allem seit­her Erfah­re­nen wirk­lich ent­spre­chen.‘“ (S. 53) Hier, zwei Jahre spä­ter im win­ter­li­chen Prag, ent­steht das Gedicht, wel­ches die Dich­te­rin als ihr letz­tes und schöns­tes bezeich­nen wird: Tat­säch­lich schreibt sie nach „Böh­men liegt am Meer“ keine wei­te­ren Gedichte mehr.

Hans Höl­ler und Arturo Lar­cati grei­fen die Gedichte, die wäh­rend die­ser Reise ent­stan­den sind, auf und lesen sie erst­mals zusam­men als „Win­ter­reise-Zyklus“. Von den sie­ben Gedich­ten – „Enigma“, „Prag Jän­ner 64“, „Böh­men liegt am Meer“, „Wen­zels­platz“, „Jüdi­scher Fried­hof“, „Poli­kli­nik Prag“ und „Heim­kehr über Prag“ – wur­den nur drei zu Leb­zei­ten der Autorin ver­öf­fent­licht. Wohl auch des­halb wur­den sie bis­lang nicht als Zyklus betrach­tet. Dabei pas­sen sie, wie Höl­ler und Lar­cati anschau­lich dar­le­gen und begrün­den, her­vor­ra­gend zusammen.

Eine Werk­ein­füh­rung

„Win­ter­reise nach Prag“ ist für ein brei­tes Publi­kum geschrie­ben, wes­halb wohl über­legt auf bestimmte wis­sen­schaft­li­che Kon­ven­tio­nen im Stil ver­zich­tet wurde. Auch für kom­plette Neu­linge der Bach­mann-Lek­türe ist es mög­lich, den Faden auf­zu­grei­fen, den die bei­den Autoren aus­le­gen, und ihm zu fol­gen. Von Vor­teil ist es, wenn man sich vor­her mit der Bio­gra­phie von Bach­mann aus­ein­an­der­ge­setzt hat. Man kann den Aus­füh­run­gen aber auch fol­gen, wenn man noch nie etwas von Inge­borg Bach­mann gele­sen oder gehört hat.

Das Buch ist in sie­ben Kapi­tel geteilt, wobei die ers­ten drei als eine Art Ein­füh­rung zu ver­ste­hen sind. Zunächst erhal­ten Lese­rin­nen und Leser einen Ein­blick in die Gedichte des Win­ter­reise-Zyklus selbst, wobei ein kur­zer Kom­men­tar die Publi­ka­ti­ons­ge­schichte des jewei­li­gen Gedich­tes nach­voll­zieh­bar macht. Davon aus­ge­hend kon­tex­tua­li­sie­ren die zwei wei­te­ren Kapi­tel die Prag­reise Bach­manns und Opels sowie die Krank­heit Inge­borg Bach­manns. Gerade wäh­rend der 1960er Jahre, nach einer schmerz­haf­ten Tren­nung von ihrem lang­jäh­ri­gen Gelieb­ten Max Frisch, litt Bach­mann stark.

Die abschlie­ßen­den vier Kapi­tel kon­zen­trie­ren sich auf den Kon­text der Win­ter­zy­klus-Gedichte, wobei jedes von ihnen unter dem Motto eines Gedicht­zi­tats steht. Wäh­rend zunächst noch der gesamte Zyklus im Vor­der­grund steht, kon­zen­trie­ren sich Höl­ler und Lar­cati zuneh­mend auf „Böh­men liegt am Meer“, das letzte Gedicht, das Bach­mann schrieb. Gerade im sieb­ten und letz­ten Kapi­tel wird die Rezep­tion von „Böh­men liegt am Meer“ in Kunst, Musik und Film angesprochen.

Stim­men

Hans Höl­ler ist an der Ent­ste­hung der Salz­bur­ger Bach­mann-Werk­aus­gabe betei­ligt, die seit Herbst 2016 im Suhr­kamp Ver­lag erscheint. Ent­spre­chend tief grei­fen seine Kennt­nisse über Bach­manns Leben und Werk sowie die sozia­len Netze, wel­che sich dar­über span­nen. Nicht nur Inge­borg Bach­mann selbst kommt zu Wort, son­dern auch eine ganze Reihe von bekann­ten und weni­ger bekann­ten Per­sön­lich­kei­ten. So erwäh­nen Höl­ler und Lar­cati neben Max Frisch und Paul Celan auch den Mit­rei­sen­den Hans Opel, der seine Rei­sen mit Inge­borg Bach­mann zu Papier brachte und ver­öf­fent­lichte. Dane­ben kommt die deut­sche Autorin Christa Wolf zu Wort, die in ihren Frank­fur­ter Poe­tik­vor­le­sun­gen über das Geschlech­ter­ver­hält­nis von Autorin­nen und Autoren sprach, wobei sie Inge­borg Bach­manns Roman „Malina“, einen der „Todesarten“-Romane, als Bespiel behandelte.

Große The­men

So viel­fäl­tig wie die Stim­men zu Inge­borg Bach­mann sind auch die ange­schnit­te­nen The­men. Zu all die­sen gibt es viel zu sagen, doch Höl­ler und Lar­cati ver­ste­hen es, sie auf signi­fi­kante Bei­spiele her­un­ter­zu­bre­chen, ohne sich in hoch­wis­sen­schaft­li­chen Dis­kus­sio­nen zu ver­lie­ren. Das Netz­werk rund um Inge­borg Bach­mann zeigt sie als Autorin in einer von Män­nern domi­nier­ten Insti­tu­tion, die ver­sucht, über ihre Prosa dar­aus aus­zu­bre­chen und sich einen neuen Ort zu schaffen.
Zugleich schreibt sie in einer Zeit, in wel­cher die Hei­mat als Begriff neu defi­niert wer­den muss: In der Nach­kriegs­zeit, in wel­cher die Gren­zen der Spra­che umso deut­li­cher her­vor­tre­ten, ist es nicht nur Paul Celan, der die Behaup­tung Ador­nos über­schrei­tet, nach Ausch­witz sei keine Lyrik mehr mög­lich. Auch Inge­borg Bach­mann setzt sich über die Gren­zen der Spra­che hin­weg, die sie nicht zu den Gren­zen ihrer Welt wer­den lässt.

„Wir aber wol­len über Gren­zen spre­chen, / und geht auch Gren­zen noch durch jedes Wort: / wir wer­den sie vor Heim­weh über­schrei­ten / und dann im Ein­klang stehn mit jedem Ort.“ („Von einem Land, einem Fluß und den Seen“, S. 123)

Inge­borg Bach­mann für Wis­sen­schaft­ler und Liebhaber

Es ist schwie­rig, wis­sen­schaft­li­che The­ma­ti­ken so span­nend und fes­selnd dar­zu­stel­len und damit einem brei­ten Publi­kum schmack­haft machen. „Inge­borg Bach­mann. Win­ter­reise nach Prag“ ist nicht nur ein Buch für Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler, son­dern auch für alle, die sich für die Autorin interessieren.
Dabei muss­ten auch Abstri­che im wis­sen­schaft­li­chen Bereich gemacht wer­den. So fin­det sich keine genaue phi­lo­lo­gi­sche Auf­schlüs­se­lung der Text­ge­nese der Gedichte – also wie die Gedichte Schritt für Schritt ent­stan­den sind –, in denen jede Ände­rung nach­voll­zieh­bar beschrie­ben wäre. Viel­mehr bewe­gen sich die Abschrif­ten von Bach­manns hand­ge­schrie­be­nen Noti­zen an der Ober­flä­che, wobei nur die wich­tigs­ten Ver­än­de­run­gen am Text gekenn­zeich­net wer­den. Auch auf eine voll­stän­dige Biblio­gra­phie wird ver­zich­tet, statt­des­sen wer­den die am häu­figs­ten zitier­ten Bücher und Nach­lass-Texte erwähnt. Wenn­gleich die Fuß­no­ten voll­stän­dig belegt sind, wäre eine Liste am Ende die­ser beein­dru­cken­den Mono­gra­fie für wis­sen­schaft­lich inter­es­sierte Lese­rin­nen und Leser von Vorteil.

Die­ses Buch liest sich wie ein span­nen­des Essay, gibt viel Infor­ma­tion und eine aus­führ­li­che Über­sicht über die Rei­sen Inge­borg Bach­manns in den 1960er Jah­ren. Nicht zuletzt des­halb ist es allen, die neu­gie­rig auf die öster­rei­chi­sche Autorin sind, zu empfehlen.

  • Inge­borg Bach­mann. Win­ter­reise nach Prag. Hans Höl­ler, Arturo Lar­cati. Piper. 2016.
  • Adolf Opel. „Wo mir das Lachen zurück­ge­kom­men ist…” Auf Rei­sen mit Inge­borg Bach­mann. Lan­gen Mül­ler. 2001.

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