Zwischen Freundschaft und Liebe

by Zeichensetzerin Alexa

„Weiße Nächte“ von Fjo­dor M. Dos­to­jew­ski ist erst­mals 1848 unter dem Titel „Белые ночи. Сентиментальный роман“ (Weiße Nächte. Ein gefühl­vol­ler Roman) erschie­nen. Das Werk wurde mehr­fach ver­filmt, zuletzt 2011 in den USA: „Venice Shore Nights“. Zei­chen­set­ze­rin Alexa hat die Lie­bes­ge­schichte, die heute als Welt­li­te­ra­tur gilt, mal unter die Lupe genommen.

Die Geschichte um zwei junge Men­schen spielt in Sankt Peters­burg, einer Stadt, in der im Som­mer weiße Nächte herr­schen. Hier geht die Sonne nur für kurze Zeit unter, sodass es auch nachts noch dämm­rig ist. In der Lite­ra­tur ist das Wet­ter nie ein Zufall, auch in die­sem Werk nicht: die Stim­mung zwi­schen den bei­den Prot­ago­nis­ten ist bis zum Ende nicht ein­deu­tig. Sie ist wie die Weiße Nacht ein Gefühl zwi­schen Tag und Nacht.

Eines Nachts begeg­net ein jun­ger Mann, aus des­sen Sicht in der Ich-Form erzählt wird, einem 17-jäh­ri­gen Mäd­chen. Er merkt, dass es weint, folgt ihm, möchte es trös­ten. Bald stellt sich her­aus, dass Nas­tenka ver­geb­lich auf ihren Liebs­ten gewar­tet hat. Die­ser hatte ihr ver­spro­chen, sie in genau einem Jahr am glei­chen Ort und zur sel­ben Zeit zu tref­fen. Vor­her sei es ihnen nicht mög­lich, zusam­men zu sein. Nun sei er aber schon seit drei Tagen zurück und hätte sich noch nicht bli­cken las­sen, erzählt Nas­tenka dem jun­gen Mann, der immer mehr zu einem Freund wird.

Zwi­schen Freund­schaft und Liebe

„[…] ich habe Sie näm­lich schon lange gekannt, Nas­tenka; denn ich habe schon lange jeman­den gesucht, und das ist der Beweis dafür, daß ich gerade Sie gesucht habe, und daß unsere jet­zige Begeg­nung eine Fügung des Schick­sals war […]“ (S. 41)

Der junge Mann, der sich auf den ers­ten Blick in sie ver­liebt hat, hört sich ihre Geschichte gedul­dig an und lässt sich nicht anmer­ken, wie sehr ihn ihre Worte schmer­zen. Mehr noch: er will ihr, selbst­los wie er ist, sogar hel­fen, ihren Liebs­ten wie­der­zu­tref­fen. Nas­tenka nimmt sein Ange­bot an, ist so ent­zückt über die Warm­her­zig­keit die­ses jun­gen Man­nes, dass sie sich auch wei­ter­hin nachts mit ihm tref­fen will.

Sie gehen spa­zie­ren, sie sit­zen auf einer Bank, sie erzäh­len sich Geschich­ten aus ver­gan­ge­nen Zei­ten. Er über seine Ein­sam­keit als Träu­mer, sie über ihre Begeg­nung mit ihrer gro­ßen Liebe. Ihre Freund­schaft wächst und wächst, bis auch Nas­tenka glaubt, sich in den jun­gen Mann ver­liebt zu haben. Aber dann taucht plötz­lich ihre lang­ersehnte große Liebe auf…

Zwi­schen Gefühl und Verstand

Die Novelle, die anfangs noch sehr ruhig beginnt, endet in einem Gefühls­chaos, dem man sich nicht ent­zie­hen kann. Man schwankt – ebenso wie das Mäd­chen – zwi­schen den jun­gen Män­nern, und fie­bert der Auf­lö­sung ent­ge­gen. Die Ent­schei­dung Nas­ten­kas ver­mag man kaum ein­zu­schät­zen, zu sehr sind ihre Hand­lun­gen von Gefüh­len gelei­tet, als dass man sie mit Logik erklä­ren könnte.

Beein­dru­ckend haucht Dos­to­jew­ski sei­nen Figu­ren Leben ein, indem er ihnen eine indi­vi­du­elle Stimme gibt. Die Art wie der junge Mann seine Geschichte erzählt und wie er im Dia­log spricht, unter­schei­det sich sehr von der des Mäd­chens. Hier wird der Cha­rak­ter der bei­den Figu­ren deut­lich: er als ein­sa­mer Träu­men, in des­sen Erzäh­lung inter­tex­tu­elle Bezüge ein­flie­ßen (Pusch­kin, E.T.A. Hoff­mann, Was­sil­je­witsch u.a.), da er sich – zurück­ge­zo­gen von der Außen­welt – mit die­sen beschäf­tigt hat; sie als nai­ves Mäd­chen, das von der Groß­mutter unter Haus­ar­rest gestellt wurde und die Gefühle unter­drü­cken musste, ent­wi­ckelt den Wunsch auszubrechen.

„Weiße Nächte“ ist eine viel­schich­tige, sen­ti­men­tale Novelle, zu emp­feh­len für ruhige Stun­den im Gar­ten oder auf dem Bal­kon an war­men Sommernächten.

Weiße Nächte. Fjo­dor M. Dos­to­jew­ski. Über­set­zung: Her­mann Röhl. Insel Ver­lag. 2011. 

Mehr über das Buch „Weiße Nächte“ erfahrt ihr mor­gen (13.06.15), ab 11 Uhr bei den Feuil­le­tö­nen:
www​.feuil​le​toene​.de/​l​ive.

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