Im Jahr 2016 besuchte der Verleger Jörg Sundermeier Giwi Margwelaschwili in Georgien. Er befragte den 1927 geborenen, in Berlin aufgewachsenen Autor nach seinem Leben und Werk. Herausgekommen ist der Band „Bedeutungswelten“: Ein lebendiges Porträt eines aufgeweckten Geistes, meint Dominik Irtenkauf.

Buchkritik

Leselebenswelten

Die Literatur von Giwi Margwelaschwili, der in eine georgische Familie geboren wird, jedoch im deutschen Sprachraum, nämlich im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts aufwächst, hat diesen Entfremdungsmoment als wesentlichen Inhalt entwickelt. Sein Vater Titus von Margwelaschwili musste wegen seiner Opposition zu den Bolschewiken nach Deutschland fliehen. Er hatte dort bereits in Leipzig studiert. Er war stark in der Opposition gegenüber Stalin involviert. Giwi wird 1927 geboren.

Die Mutter erträgt die fremden Verhältnisse nicht und scheidet freiwillig aus dem Leben. Nach Kriegsende werden Vater und Sohn in eine Falle der Sowjetrussen gelockt und kommen anderthalb Jahre ins KZ Sachsenhausen, das inzwischen zum Kriegsgefangenenlager der Sowjets umfunktioniert worden ist. Schließlich werden Vater und Sohn getrennt; der Vater wird in Moskau liquidiert, wie der Sohn viel später erfahren sollte, und er wird zu Verwandten nach Tbilissi geschickt. Dort muss Margwelaschwili Georgisch und Russisch lernen. Er spricht nur ganz wenig Russisch, was er im Lager lernen konnte. Er entscheidet sich für ein Philosophiestudium und entwickelt in der kulturellen Isolation die Ontotextologie für das eigene wissenschaftliche und literarische Schaffen. Sein Schreiben ist immer auch ein philosophisches, in den literarischen Texten jedoch allgemein zugänglich.

Die Ontotextologie besagt, dass Texte Seinscharakter insofern besitzen, als dass sie immer auch eine Welt schildern, damit auf die Realwelt Bezug nehmen, die Figuren in der Literatur aber nur lebendig sind, wenn ausreichend Leser diese Texte lesen. Margwelaschwili entwickelt daraus zuweilen sehr kurzweilige Romane, wie „Officer Pembry“ (2007), der Thomas Harris’ Bestseller-Roman „Das Schweigen der Lämmer“, der auch verfilmt wurde, als Ausgangspunkt für einen durch und im Text zu lösenden Konflikt nimmt.

Triumph gegen Stalin

Margwelaschwili hat nach seinem Nomadenzug durch die deutsche Verlagslandschaft (Insel, Rütten & Loening, Südverlag) beim Berliner Verbrecher Verlag eine stete Heimat gefunden, der nun seit einigen Jahren die Werkschau organisiert. Verleger Jörg Sundermeier besuchte im Jahr 2016 Margwelaschwili an vier Tagen in Georgien und befragte den bereits betagten Autor nach seinem Leben und Werk. Herausgekommen ist vorliegendes Buch, ein sehr lebendiges Porträt eines aufgeweckten Geistes. Margwelaschwili hat, wie bereits erwähnt, aus der Not nicht nur eine Tugend gemacht – jedes seiner Bücher könnte man, etwas überspitzt formuliert, als Triumph gegen den sowjetischen Geheimdienst NKWD und den übermächtigen Georgier Stalin verstehen. Giwis Vater musste wegen Josef Stalin sterben. Die Texte behandeln auch die Situation, wenn ein Dogma als Übertext das Leben und Überleben ganzer Nationen bestimmt. Margwelaschwili ist jedoch zu selbstironisch, als dass er sich in den Fokus rücken müsste.

Im Interview mit Sundermeier erläutert der Autor die Zäsuren in seinem Leben und wie er sie durch Textlektüre meisterte. Im Kriegsgefangenenlager liest er „Eugénie Grandet“ von Balzac in Originalsprache. Er bezeichnet jede Sprache als Sprechzimmer und in diesen Sprechzimmern kann man sich einrichten, was der Autor auch ausgiebig macht. Er spricht mehrere Sprachen fließend. Im Interview entsteht nicht nur ein Lebensbild des nicht nur geistig beweglichen Autors, sondern es gewährt auch einen Blick in das Migrantenschicksal von exilierten Georgiern, die vor dem Bolschewismus flüchteten.

Sundermeier unterteilt das Interview in Lebensstationen Margwelaschwilis. Jeder Abschnitt wird mit einem kurzen Text aus einem der Bücher des Autors begleitet. Am interessantesten sind die quasi-autobiographischen Texte aus den „Wakusch“-Romanen. Sie verfügen über eine eigens entwickelte Terminologie für die Exilsituation im Deutschen Reich, auch für die Pubertät des Autors. Sundermeier wirft im Interview den Begriff „Erzähler der Erzähltheorie“ ein, und das trifft es ziemlich gut: Margwelaschwilis Erzählungen und Romane handeln von Lektüren der Protagonisten und der Gefährlichkeit der Texte, wenn sie monothematisch und mehr noch: dogmatisch ausgerichtet sind. So werden Margwelaschwilis Bücher eigentlich hochpolitisch, weil sie in ein kritisches Bewusstsein darüber einüben, wie Texten in der Geschichte für Manipulation anfällig waren und noch sind.

Andererseits kreisen die Bücher stets um eine vergleichbare Frage: Welchen Einfluss nehmen Texte auf Leseweltfiguren und wie können Leseweltfiguren, also Charaktere in literarischen Texten, Einfluss auf die Realwelt nehmen? Margwelaschwili dekliniert diese Fragen an verschiedenen Situationen durch. Diese Deklination jedoch ist unterhaltsam geschrieben und bringt es fertig, Philosophie und Erzähltheorie verständlich zu vermitteln. Das vorliegende Interviewbuch nähert sich seinem Gegenstand auf dialogische und damit besonders einsichtige Weise an.

Dankesrede von Giwi Margwelaschwili für den Italo-Svevo-Preis 2013. Aufgenommen in seiner Wohnung in Tiflis.

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erstellt am 30.5.2018

Giwi Margwelaschwili
Bedeutungswelten
Giwi Margwelaschwili im Gespräch mit Jörg Sundermeier
Broschur, 160 Seiten, mit Abbildungen
ISBN 978-3-95732-239-5
Verbrecher Verlag, Berlin 2017

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