Arbeitsjournal mit Neo Rauch und Arno Rink. Am Montag, den 23. Oktober 2017. Als indirekter Kommentar zu Meere und, ohne es zu wissen, auch meiner Position als Unhold.


ZEIT: Sie meinen wirklich, daß ein junger Maler heute nicht mehr arbeiten könnte wie >>>> Rink, weil er sich damit einer Sexismus-Debatte ausgesetzt sähe?
Rauch: Ja, natürlich. Heute dominiert der Typus des gendersensiblen Bücklings, der sich nicht ins Leben hineinwagt, weil dort zuviele Gefahren lauern. Und weil man zu viel falsch machen kann in dem Versuch, sich auszurichten an den Meinungs- und Haltungsvorgaben des inquisitorischen Umfelds. Ich wünschte mir manchmal, daß ein Kerl wie Arno Rink durch die Ateliers der Kunmststudenten gehen würden, um die jungen Männer zu ermuntern, daß es doch nicht schlimm ist, wenn man sich von weiblichen Körperformen angeregt fühlt. Man muß sich nicht nur angeregt fühlen von Blockseminaren zum gendersensiblen Sprachgebrauch. Das Leben ist schön, genießt es, möchte Arno Rink den Studenten dann zurufen. Seine Bilder weisen den Weg des genußfähigen Mannes weit in die Zukunft hinein. Heute werden Minderheiten zu Mehrheiten stilisiert, an deren Bedürfnislagen wir uns auszurichten haben, sofern wir nicht mit der Brandmarke des Sexismus oder Chauvinismus ausgestattet werden wollen. Das ist ein Zustand, der nicht hinnehmbar ist auf Dauer, und gar nicht für die Kunst.

DIE ZEIT, 14. September 2017, S.47


[Arbeitswohnung, 7.29 Uhr
Martinů, Polní Mše]

Bin ganz vernarrt in >>>> dieses Stück und höre es seit gestern nacht zum fünften Mal hintereinander. Nicht daß ich es nicht schon früher mal angehört hätte, die Vinylplatte habe ich mir bereits vor Jahrzehnten in Prag gekauft; aber nie fand es wirklich in mich hinein. Vielleicht brauchen wir auch für das Verständnis einer Musik ein gewisses (ungewisses) Alter. Jetzt langt diese Komposition für mich, wiewohl sehr viel kürzer, fast an Brittens War Requiem heran.
Und ich war verdutzt. Mir hatte Ana, meines Freundes Broßmann Gefährtin, die ich Anoui nenne, >>>> zur Berliner Meere-Lesung einen Umschlag auf den Vortragstisch gelegt, mit einem roten Bänderl umwunden. >>>> Dort, liebste Freundin, habe ich es Ihnen schon erzählt, nicht aber, was sich darin befand. Es waren frische rote Chilischoten und eine ZEIT-Seite, auf der ein Interview mit Neo Rauch abgedruckt war.
Sein Name ließ mich Abstand nehmen, die Seite verschwand unter dem Arbeitsstapel links von mir. Ich hege, wie ich Anoui sagte, mit der ich gestern wieder ins Gespräch kam, bei gehypten Leuten einen Generalverdacht und nehme mir die Zeit lieber für Künstler wie >>>> Christopher Ecker oder >>>> Marcus Braun, zumal ich von gegenständlicher Malerei meist nicht berührt werde.
Nun bekam ich aber ein schlechtes Gewissen. „’tschuldigung, ich lese es jetzt gleich, dann melde ich mich wieder.”
Und also war ich baff. So sehr, daß ich, siehe oben, aus diesem Interview zitiere – mehr als erlaubt zitiere. Doch wenn man mich verklagen will, nun jà, dann hätte ich einen Kontakt, der sich möglicherweise vertiefen würde. Anoui, merci.

Aus dem Tief von gestern wieder raus, auch weil es ein schönes Gespräch mit der Contessa gab, die gestern in Venedig landete. „Wenn Sie Zeit finden, setzen Sie auf jeden Fall zur Giudecca über!” Eine Stunde später kam die, wenn Sie so wollen, Antwort: „Nicht zu fassen, da liegt mein Hotel!” So daß wir über die Stadt etwas spachen, die nach Paris den Platz meines jugendmännlichen Sehnsuchtsortes eingenommen hatte, bevor dann Sizilien kam, und Neapel. Es liegen hier noch Skizzen zu „venezianischen Erzählungen” herum, die ich aber verwarf, nachdem besonders Thomas Hettche die Stadt >>>> für seine Literatur entdeckte. Ich mochte und mag nach wie vor nicht einfach nirgendwo nachklappen.

Was beruhigt mich eigentlich so, wenn ich Messen und Requien höre? Je älter ich werde, desto stärker wird dies. Von wenigen, etwa denen >>>> Petterssons abgesehen, sind Sinfonien für mich in den Hintergrund gerückt, denen ich als junger Mann leidenschaftlich anhing. Heute stört mich nicht selten ihr fetziges Getöse oder sagen wir die Monumentalorchestrierung. Dies ändert sich erst mit den neuen Versuchen der Moderne, etwa hier:

[Joonas Kokkonen, Sinfonie II]



Beethovens halt ich schon gar nicht mehr aus, abgesehen von der Sechsten. Auch Mahler ist unterdessen betroffen, außer der VI, VII, IX und der nachgelassenen X, besonders in Barshais Komplettierung.

>>>> Robert Pfaller spricht von einer Unkultur des sich Gestörtfühlens. Wann immer sich jemand behelligt meint – im öffentlichen Raum, wohlgemerkt –, wird nach Ordnungsregularien gerufen, anstelle daß wir begreifen, bestimmte „Dinge” auch einfach mal aushalten zu müssen. Ich renne ja auch nicht gleich zur Polizei, wenn mir permanent Pop um die Ohren gehauen wird, wenn sie mir damit zugestopft und völlig verklebt werden, sowie ich nur meine Wohnung verlasse. Wie still unsere Welt, todesstill, sie ohne das würde! Oder nur noch maschinenzerlärmt.
Ich finde es skandalös, daß Frauen nach wie vor schlechter als Männer bezahlt werden, für die gleiche oder sogar bessere Arbeit, die sie leisten; ich finde es ebenfalls skandalös, daß immer noch signifikant weniger Frauen an leitenden Positionen stehen; aber daß einer Frau männliches Begehren ausgedrückt wird, sei es durch nur Blicke, sei es durch Pfiffe, das haben sie auszuhalten. Im einen und/oder anderen Fall wird es ihnen lästig sein, ja, aber ein wirklicher Übergriff ist dies noch nicht. Ich meinerseits hatte sogar schon die ziemlich bestimmt fordernde Hand einer Frau, die ich nicht kannte, auf der Arschbacke, ohne daß mich dieses Erlebnis gleich traumatisiert hätte. Frauen und Männer sind einander Geschlechtsobjekte, ich bin’s ihnen auch. Es ist schlichtweg Biologie – noch. Möglicherweise werden wir uns, dann gänzlich replikant, nur noch aus Petrischalen zeugen.
Bei der Biologie bleibt es aber doch auch gar nicht. Meine Güte, Freundin, schauen Sie sich die Kunstgeschichten an.
Mit der Löwin sprach ich gestern drüber. Ja, unsere Kultur ist patriarchal einseitig, noch immer. Nicht das Verbot des Begehrens kann aber helfen, besser wäre, wie ich’s in indischen Tempeln sah, eine bildnerisch-künstlerische Aufladung des Phallus, in diesem Fall mal nicht durch Homosexuelle, sondern Frauen selbst. Gab es auch schon, in den Achtzigern. Eine kurze Zeit lang. Auch Männer sind Objekte. Unsere gesamte Wissenschaft ist aus Subjekt zu Objekt bezogen. Wo eins ist, kann kein anderes sein; wir sprechen von Objektivität als dem Fundament von Wahrheit. Die Medizin beruht darauf, sogar unsere Rechtsprechung.

Und, aber! welche Formen! Auf >>>> der Messe, von >>>> Arco kurz nur um die Ecke, gab es einen Stand, der einen Bildband bereithielt voller Mösen: Pussy Parade. Komisch, selbst ich, bevor ich ihn aufschlug, lugte nach rechts und nach links, ob mich jemand bemerkte… Das ärgerte mich. Wie kann ich nur so verkniffen sein!
Prägungen, ihr könnt mich mal! Sie kommen nicht aus Selbstbestimmung.
Also schauen.
Oh du Niqab von Sais!
Mein erster Gedanke war: Was würden Frauen fühlen, die ihr Intimstes derart abgebildet sähen? Mein zweiter: Was fühlte ich, wäre es ein Bildband voller Schwänze – und eben nicht in der Schwulenabteilung? Wäre als Mann derart ich vorgeführt? – Na jà, dachte ich, ich würde denken, „halt Schwänze”, und wäre nicht berührt.
Dann faszinierte mich etwas anderes: zum einen die Homomorphität, die aber zum anderen auf einer atemberaubenden Vielfalt beruht; nicht eine Möse glich der anderen und war doch jeder andren gleich. Vielgestalt des Identischen, irre. Ich verstehe Maler gut, die daran wahnsinnig werden.
Aber mehr noch! Die Formen selbst finden sich überall wieder: besonders in Blüten. Die stehen auch bei schüchternen Menschen ganz offen auf dem Tisch. Ja, sehen die denn nicht?
Überhaupt sind Pflanzen, dachte ich, die raffiniertesten Sublimationsobjekte, die wir Menschen kennen. Ihr zutiefst Anrüchiges wird einfach nicht bemerkt, schlicht, weil sie anders riechen: da liegt ja der Ursprung des Anruchs. Man riecht ihm etwas an, und ihr sowieso. Die Ruchspur des Begehrens kriecht bis zum Nacken hoch.
Pheromone.

[Verdi, Messa da Requiem]


Alter, immer wieder wirksamer Trick: Streife mit den Fingern über dein Geschlecht und streiche davon etwas, wie ein Parfum, hinter dein Ohr. Dann geh hinaus auf die Straßen. – Freiheit? Gibt es nicht. Wird es nie geben.
Aber auch hier jetzt, Freundin, keinen Fehlschluß! Denn egal, ob es sie gibt: Wenn wir uns frei fühlen, handeln wir anders, als fühlten wir uns nicht frei. Die Realitätskraft der Fiktionen.

Welch ein Feuerwerk der Gedanken dieser Band in mir auslöste! Dabei gefielen mir die meisten Bilder gar nicht, teils weil zu ordinär oder nuttig, teils weil zu trashig. Also blieb die Erektion völlig aus, die er vielleicht bewirken soll. „Ich hätte”, sagte die Löwin, „vielleicht ein paar Bilder abfotografiert. um aufgrund dieser Vorlagen etwas Eigenes zu formen.” Über welche Bemerkung ich seltsamerweise nicht die Spur irritiert war; sie ist ja Kuratorin, nicht Künstlerin. In Wien, Sie wissen, Freundin, schon. Kann es sein, daß sie, wie manche Literaturkritiker, es eigentlich nicht nur selbst gern wäre, sondern heimlich ist? Ich werd sie fragen müssen.

„Pussy Parade” – allein der Titel kotzt mich an. Das Buch aber deshalb verbieten? Ganz sicher, liebste Freundin, nicht.

In Manhatten, vor Jahren, wurde ich mal verhaftet… na jà, fast verhaftet, weil ich geflirtet hatte, jemanden angeflirtet. Sanft, ich gehörte nie zu Pfeifern und Tatschern. Es genügte aber schon, um mich dem Polizisten erklären zu müssen. – Er ließ mich schließlich laufen. Für >>>> die Béart habe ich ein Gedicht aus dem Vorfall geformt. „Heute dominiert der Typus des gendersensiblen Bücklings, der sich nicht ins Leben hineinwagt, weil dort zuviele Gefahren lauern. Das ist ein Zustand, der nicht hinnehmbar ist auf Dauer, und gar nicht für die Kunst.”

Wir hingegen feiern die Nässe, wir letzten ungebeugten,
wir wahrhaft letzten Menschen vor dem Aeropag
Der Große Replikant reicht uns die Hand, daß wir sie
küssen, was wir verweigern als Jünger Deiner linken Brust,
die Du, Béart, ihm angriffsfrei geblößt hast, uns als Standarte

Béart, >>>> VII
Alban Nikolai Herbst

Über Alban Nikolai Herbst

https://de.wikipedia.org/wiki/Alban_Nikolai_Herbst
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