Mit der Dokumentation der poetischen Beziehung zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer wurde eine Lücke in der Rilke-Forschung geschlossen. In diesem Briefwechsel werden Attraktion und Begehren ebenso thematisiert wie Hoffnung, Abgrenzung und Abschied, berichtet Gudrun Braunsperger.
Briefwechsel
Sinnlichkeit durch die Poesie
Keine der zahlreichen künstlerisch-ambitionierten Frauen, die sich an Rilke wenden, war so kühn wie Erika Mitterer. Die erst 18-jährige Wienerin sendet im April 1924 ein Gedicht an den berühmten Lyriker und beginnt ein Gespräch in Versen. Rilke wird es später als „Dialog der Liebe in poetischer Sprache“ bezeichnen. Die junge Frau aus großbürgerlicher Familie gehört zwar nicht der Literatenszene an, die in Wiener Kaffeehäusern verkehrt, aber die Liebe zur Literatur spielt in ihrem jungen Leben gleichwohl eine bedeutende Rolle: Die Lektüre von Tolstoj und Dostojewskij hat sie dazu bewogen, als Sozialarbeiterin in der Fürsorge tätig zu werden.
Es gehört einiger Mut dazu, den renommierten Kultautor nicht als Mentor anzusprechen, sondern als Partner der Poesie auf Augenhöhe. Der Dichter hebt die Rosen auf, die ihm die junge Unbekannte streut, und reicht ihr seinen Strauß. In dem kurzen Briefgedicht, das er als Antwort an sie richtet, gibt er ihr das Du zurück, das sie dem viel älteren, damals nahezu 50-Jährigen geboten hat.
Wohl, das ergreift dich: dies aus Trümmern sprießen
Von schweren Blumen, die kein Wind berührt.
Und du erschauerst ahnend, weil man spürt:
Zuerst gestorben um dann zu genießen.
In der Folge wird sich ein lyrisches Aufeinanderzutasten entspinnen und sich bis zu Rilkes Tod vertiefen, und es wird sogar, nach einem vorübergehenden Abbruch des Kontakts, zu einem persönlichen Kennenlernen in der Schweiz kommen. Rilke verbringt einen beträchtlichen Teil der beiden letzten ihm verbliebenen Lebensjahre auf dem im Wallis gelegenen Schloss Muzot, ehe er im Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux an Leukämie stirbt.
Mit der umfassenden Dokumentation dieser poetischen Beziehung zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer in Buchform ist nun eine Lücke in der Rilke-Forschung geschlossen worden. Der dafür gewählte Titel „Besitzlose Liebe“ bezeichnet trefflich die für Rilke charakteristische Bindungsangst, die er vor der ersehnten und zugleich abgewehrten Begegnung mit folgenden Zeilen zum Ausdruck brachte: „Halb ruf ich dich, halb halt ich dich von mir, / dass ich den schönen Zauber nicht verstöre.“
Mit der lyrischen Stimme Erika Mitterers, die, wenn auch in nicht immer gleicher Qualität, gleichwohl schon zu Beginn ihren eigenen Ton hat, mit dieser weiblichen Stimme dringen in die Abgeschiedenheit des Turms des Chateau de Muzot Liebe, Erotik und sinnliches Begehren. Das schließt für den Dichter den Geist immer mit ein. Für Rilke gibt es eine Sinnlichkeit in und durch die Poesie, und diesen Bezirk erobert die junge Erika Mitterer mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit. In der Folge entfaltet sich eine Liebesgeschichte der besonderen Art, die als hochkomplexes intertextuelles Gefüge ihren literarischen Ausdruck findet. Es ist die Geschichte von einer jungen, begabten Frau, die sich einem Dichter zur Verfügung stellt für jene Art der Begegnung, die für diesen die tiefste Form der Berührung ist: die sinnlichen Begegnung in Worten. In einem Brief an Clara Westhoff hat Rilke Jahre zuvor einmal die Überzeugung ausgedrückt, dass „jedes Ding das Geschlechtliche übersteigt und in seiner sinnlichen Fülle ins Geistige überschlägt, mit dem man nur noch in Gott zusammenliegen kann“.
Erika Mitterer lässt sich auf diese Sphäre ein, indem sie Rilkes Sprache aufgreift, ohne sie nachzuahmen. Die Gedichte Rainer Maria Rilkes sind seit ihrer Gymnasialzeit in ihrem Leben, vermittelt durch einen Deutschunterricht, in dem die Rezitation von Gedichten großgeschrieben wurde und das Ohr für den lyrischen Ton zu öffnen vermochte. Rilkes Stundenbuch liest sie mit einer Freundin im Religionsunterricht unter der Schulbank, und sie verfasst im Vorfeld zum mutigen Schritt der Kontaktaufnahme eigene Verse, die sie dem verehrten Dichter widmet, ohne sie abzuschicken. Ihren späteren Briefgedichten gehen dann häufig Briefe in Prosa voraus, die sie in einem weiteren Schritt zu Lyrik umarbeitet.
Erika Mitterer schult die eigene Verskunst an dem großen Meister, einerseits. Andererseits ist da auch die schmerzliche Sehnsucht nach einer Erfüllung dieser Liebe, die sie dazu drängt, die persönliche Begegnung doch noch herbeizuführen, nachdem eine solche nach beiderseitigem Zögern im Sommer 1924 zunächst nicht zustande gekommen war und Rilke den Kontakt erst einmal hatte abbrechen lassen. Das Treffen im Wallis im November 1925, das Mitterer erst nach Rilkes Tod dokumentiert hat, ist dann stärker von freundschaftlicher Nähe geprägt als von Erotik.
Auch von Erika Mitterers Seite ist es eine Liebe ohne Besitzanspruch, damals wie später. Ihre innere Haltung dem eigenen biographischen Erleben gegenüber hat dazu beigetragen, dass der poetische Dialog und die Bedeutung von Rilkes Beitrag in diesem Briefwechsel in Gedichten, vor allem auch in Bezug auf die Gesamtschau seines Werks, bisher zu Unrecht vernachlässigt wurde. Zwar drängte Mitterer auf ein Erscheinen ihres Briefwechsels mit Rilke, sorgte aber in der ersten Edition, die 1950 im Insel-Verlag erschienen, dass ihr eigener Beitrag im Schatten blieb. Jene 49 Gedichte, die an Erika Mitterer gerichtet sind, machen zusammen mit 25 weiteren, die sich mit der Beziehung bzw. mit deren Kontext befassen, ein Drittel aller deutschsprachigen Gedichte aus, die in den beiden letzten Lebensjahren des Dichters neben seiner Lyrik in französischer Sprache entstanden sind. Aber anders als der unmittelbar davor abgeschlossene Gedichtzyklus „Sonette an Orpheus“ stellen diese Gedichte Rilkes eine Verbindung zwischen Dichtung und Leben da und sind in der Interaktion mit einem lyrischen Du eng verflochten. Rilkes poetischer Dialog mit den Briefgedichten Mitterers ist Teil eines großen Ganzen. In diesem Zwiegespräch werden Attraktion und Begehren ebenso thematisiert wie Hoffnung, Abgrenzung und Abschied. In einem späten Stadium der Beziehung spricht Rilke auf Mitterers Nachfrage sogar über die eigene Krankheit.
Zur Genesung von einer lebensgefährlichen Operation, der sich Erika Mitterer unterziehen muss, schickt er ihr am 24. August 1926 die Ode „Taube, die draußen blieb“. Es ist eines der letzten Gedichte vor seinem Tod.
Im Band „Besitzlose Liebe“ sind auch jene Gedichte Erika Mitterers abgedruckt, die gleichsam als Nachruf auf Rilke 1930 in ihrem ersten Gedichtband „Dank des Lebens“ erschienen sind. Darin setzt sie sich mit dem Verlust des geliebten Freundes auseinander.
Später wird sie sich neben ihren bürgerlichen Pflichten als Mutter von drei Kindern auch als Autorin etablieren, allem voran von Romanen, aber auch von Lyrik und Dramen. Sie wird mit Autoren wie Theodor Däubler, Stefan Zweig, Theodor Kramer und Hans Carossa korrespondieren, die sich mit großer Anerkennung und Wertschätzung über sie äußern. Der Lyriker und Schriftsteller Rudolf Borchardt bezeichnet sie 1935, ein Jahrzehnt nach Rilkes Tod, als „große Dichterin“, als „stärkste, edelste und originalste Potenz, die heut in deutscher Sprache wirkt“ und empfiehlt, ihre regelmäßige Veröffentlichung mit den Worten: „Österreich kann sich mit nichts Schönerem zieren“. 2001 stirbt Erika Mitterer mit 95 Jahren hochbetagt in Wien. Rilke hat sie um ein dreiviertel Jahrhundert überlebt.
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erstellt am 26.11.2018

Rainer Maria Rilke, Erika Mitterer
Besitzlose Liebe
Der poetische Briefwechsel
Herausgegeben von Katrin Kohl
Gebunden, 550 Seiten
ISBN: 978-3-458-17751-7
Insel Verlag, Berlin 2018