Originaltitel: Cathay (1984)
Sprache zu beherrschen wie ein Instrument ist Steven Millhausers Motivation in diesem unfassbar ideenreichen Lexikon zum imaginären Land Cathay
Eine der Obsessionen, mit denen Steven Millhauser seine Erzählungen, Novellen und Romane signiert, ist eine Neigung zum totalen Beschreibungs-Exzess. Man kann natürlich einen Menschen oder ein Ding mit einem Satz oder sogar mit einem Wort beschreiben, was aber für Millhauser kein gangbarer Weg ist. Er konkretisiert manchmal so ausufernd, als wolle er die englische Sprache bis ans absolute Limit führen. Erst wenn keine Worte mehr vorhanden sind, um einen weiteren schönen Satz zu formen, sieht er sich am Ziel. Im ungünstigen Fall macht diese Grille Millhausers manchmal etwas müde. Im besten Fall führt es zu etwas Atemberaubenden wie der Erzählung “Cathay“ [“Das Jademädchen“].
“Cathay“ ist angelegt wie der lexikalische Teil eines Reiseführers. Es gibt keinen Protagonisten, an den man sich klammern kann, und es gibt auch keinen Handlungsfaden, den man von Anfang bis Ende verfolgen kann. Nur eine alphabetisch geordnete Auflistung von Stichworten, die Cathay charakterisieren, nebst meist kürzerer, in bewusst neutralem und Emotionen verbietendem Schreibstil gehaltener Erklärungstexte.
Das, was sich so trocken anhört, ist in Wahrheit ein Fest der Fantasie. Das imaginäre Kaiserreich Cathay ist ein Land der Superlative. Alles ist extrem groß oder extrem klein, prunkvoll und voller Schönheit. Dem, was Millhauser dann auffährt, folgt man nur zu gern mit offenstehendem Mund. Der kurze Text steht kurz vorm Platzen vor lauter Ideen und Unmöglichkeiten, die ohne Probleme für ein umfangreiches Romanepos gereicht hätten. Geblendet von all dem wundervollen Pomp verfolgt man mit Hochgenuss ein exquisites Sprachkunstwerk, das letztlich in ein Duell der Zauberer mündet, aus dem ein einmaliges Mädchengeschöpf aus Jade hervorgeht.
Deutsche Übersetzung: “Das Jademädchen“, übersetzt von Rolf Jurkeit, in: Rolf Jurkeit (Hrsg.), Twilight Zone – Magisches Licht (München: Heyne, 1986)