Am 5. Juli 2018 ist der Romancier, Lyriker, Dramatiker, Übersetzer und Essayist Oleg Jurjew gestorben. 1959 in Leningrad (heute: St. Petersburg) geboren, lebte er seit 1991 mit seiner Frau, der Autorin Olga Martynova und seinem Sohn, dem Übersetzer Daniel Jurjew, in Frankfurt am Main. Harry Oberländer erinnert an Jurjew und würdigt sein literarisches Werk.

Zum Tod von Oleg Jurjew

Die schönste Stadt des Exils

Oleg Jurjew

Epitaph

(aus dem Russischen von Daniel Jurjew)

Rabe und Feuer und Wind über’m Fluss,
Und der Sterne kalte Schar, und staubiger Mond,
Und du Schöne, der Tränen strömen aus der Hand,
Weint nicht um mich, vergesst die Namen.
In freudlosen Tagen verwilderter Rede
Versuchte ich den Blasebalg, den löchrigen, zu füllen,
Und durch das Zischen und Knacken schrie mir manchmal zu
Des Verses obdachlose Pflanze.

Weder der Rabe im Wind, noch die Stadt hinter’m Zaun,
Noch der salz’gen Schlicke Wels, noch der Pappeln Traum,
Noch der Donner, der poltert hinter der graublaubergigen Wolke,
Noch die goldene Tram auf der schiefen Brücke
Werden eindringen in die Blase, die voller Schweigen ist
Und kaum vernehmlich seufzt, wie ein Schwärmer auf der Hand,
Mit einem kleinen Grab, in fremdem Land ausgehoben,
Und einem Stein in nicht-russischer Sprache.

Fixpoetry, Poetryletter 308

Oleg Jurjew ist tot. Nach Auskunft seines Sohnes Daniel ist er am 5. Juli gestorben. Sein Gedicht „Epitaph“ hat er 2015 bei fixpoetry veröffentlicht. Er hat es mir als gerahmtes Bild geschenkt, als ich im Dezember desselben Jahres aus dem Hessischen Literaturforum im Mousonturm verabschiedet wurde. Dies Gedicht erscheint mir als eine Worte gefasste Todesahnung, es beschreibt in wunderbaren Bildern eine Sehnsucht nach St. Petersburg, das noch Leningrad hieß, als Oleg dort seine ersten kindlichen Schritte machte.

Dass St. Petersburg für ihn nicht „Heimat“ war, sondern „schönste Stadt des Exils“, hat er mit der 2000 Jahre alten Katastrophe des jüdischen Volkes begründet: „ Wenn du Jude bist und nicht dem Land Israel entstammst, bist du automatisch im Exil beheimatet. Ich bin ein solcher Jude und im Exil geboren, in einer der schönsten Städte der Welt, in der schönsten Stadt des Exils. Wenn diese Stadt in menschenleeren helldunklen Mai- oder Juniabenden mit all ihren blutgoldenen Spitzen, ockeren und sattroten Palästen, schwarz-grünen Brücken über dem sanft schimmernden Fluss zu schweben scheint, kommt sie mir immer vor, als ob sie auch ein wenig in den Himmel exiliert wäre.“

Mit seiner jüdischen Identität hat Oleg Jurjew sich zuerst in dem Roman „Halbinsel Judatin“ auseinandergesetzt. Während im fernen Moskau Gorbatschow das Ruder übernimmt und die UdSSR langsam und sicher auf ihr Ende zusteuert, liegen im noch ferneren Judatin, einem öden Winkel nahe der sowjetisch-finnischen Ostseegrenze, zwei 13-Jährige krank im Bett. Der eine verbringt hier seine Ferien und träumt von Marilyn Monroes Busen; der andere, ein Abkömmling von Juden, die sich vor Jahrhunderten in dieser Einöde vor dem Zaren versteckt haben, fiebert nach seiner Beschneidung der Ankunft des Propheten Elias entgegen. Sie stammen aus verschiedenen Universen, einem religiös orthodoxen und einem urban liberalen. Nur durch hellhörige Wände voneinander getrennt, lauschen sie mit spitzen Ohren, um zu verstehen, was um sie herum vorgeht, und setzen sich daraus in ihren erhitzten Gehirnen die Welt zusammen. Als sie hören, ein russischer Junge sei entführt worden, um für das jüdische Osterfest geopfert zu werden, sorgen sie sich: um sich und den anderen – weil sie glauben, nur sie selbst seien Juden.

Meine Lieblingsromane sind „Der neue Golem oder der Krieg der Kinder und Greise“ und „Die russische Fracht“. Die Handlung des „neuen Golem“ beginnt auf dem jüdischen Friedhof von Prag, wo sich das Grab des Rabbi Löw befindet. Ein sarkastisches Buch, ein „Roman in fünf Satiren“, in dem sich der Erzähler der Quote wegen als Frau verkleiden muss um ein Stipendium zu erhalten und zwar im „Kulturbunker“ der fiktiven Kleinstadt Judenschlucht im deutsch tschechischen Grenzgebiet. „Die russische Fracht“ handelt von einem Seelenverkäufer, der mit Leichen über die Ostsee schippert, die sich als quicklebendig erweisen.

Oleg Jurjew steht als Erzähler in der Tradition der sowjetischen Avantgarde von Daniil Charms und vor allem Andrej Bely. Wie Ursula Krechel in ihrer Laudatio zur Verleihung des Hilde-Domin-Preises für Literatur im Exil der Stadt Heidelberg gesagt hat, gleicht der Erzähler Jurjew dem Dirigenten eines großen Sprachorchesters, und: „man muss sich den Dirigenten vorstellen, der alle diese Töne, Klangfarben einsetzt, der die Tutti machtvoll aufruft, es ist ein Brausen in der Luft wie Engelsgeschwader.“ Oleg selbst sah unter Berufung auf James Joyce „Stille, Exil und List“ als Bedingung für sein Schreiben an.

Ich erinnere mich gerne daran, dass Oleg Jurjew gemeinsam mit Olga Martynowa uns im Hessischen Literaturforum zwischen 2010 und 2015 eine russische Literatur nahe gebracht hat, die hier kaum jemand kannte. Leonid Dobytschin zum Beispiel. Bei einer Versammlung des Schriftstellerverbandes 1936 in Leningrad stand der kleine Mann in seinem besten Anzug auf, meldete sich zu Wort und sagte, dass er mit der Kritik nicht einverstanden sei. Man erinnerte sich später: Er habe nicht erschrocken geschienen. Dann ging er aus dem Saal, und niemand sah ihn je wieder. Oleg Jurjew lässt ihn in seinem letzten Roman „Unbekannte Briefe“ auferstehen: In Neustadt an der Weinstraße, unweit des Künstlerhauses Edenkoben, taucht er wieder auf, um sich mit Gymnasiasten und Gymnasiallehrern auf Lateinisch zu verständigen.

Daran, dass wir zwischen 2010 und 2015 im Hessischen Literaturforum James Joyce und den Ulysses mit einem „Bloomsday“-Fest feierten, hatte Oleg Jurjew großen Anteil. Er sah in Joyce eine Orientierung für den Literaturbetrieb. Eine andere sah er in Kafka. Der Fremdenführer, der seinem Protagonisten in „Der neue Golem“ kostenfreien Zutritt zum jüdischen Friedhof in Prag verschafft, sagt: „Alle möchten Kafkas Grab sehen. Aber der liegt weit draußen in der Vorstadt begraben. Ich habe eins ohne Inschrift gefunden und zeige ihnen das.“

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erstellt am 07.7.2018