Zum Fangen braucht man keine Beine

by Bücherstadt Kurier

nr-20Mit sei­nen giraf­fen­lan­gen Bei­nen steigt er über die Wolke hin­weg. So flo­cken­leicht wirkt das auf mich, die ich aus dem Fens­ter starre, dass ich denke, er ist nicht von die­ser Welt. Meine Fin­ger zucken, als meine Hand über mein Knie streicht, aber mein Knie bemerkt es nicht, weder das Zucken noch das Streicheln.
Die Wolke liegt auf unse­rer Wiese, einen Stein­wurf vom Wald­rand ent­fernt. Unge­fähr mei­nen Stein­wurf vom Wald­rand ent­fernt, würfe Arno den Stein, flöge er sicher­lich noch über den Wald hin­weg. Ich bewun­dere Arno für seine Kraft.
Jetzt dreht er sich um und winkt mir zu.
Bestimmt lächelt er. Arno lächelt fast immer, wenn er mich anschaut.
Ich mag Arnos Lächeln.
Ich winke zurück. Dass ich nicht lächele, kann er auf die Ent­fer­nung nicht sehen.
Er legt die Hände an sei­nen Mund: „Komm her! Ich brau­che dich hier!“
Wenn ich noch einen Fun­ken Humor in mir hätte, würde ich jetzt lachen. Als ob Arno mich schon jemals für irgend­et­was gebraucht hätte!
Den­noch löse ich die Brem­sen des Roll­stuhls und komme ihm über die Plan­ken ent­ge­gen. Ich bin noch nicht ganz am Schafs­woll­hau­fen ange­kom­men, da fliegt mir schon der erste Bro­cken auf den Schoß.
„Die guten ins Töpf­chen, die schlech­ten ins Kröpf­chen“, sagt Arno und zeigt dabei vor und hin­ter sich und nach rechts und links, wo er die alten Kar­tons bereit­ge­stellt hat, in denen wir unsere begehrte schwarze Wolle in die Nach­bar­stadt kut­schie­ren. Als er mir erklä­ren will, wel­che Fuhre für wen in wel­chen Kar­ton gehört, ver­kno­tet er seine Arme und bricht ab.
Jetzt lache ich wirk­lich. Arno kann nicht mit Lie­fe­ran­ten und Arno kann unsere Kun­den nicht auseinanderhalten.
Er hält mir die Schere hin.
Nie­mand hat so feine Fin­ger wie ich, wenn es darum geht, dünne Haut­stel­len, Woll­lö­cher und unent­wirr­bare Kno­ten zu erfüh­len, daran erin­nere ich mich jetzt, als Arno vor mir in die Hocke geht und sein Woll­hau­fen nur halb so lang­sam schrumpft wie mei­ner. Zwi­schen­durch wirft er mir Küsse zu, wenn ich ihm wie­der ein­mal gezeigt habe, wohin er einen Bal­len sor­tie­ren soll. Zum Fan­gen braucht man keine Beine.

Maike Frie
Ein Bei­trag zum Pro­jekt “100 Bil­der – 100 Geschich­ten” – Bild Nr. 20.

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