Die Affäre um Eugen Gomringers Gedicht „avenidas“ schlägt kuriose Pirouetten. Nun plant das deutsche PEN-Zentrum in Darmstadt, das Gedicht an der Fassade seines neuen Quartiers anzubringen. In seiner Kolumne „Kontrapunkt“ hinterfragt Thomas Rothschild den Vorschlag.

Kontrapunkt

Die Existenz Gottes in der irdischen Wirklichkeit

Die leidige Affäre um Eugen Gomringers Gedicht „avenidas“, dessen Entfernung von der Außenwand des Gebäudes Studierende der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin – mit Erfolg – gefordert haben, weil es angeblich sexistisch sei, schlägt kuriose Pirouetten. Das spanische Gedicht lautet in deutscher Übersetzung: „alleen / alleen und blumen // blumen / blumen und frauen // alleen / alleen und frauen // alleen und blumen und frauen und / ein bewunderer“. Die Hochschulleitung hat dem Drängen der Studierenden fast unverzüglich nachgegeben. Christoph Hein hat den Vorgang so kommentiert: „Wirklich skandalös an diesem barbarischen Schwachsinn eines AStA ist: Die Alice-Salomon-Hochschule Berlin ist eine Fachhochschule mit den Schwerpunkten Erziehung und Bildung, d.h. diese Kulturstürmer werden einst den Nachwuchs ausbilden. Uwe Bettig, der Rektor der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, hält das Gedicht und die Anbringung auf der Fassade zwar für ein gelungenes Kunstwerk, will aber ‚die kritischen Stimmen der Studierenden ernst nehmen und diesen Rechnung tragen‘. Herr Bettig hat als Rektor einer Hochschule für Erziehung und Bildung einen gesellschaftlichen Auftrag: Er hat den Studierenden etwas von Erziehung und Bildung zu vermitteln und nicht deren unerzogene Unbildung zu respektieren. Er hat die Erzieher von morgen auszubilden und nicht deren Kultur- und Bildungsferne ernst zu nehmen und gar ihr zu folgen.“

Dem lässt sich eigentlich nichts hinzufügen. Nun plant das deutsche PEN-Zentrum in Darmstadt, dessen Ehrenpräsident Christoph Hein ist, das Gedicht an der Fassade seines neuen Quartiers auf der Mathildenhöhe anzubringen. Wenn das als Akt des Widerstands gegen die Berliner Barbarei verstanden werden soll, als Demonstration gegen jegliche Zensur, kann man dem Gedanken durchaus etwas abgewinnen. Wenn hingegen suggeriert werden soll, es gebe in der Literatur nur ein einziges Gedicht, dass es verdiene, im öffentlichen Raum Aufmerksamkeit zu beanspruchen, ist die Aktion kindisch und fast so borniert wie die Kunstfeindlichkeit der Berliner Studierenden.

Das Ganze jedoch bekommt einen unangenehmen Beigeschmack durch eine wenig beachtete Stellungnahme, die Gomringers Tochter Nora, selbst eine erfolgreiche Schriftstellerin und Mitglied des PEN, der „Berliner Zeitung“ gegeben hat. Darin heißt es: „Ich habe 'avenidas' immer theologisch gelesen – als einen Dank an Gott. (…) Ich glaube, der ganze Streit um das Gedicht ist letztlich eine gewalttätige Absage an die Religion, an die Existenz Gottes in der irdischen Wirklichkeit.“ Wenn diese Lesart als verbindlich zu gelten hat – immerhin darf man davon ausgehen, dass Nora Gomringer das gedankliche Universum ihres Vaters kennt –, muss man sich schon fragen, was ein Bekenntnis zur Religion, zur Existenz Gottes in der irdischen Wirklichkeit auf der Hauswand eines säkularen, der Aufklärung verpflichteten Vereins wie des PEN zu suchen hat. Der Glaube an die Existenz Gottes in der irdischen Wirklichkeit war jedenfalls in der Weltgeschichte selten ein Garant für die Freiheit der Kunst und die Verhinderung von barbarischem Schwachsinn, vom Index Librorum Prohibitorum über den reformatorischen Bildersturm bis zu den Verwüstungen in Palmyra.

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erstellt am 22.8.2018

Eugen Gomringers Gedicht am Gebäude der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, Foto (Januar 2018): Rudolph Buch [CC BY 4.0  (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0)], via Wikimedia Commons
Eugen Gomringers Gedicht am Gebäude der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, Foto (Januar 2018): Rudolph Buch [CC BY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0)], via Wikimedia Commons