Hugh Nini & Neal Treadwell: Loving – Männer, die sich lieben (Fotoband)

Namenlose Liebe

von Sigrid Grün

Historische Fotografien von Männern, die sich lieben, sind selten, möchte man annehmen. Homosexualität ist erst seit wenigen Jahrzehnten akzeptiert und wird in manchen Ländern der Erde immer noch geächtet und strafrechtlich verfolgt. Trotzdem ist es Hugh Nini und Neal Treadwell gelungen, über 2’800 Fotos von männlichen Paaren zu finden und zu einer Sammlung zusammenzutragen. Eine Auswahl dieser einzigartigen historischen Aufnahmen, ist nun in deutscher Übersetzung als Fotoband erschienen. In „Loving“ werden etwa 350 Bilder, die zwischen 1850 und 1950 entstanden sind, von Männern, die sich lieben in Originalgröße gezeigt.

Der Blick ist bei der Auswahl der Fotos immer das entscheidende Kriterium, schreiben Hugh Nini und Neal Treadwell in ihrem Text „Eine Zufallssammlung“. Als sie vor 20 Jahren bei einem Händler ein Foto von einem schwulen Liebespaar entdeckten, waren sie noch überzeugt davon, eine Seltenheit in Händen zu halten. Doch bald zeigte sich, dass es auch vor über 100 Jahren mehr männliche Liebende als angenommen gab, die ihre Gefühle füreinander bildlich festhalten wollten.

Homosexualität in Zeiten der Diskriminierung

Loving - Männer, die sich lieben - Fotoalbum - Elisabeth Sandmann VerlagIn seinem Vorwort erläutert Régis Schlagdenhauffen, Experte für die Geschichte der Sexualität und Homosexualität sowie Gender Studies und Dozent an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS), wie Homosexualität in Zeiten der Diskriminierung gelebt wurde. Insbesondere in Großstädten wie New York gab es bereits im 19. Jahrhundert eine lebhafte Schwulenszene, die über eigene Codes verfügte, um sich gegenseitig zu erkennen. Auch auf den Fotos im Bildband sind subversive Codes versteckt, die Bezug auf zeittypische Praktiken nehmen. Es gibt zum Beispiel Aufnahmen, die Paare mit einem Sonnenschirm – einem klassischen weiblichen Accessoire – zeigen, Paare, die einen Blumenstrauß halten, wie er auf Hochzeitsfotos üblich ist oder Männer auf einer Mondschaukel, die auf den Honeymoon, die im frühen 19. Jahrhundert in Großbritannien entwickelte Tradition der Flitterwochen, verweist.

Mutige Öffentlichkeit

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In höheren Gesellschaftsschichten war Homosexualität eher akzeptiert als bei Bauern oder Arbeitern. Gesetzlich wurden Schwule trotzdem verfolgt – Oscar Wilde ist ein bekanntes Beispiel dafür. Er verbrachte zwei Jahre in Haft, weil er einen Mann liebte. Bei einer Razzia in einem US-amerikanischen Hotel, die im Februar 1903 stattfand, wurden mehrere Männer verhaftet und wegen „Analverkehrs“ zu Haftstrafen von bis zu 20 Jahren verurteilt.
Die Männer, die auf den Fotos in diesem Bildband zu sehen sind, haben also viel aufs Spiel gesetzt, denn sie mussten ihre Liebe stets geheim halten. Auf einigen Fotos sind – neben den Liebenden – noch weitere Personen zu sehen, etwa Soldaten oder Frauen. Zu diesen müssen die Abgebildeten großes Vertrauen gehabt haben. Ebenso zu den Fotografen und Fotolaboranten, die die Bilder entwickelten.

Vorhang des Lebens gelüftet

Hugh Nini und Neal Treadwell, Loving - Männer die sich lieben - Glarean Magazin
Herausgeber Hugh Nini und Neal Treadwell

Zu sehen sind Aufnahmen von Männern aus jeglichen Gesellschaftsschichten. Wohlhabende Angehörige der Oberschicht, Soldaten, Landarbeiter und Fabrikarbeiter. Die Mehrzahl gehört einer höheren Schicht an – Fotografien konnten sich im 19. Jahrhundert auch nicht alle leisten. Die Sammlung umfasst Bilder aus den USA, Großbritannien, Deutschland, Italien, Frankreich, Kroatien, Bulgarien, Serbien, Australien, Japan, Ungarn, China, Estland, Russland, der Tschechoslowakei und anderen Ländern. Im Bildband sind fast ausschließlich Aufnahmen aus den USA zu sehen.
Im Anhang befindet sich ein Register, in dem auch Notizen verzeichnet sind. Einige Fotos sind auf der Rückseite beschriftet, etwa mit den Worten „Ich schicke dir ein Foto, das wohl den Vorhang von einem kleinen Teil meines Lebens lüftet“. Auf einem anderen Bild findet sich nur die Notiz: „Mein Liebling“.

Schwulsein unter widrigsten Bedingungen

Hugh Nini und Neal Treadwell, Loving - Männer die sich lieben - Beispielseite - Glarean Magazin
„Geringes Repertoire an Posen“: Beispielseite aus „Loving“ von Nini & Treadwell (© Nini-Treadwell Collection „Loving“ by 5 Continents Editions/Elisabeth Sandmann Verlag)

Das Faszinierende an den Aufnahmen sind die bereits erwähnten Blicke, die voller Zuneigung und Liebe sind – und die Gesten und Haltungen, die sich wiederholen. Es scheint ein recht geringes Repertoire an Posen zu geben, in denen sich die Liebenden zeigen. Oft wird ein Arm um den anderen gelegt, manchmal berühren sich die Männer auch nur leicht, wie zufällig, etwa mit den Füßen. Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Natürlich kennen wir als Betrachter nicht die Hintergründe, aber die Bilder eröffnen Einblicke in untergegangene Lebenswelten. Cowboys, Matrosen und Soldaten, Fabrikarbeiter, Junge und Alte vor den verschiedensten Hintergründen zeigen, dass die Liebe auch den widrigsten Bedingungen standhielt.

Einzigartiges historisches Dokument

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„Loving“ enthält Zeugnisse der Zuneigung in sepia und schwarz-weiß. Es sind unglaublich berührende Fotos, die man immer wieder betrachten kann, denn sie erzählen von einer „Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt“ (Lord Alfred Douglas) – und es auf den Fotos doch getan hat, wenn auch meistens versteckt. Doch Liebe kann man nicht verbergen. Gut, dass Hugh Nini und Neal Treadwell zumindest Teile ihrer wunderbaren Sammlung nun der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben. Dieser Bildband des Elisabeth Sandmann Verlages ist ein einzigartiges historisches Dokument. ♦

Hugh Nini & Neal Treadwell: Loving – Männer, die sich lieben, Fotografien aus den Jahren 1850 bis 1950, 336 Seiten, Elisabeth Sandmann Verlag (Suhrkamp), ISBN 978-3945543825

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Sexualität auch über Regine Schricker: Ohnmachtsrausch und Liebeswahn – Von der weiblichen Lust am Liebesleid

… sowie in der Rubrik „Heute… vor Jahren“: Ungeheure Träume träumender Ungeheuer – Über „Die Zofen“ von Jean Genet

Weitere Webseiten zum Thema:

Musik: Zum Tode des Gitarristen Julian Bream (1933-2020)

Ausnahmemusiker mit grosser Kulturvielfalt

von Horst-Dieter Radke

Am 14. August dieses Jahres starb 87-jährig der englische Gitarrist und Lautenist Julian Bream. Auch wenn manch einer ob des unvermeidlichen Todes und des doch langen Lebens mit den Schultern zuckt: Ich finde es immer wieder bedauerlich, wenn jemand stirbt, den ich zeitlebens sehr geschätzt habe, mag er oder sie noch so alt geworden sein. Dies trifft auf Julian Bream ganz besonders zu.

Erste Erfahrungen mit der Gitarre machte Bream mit der Jazzgitarre seines Vaters. Im Alter von 11 Jahren bekam er eine spanische Gitarre geschenkt, auf der er Unterricht von Boris Perott erhielt. Mit 12 Jahren gewann er einen Preis für sein Klavierspiel, der es ihm ermöglichte, am Royal College of Music zu studieren. Gitarre lernte er autodidaktisch weiter und gab im Alter von 13 Jahren sein erstes Konzertdebüt. Mit 18 Jahren trat er mit der Gitarre in der Londoner Wigmare Hall auf. Während seiner Militärzeit kamen ihm die frühen Erfahrungen auf Vaters Jazzgitarre zu Gute, denn er spielte in dieser Zeit Gitarre in der Royal Artillery Band.

Mit Klassik durch Europa

Nachruf auf den Gitarristen Julian Bream - Glarean Magazin 2020
Julian Bream (15. 7. 1933 – 14. 8. 2020)

Nach seiner Militärzeit nahm er jeden musikalischen Job an, den er bekommen konnte. Er spielte Filmmusik für die BBC und tourte mit klassischem Gitarrenrepertoire durch Europa (ab 1954) und den Rest der Welt (ab 1958). Nebenbei entdeckte er die Laute, passte das Instrumente an seine Bedürfnisse an – er spielte ein relatives grosses Instrument, und nicht nur mit einer einzelnen hohen Saite sondern deren zwei –, brachte mit dem Tenor Peter Pears die Lieder von John Dowland wieder in die Konzertsäle und gründete das Julian Bream Consort, das zu den ersten Ensembles gehörte, das alte Musik auf Originalinstrumenten spielte. Er spezialisierte sich jedoch nicht nur auf alte Musik, traf Musiker anderer Kulturen (etwa Ali Akbar Khan und Paco Pena), und spielte auch Kompositionen zeitgenössischer Komponisten, von denen eine ganze Reihe speziell für Bream komponierten. Benjamin Brittens „Nocturnal“, oder Hans Werner Henze die Sonaten „Royal Winter Music“. Die spanische Gitarrenmusik legte er in Einspielungen von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert vor. Seine Einspielungen auf CD sind auch heute noch verfügbar, einzeln und in Sammlungen.

In erster Linie Musiker

Julian Bream war der erste Gitarrist, der mich für die klassische Gitarre einnahm. Segovia liess mich kalt, und andere waren mir noch nicht untergekommen. Bream war Gitarrist, natürlich, aber in erster Linie Musiker. Er brillierte nicht vordergründig mit stupender Technik, sondern interpretierte die Musik, die Komponisten niedergeschrieben hatten. Seine Technik ist selbstverständlich enorm, man kann keine Begrenzungen hören, aber sie tritt hinter der Musik zurück.

Julian Bream - Gitarrenmusik aus drei Jahrhunderten - Glarean Magazin
Legendäres Bream-Album auf Vinyl: „Gitarrenmusik aus drei Jahrhunderten“

Meine Begegnung mit diesem Ausnahmegitarristen geschah folgendermassen: Als Schüler war ich immer knapp bei Kasse, doch einmal hatte ich Dank eines kurzen Jobs etwas mehr Geld als üblich in der Tasche und ging in einen Plattenladen. Heraus kam ich mit einer Kassette, die zwei LPs von Julian Bream enthielt. Titel: „Gitarrenmusik aus drei Jahrhunderten“. Ursprünglich wollte ich etwas von Jimi Hendrix oder ähnliches kaufen. Da man sich damals aber die Platten noch im Laden anhörte und die Kassette von Bream vor der Ecke ‚Rock/Pop‘ stand, kam ich gar nicht erst bis dahin. Ich hörte nur bis zum dritten Stück („Tombeau sur la mort de M. Comte de Logy“ von S.L. Weiss, nach zwei Stücken von Bach), danach gab es kein Überlegen, kein ‚Für und Wider‘ mehr. Mein finanzieller Etat war wieder auf dem üblichen Niveau, und ich zog mit den neuen Platten heimwärts.

Die Laute der Gitarre angepasst

Tatsächlich enthielten die beiden Platten der Kassette wenig originäres Gitarrenrepertoire. Da war unweigerlich das d-moll Präludium von Bach, da war Villa-Lobos mit seinem Choros Nr. 1. Und da waren die Spanier Torróba, Albéniz, de Falla und Turina, von denen nur der erste tatsächlich für die Gitarre geschrieben hatte, die Musik der anderen Spanier von den Gitarristen aber schon so vereinnahmt war wie die Lautenmusik von Bach. Zusätzlich fand sich auf den Platten aber auch Musik von Domenico Scarlatti, Maurice Ravel, Luigi Boccherini, Joaquin Rodrigo und Benjamin Britten. Letzterer mit dem Nocturnal, das er nach Motiven Dowlands extra für Julian Bream geschrieben hatte.

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Aber, ob nun für Gitarre komponiert oder nur für Gitarre arrangiert – die Musik klang authentisch, und Willkürlichkeiten wie bei Segovia, bei aller interpretatorischen Freiheiten die sich Bream nahm, konnte man nicht finden. Bald darauf bekam ich mit „The Woods so Wild“ eine LP geschenkt, auf der Bream Laute spielte. Auch das hat mich damals berührt und für die Laute interessiert, die ich nur am Rande und eher oberflächlich beachtet hatte bis dahin. Heute weiss ich, dass Bream kein originärer Lautenist war, dass er das Instrument seiner Gitarrentechnik angepasst hat. Ich höre trotzdem noch ab und an seine Lauten-Alben, weil auch da das Phänomen, dass er als Musiker unabhängig vom Instrument das Werk darbietet, trotz allem überzeugt. In letzter Konsequenz ziehe ich das aller vermeintlichen Werktreue vor.

Gitarrenmusik als Trost und Freude

Nun ist er also abgetreten. Sein letztes Konzert liegt schon 18 Jahre zurück. Die beiden Schallplatten höre ich nicht mehr so oft wie seine CDs, aber sie sind mit mir durch all die Jahrzehnte meines Lebens gegangen und waren mir oft und oft Genuss, Entspannung, Trost und Freude, das wird auch sicher so bleiben. Und jedes Mal wenn ich sie höre, höre ich Musik und nur nebenbei Gitarre. Ich bedauere seinen Tod sehr, auch wenn ich weiss, dass er letztendlich für jeden unvermeidlich ist. ♦

Lesen Sie zum Thema Klassische Gitarrenmusik auch über Jakob Banso: Connect – Electronic Works For Guitar

Jane Gerhard und Dan Tucker: Feminismus (Bildband)

Gleiches Recht für alle

von Sigrid Grün

Der Feminismus, die weltweite Frauenbewegung hat einen weiten Weg zurückgelegt – der noch lange nicht zu Ende ist. Weltweit herrschen immer noch Verhältnisse, die Frauen systematisch benachteiligen. In Saudi-Arabien haben Frauen bis heute kein Recht auf freie Meinungsäusserung, sie dürfen nicht zusammen mit Männern studieren, und viele Dinge sind ohne Einwilligung eines männlichen Vormundes verboten. Weltweit hat sich in den vergangenen 150 Jahren viel getan, aber selbst in Europa verdienen Frauen immer noch deutlich weniger als Männer. Die auf US-amerikanische Geschichte spezialisierte Historikerin Jane Gerhard hat gemeinsam mit Dan Tucker dieses Coffee Table Book zur Geschichte des Feminismus herausgebracht.

„Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann.“ (Margaret Mead)

Warum ein Bildband? Bilder vermitteln die Dynamik und die emotionalen Botschaften sehr viel intensiver, als ein Text dies könnte. Und es geht auch darum, dass Bilder „die Besonderheiten einer Kultur, einer bestimmten Aufmachung, eines Auftritts und anderer Details, die einer Geschichte erst die Würze verleihen, besonders gut zu transportieren vermögen.“ (Seite 6)

Breit gestreute Themenfelder

Jane Gerhard und Dan Tucker: Feminismus - Die illustrierte Geschichte der weltweiten FrauenbewegungDie Bilder (Fotos, Plakate, Gemälde) vermögen tatsächlich, einen sehr lebendigen Eindruck zu vermitteln. Sie zeigen hervorragend auf, wie Frauen aus vergangenen Zeiten und fremden Kulturen alle für eine Sache gekämpft haben: Gleichberechtigung.
Das Buch ist nach unterschiedlichen Themenfeldern gegliedert. Zunächst geht es um politische Mitbestimmung, insbesondere um das Recht zu wählen („Eine Stimme haben“). Hier wird die Situation in den USA sehr stark ins Zentrum gerückt. Dies ist natürlich vor allem dem Umstand geschuldet, dass das Buch eine Übersetzung ist und von US-AmerikanerInnen herausgegeben wurde. Beginnend bei der Seneca Falls Convention, die am 19. und 20. Juli 1848 in Seneca Falls (New York) abgehalten wurde und die „Declaration of Sentiments“ hervorbrachte, wird die Geschichte der Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten sehr gut in Wort und Bild vermittelt.
Interessant fand ich in diesem Zusammenhang auch die oftmals enge Verbindung zwischen der Frauenbewegung und der Abstinenzbewegung, weil Frauen extrem unter dem Alkoholmissbrauch ihrer Männer litten. Die grösste Abstinenzbewegung war die Woman’s Christian Temperance Union (WTCU). Auch die Situation in anderen Ländern (Grossbritannien, Deutschland, China, Saudi-Arabien…) wird aufgegriffen, aber in weitaus geringerem Umfang als diejenige in den USA.

Die weibliche Selbstbestimmung

New Yorker Zeitungs-Illustration 1870 - Frauenärztin Elisabeth Blackwell bei einer Anatomie-Lektion - Glarean Magazin
New Yorker Zeitungs-Illustration aus dem Jahre 1870, die Amerikas erste und einflussreichste Frauenärztin Elisabeth Blackwell bei einer ihrer Anatomie-Lektionen zeigt

Im zweiten Kapitel, „Das Recht auf Selbstbestimmung“, geht es um Bürgerrechte und ganz zentral um das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen. Es werden beeindruckende Persönlichkeiten wie Elizabeth Blackwell vorgestellt, die als erste Ärztin der Vereinigten Staaten gilt und mehrere medizinische Hochschulen für Frauen gründete. Im Zusammenhang mit den Protesten von AbtreibungsbefürworterInnen fällt eine Person auf, die einen erstaunlichen Sinneswandel durchgemacht hat: Die ehemalige Aktivistin Norma McCorvey (Pseudonym Jane Roe), die noch 1989 für das Recht von Frauen, über ihren Körper selbst zu bestimmen demonstrierte, konvertierte 1994 zum Katholizismus und wurde zur Abtreibungsgegnerin, die ihre Rolle in der Frauenbewegung plötzlich bedauerte.

Das weitverbreitete Abtreibungsverbot

In vielen Ländern ist Abtreibung – selbst nach einer Vergewaltigung oder einer Gefährdung der Mutter – immer noch strikt verboten. In Irland hat das u.a. dazu geführt, dass ein 13-jähriges Vergewaltigungsopfer nicht nach England ausreisen durfte, um dort eine Abtreibung vornehmen zu lassen – und zum Tod einer Frau, bei der eine bereits beginnende Fehlgeburt festgestellt worden war, und die trotzdem nicht abtreiben durfte und schliesslich infolge einer Blutvergiftung starb. Seit 1984 gibt es in den USA (immer wieder durch einzelne Präsidenten gelockert), den Global Gag Rule (Globale Knebelvorschrift), die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Gesundheitswesen eine Aufklärung bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen verbietet – andernfalls droht eine vollständige Streichung der finanziellen Unterstützung durch die US-Regierung.

Die Gleichstellung der Ehepartner

Müssen Frauen gleichberechtigt sein - Strassen-Statements in den 1950er Jahren - Glarean Magazin
Müssen Frauen gleichberechtigt sein – Strassen-Statements in den 1950er Jahren – Glarean Magazin

In „Raus aus dem Puppenhaus“ geht es um die Ehe und die wirtschaftlichen Rechte von Frauen. Die Gleichstellung der Ehepartner vor dem Gesetz ist dabei ebenso Thema wie die Kinderehe.
„We can do it“ widmet sich der Frau in der Arbeitswelt. Heute noch müssen vor allem Frauen unter katastrophalen Bedingungen arbeiten, die sie oft das Leben kosten. Die Brände in Textilfabriken haben insbesondere die Leben weiblicher Arbeiterinnen gefordert. Frauen verdienen immer noch weniger als Männer und müssen in vielen Fällen Haushalt und Pflege von Kindern und Alten zusätzlich zur Erwerbstätigkeit erledigen.

Sexismus und Rassismus

Männliche Schönheitsvorstellungen prägten das Bild einer idealen Frau und waren damit Teil männlicher Machtausübung
„Männliche Schönheitsvorstellungen prägten das Bild einer idealen Frau und waren damit Teil männlicher Machtausübung“

Im fünften Kapitel, „Im Auge des Betrachters“, rücken Frauenbilder in den Mittelpunkt. Männliche Schönheitsvorstellungen prägten das Bild einer idealen Frau und waren damit Teil männlicher Machtausübung. Feministische Künstlerinnen setzten dieser Tradition etwas entgegen und ermöglichten auf diese Weise eine Neuidentifikation mit dem weiblichen Äusseren.
Das letzte Kapitel schliesslich, „Gleiches Recht für alle“, widmet sich schliesslich der Gleichberechtigung aller Menschen, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht. Während sich die frühe Suffragettenbewegung weitgehend aus der Oberschicht rekrutierte, setzte sich im Lauf des vergangenen Jahrhunderts (u.a. in der zweiten Feminismuswelle in den 1970er Jahren) zusehends die Einsicht durch, dass es um Gleichberechtigung für alle Menschen gehen muss. Und so wird im im letzten Abschnitt die Überwindung von Rassismus sowie der Sexismus und die LGBTQIA-Bewegung untersucht.

Fokus auf dem Anglo-Amerikanischen

Den ungewöhnlichen, bis anhin kaum gesehenen Ansatz, einen Bildband über Feminismus zu veröffentlichen, finde ich grossartig. Die Umsetzung ist auch sehr gelungen. Ich empfehle, zunächst jeweils den Bildteil und anschliessend den Textteil (oder umgekehrt) durchzulesen, weil der Lesefluss sonst ständig durch den Bildteil (mit umfangreichen Bildunterschriften) unterbrochen wird.

Der Fokus liegt hier ganz klar auf dem anglo-amerikanischen Kulturraum, was ich anfangs etwas irritierend fand. Letztendlich wird aber auch die Entwicklung der weltweiten Frauenbewegung sehr gut umrissen. Ein schöner und gut lesbarer Bildband, den ich allen, die am Thema Feminismus interessiert sind, empfehlen kann. ♦

Jane Gerhard und Dan Tucker: Feminismus – Die illustrierte Geschichte der weltweiten Frauenbewegung, 256 Seiten, Prestel Verlag, ISBN 978-3-791-38529-7

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Feminismus und Sexismus auch über Regine Schricker: Ohnmachtsrausch und Liebeswahn

… sowie zum Thema Frauenbewegung über Traditionsbrüche und Erinnerungsarbeit – Europäische Frauenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert

B. Zizek (Hrsg): Formen der Aneignung des Fremden

Die Universalien der Kulturen

von Heiner Brückner

Individuelle und gesellschaftliche Differenzerfahrung zeigt sich insbesondere im Umgang mit dem Fremden schlechthin als wertende Andersartigkeit. Ein neuer Symposiums-Band „Formen der Aneignung des Fremden“ der beiden Herausgeber Boris Zizek und Hanna N. Piepenbring thematisiert die Aneignungsmöglichkeit der den Kulturen gemeinsamen Universalien.

Erwartungsvoll begann ich mir die Diskursergüsse der theoretischen Auseinandersetzungen sowie durch empirische Fallbeispiele vereinten Erarbeitung über die Aneignung des Fremden ausserhalb der eigenen Person anzueignen, erwartungsvoll schliesse ich den Band. Möglicherweise taugen die beabsichtigten weiterführenden Aspekte des Fremdverstehens für eine gewisse Öffnung innerhalb von Fakultätsgrenzen zu einer akademischen interkulturellen Öffnung dem Fremden gegenüber. Als Resümee ergeben sich die Struktureigenschaften der Position des Fremden: Er erlebt eine Krise und Distanz zur neuen Gruppe, hat mehr Freiheiten, allerdings auch mehr Risiken und erschliesst sich die Umwelt konstruierend durch eigene Sinngebung.

Bekannte Kernaussagen in neuen Wörterhülsen

Boris Zizek - Hanna Piepenbring - Formen der Aneignung des Fremden - Universitätsverlag Winter Heidelberg - Rezensionen Glarean MagazinIm Detail betrachtet, werden in diesem Symposiums-Band des „Zentrums für Interkulturelle Studien zur Erforschung globaler Kulturphänomene“ bekannte Kernaussagen mit neu geschliffenen Wörterhülsen bestückt. Das Erkenntnispulver ist nicht ausreichend, um eine Lunte zu befeuern, die einen nachhaltigen Wirkungstreffer auf der Veränderungszielscheibe explodieren lassen könnte. Das Fremde wird fremd bleiben, solange es Menschen gibt, die es als solches belassen oder als Gefährdung empfinden, denn akzeptieren und respektieren der Würde jeden Subjektes verlangt eigene Standhaftigkeit und angemessenes Zurücknehmen seiner selbst.
Der 10. Band der Schriftenreihe Intercultural Studies nimmt flüchtig als lyrisches Exempel das Gedicht „Der Fischer“ von Johann Wolfgang Goethe unter die Lupe, das Wasser nicht als Chemikalie beschreibt, sondern als mit Lebensbezug Erfahrenes gestaltet. Darin scheint nicht das Fremde so fremd, sondern vielmehr ist die Person mit dem Fremden des ihr Vertrauten beschäftigt.

Der Ethnologie-Begriff in der Historie

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Wurzelnd auf dem Kolonialherren-Denken wird – historisch fokussiert – Ethnologie zum Schlagwort. Es entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts aus der inneren Befremdung durch die kulturelle Stufenentwicklung zum Händler, der beweglicher ist, weil er nicht an Traditionen gebunden zu sein scheint. Im Mittelalter seien die intellektuellen Fähigkeiten zur Völkerverständigung geschaffen worden (Todorov). Doch subjektive Aneignung ist mehr, als ein Studienaufenthalt in einem fremden Land vermitteln kann.
Im 20. Jahrhundert begünstigt der Beginn expliziter theoretischer Auseinandersetzung mit dem Fremden das Verständnis vom Grenzgänger oder Immigranten bis hin zur Destruktion „sozialer Exterritorialität“, nämlich einer „Soziologie der Vernichtungslager“ in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.

Überanpassung ohne versöhnende Verschmelzung

Als Formen der Verkörperung, um das Fremde als an sich kulturelles und erlerntes Konstrukt in Alltagssituationen zu überwinden, werden Elemente der „Martial Arts“ angeführt und methodologisch eine Lücke im deutschen Forschungsdiskurs zur Kulturabhängigkeit in den Grenzen der Biographieforschung aufgedeckt. Der Beitrag über die „Marokko-Reise Eugène Delacroix’“ versteht darüber hinaus künstlerisches Handeln als eine gesteigerte Form der Aneignung.

Formen der Aneignung des Fremden - Interkulturen - Anpassung - Bevölkerung - Rezensionen Glarean Magazin
„Neues Fremdsein aufgrund von Überanpassung ohne versöhnende Verschmelzung“

Die sozialwissenschaftliche Perspektive unterscheidet zwischen drastischer Inhumanität innerhalb der Menschheitsgeschichte und empathischer Offenheit und erwähnt die moralische Seite der Begegnung mit dem Fremden vom Einfluss frühkindlicher Fremd-Erfahrungen.
Das 21. Jahrhundert wird mittels Feldforschung exemplifiziert, einmal anhand der subkulturellen indischen HipHop-Szene. Und auch am Beispiel koreanischer Remigranten von Krankenschwestern und Bergarbeitern, die in den 60er und 70er Jahren von der BRD angeworben worden waren, wird deutlich, dass nach einer Überanpassung ein neues Fremdsein geänderter Werte zu keiner versöhnenden Verschmelzung führt.

Partielle Assimilation unabdingbar

In einer subjekttheoretischen Analyse gelangt der Autor zu der Einsicht, dass eine partielle Assimilation unabdingbar ist, um in einem fremden Milieu zu bestehen. Die Merkmale Objektivität und (zweifelhafte) Loyalität als Grenzgänger oder Immigrant, können durch Assimilation dazu führen den eigenen Status zu verlieren oder innerhalb der Ursprungsgruppen ewige Randexistenz zu bleiben.
Für die akute aktuelle gesellschaftliche Lage in der Migrations-Debatte reissen die vorliegenden internationalen Beiträge aus sozial- und erziehungswissenschaftlicher, psychologischer, linguistischer und historischer Perspektive wichtige Aspekte an. Sie verdeutlichen darüber hinaus die Komplexität, die der gesellschaftliche Aneignungsprozess erfordert. Mehr aber nicht. ♦

Boris Zizek, Hanna N. Piepenbring (Hrsg): Formen der Aneignung des Fremden, 180 Seiten, Universitätsverlag Winter Heidelberg, ISBN 978-3-8253-4687-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Interkulturelle Anpassung auch über Adibeli Nduka-Agwu: Rassismus auf gut Deutsch

… sowie zum Thema Kultur-Aneignung den Essay von Rolf Stolz: Die Kultur-Utopie Europa

Claus Eurich: Radikale Liebe (Albert Schweitzer)

Herzensbildung als Menschheitsethik

von Heiner Brückner

Der emeritierte Hochschullehrer für Kommunikationswissenschaften und Ethik Prof. Dr. Claus Eurich betätigt sich weiterhin als Kontemplationslehrer und Buchautor. Sein neuestes, ambitiöses Werk ist „Radikale Liebe – Die Lebensethik Albert Schweitzers – Hoffnung für Mensch und Erde“. Anspruch und Inhalt dieser Schweitzer-Monographie klaffen allerdings weit auseinander.

Der Verlagstext verheisst einen „leuchtenden Hoffnungsstrahl für die Zukunft der Erde“ und behauptet, dass Albert Schweitzer „alles, was er sagte, selber lebte“. Auf Einzelheiten geht die Laudatio nicht näher ein. Der Autor verspricht im zweiten Teil seines Buches die propagierte „Ehrfurcht vor dem Leben“ in die Gegenwart zu holen und „uns den wohl einzigen Weg der Rettung“ zu zeigen.
Um es vorweg zu nehmen: Ermahnend ist Claus Eurichs Lobpreis auf den „Urwalddoktor von Lambarene“ zweifellos, überzeugend oder ermutigend ist der wortreiche Text keineswegs und schon gar nicht optimistisch gegenwartstauglich.

Claus Eurich - Radikale Liebe - Albert Schweitzer Monographie - Cover Via Nova Verlag - Rezension Glarean MagazinEs sei fünf nach zwölf, meint Autor Eurich und sieht in seiner Neuerscheinung „Radikale Liebe“ die Lebensethik des Friedensnobelpreisträgers von 1952, Albert Schweitzer, als den Erlösungsweg. Doch Eurich entwirft ein desaströses, destruktives Zeitszenario: „Und so steuert die Titanic mit dem Namen ,Homo sapiens‘ unbeirrt auf den Eisberg zu.“ Als Rettung bietet er die Theorien Albert Schweitzers mit dem Primat des Geistigen, der nur durch „unsere Vorstellung einer universalen Ethik“ seinen Sinn erhalte. Das kommt mir vor wie eine Geister-Scheinung, die bei mir aber keine Geist-Erscheinung, sondern Widerspruch und Unmut über die Allgemeinplätze und Paraphrasen hervorruft. Denn kurz darauf zitiert der Autor: „So, im Mitfühlen mit allen Geschöpfen und der entsprechenden ethischen Tat, verdient der Mensch erst den Namen Mensch.“

Gefesselt und geblendet von der Theorie

Albert Schweitzer beim Bach-Spiel an der Orgel - Original Columbia Masterworks 1952 - Glarean Magazin
Schweitzer beim Bach-Spielen an der Orgel – (Original Columbia Masterworks 1952)

Ich bezichtige ihn nicht der Sentimentalität, er scheint vielmehr gefesselt und geblendet von der Theorie, die er verficht, und nicht mehr in der Lage nachvollziehbar zu strukturieren, sondern landet immer wieder in den kurzschlüssigen Konklusionen seines selbstverliebten immanenten Denkschemas. Aufrüttelnd oder anrührend ist sein Gesinnungs-Hilferuf schon, aber nicht innovativ. Denn wer oder was ist der Rettungsengel, die Umkehr-Rettung?
Das intensiv gelobte und gehuldigte Übergenie Albert Schweitzer, der sich in nahezu allen wichtigen Lebensbereichen als Professor generalis gerierte, nämlich Theologe und Pfarrer, Musikwissenschaftler, Bach-Biograph, Orgelexperte, Konzertorganist, Mediziner, Kämpfer gegen Atomwaffen, Friedensnobelpreisträger, Philosoph, Ethiker, Kosmopolit, „schlichter Mensch und Diener der Mitgeschöpflichkeit“, war zu Lebzeiten auch ein Meister der Selbstinszenierung, hat sein Hospital nicht modernisiert, mit der Begründung von Tierliebe unhygienische Zustände zugelassen und einen kolonialen Führungsstil gepflegt.
Aus dem Elfenbeinturm einer Zitatenmühle antiquiert-nostalgischer Alma-Mater-Mentalität doziert Eurich in schwelgerischer Vorlesungsmanier und reiht die Widersprüchlichkeiten süffisant aneinander: „Dieses Fach in der Lebensschule trägt den Namen: Bildung des Herzens.“

Konkrete Lebensanhaltungspunkte vermieden

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Mit vagen Statements wie „Die Ethik der Ehrfurcht […] mischt sich in alles ein […] , wo dies notwendig ist“ vermeidet er konkrete Lebensanhaltspunkte überwiegend. Meine Geduld weiterzulesen war spätestens hier zu Ende, doch aus „Ehrfurcht“ vor dem Autor kämpfte ich mich auch durch die zweite Hälfte, denn da sollte es pragmatischer werden. Er verspricht die propagierte „Ehrfurcht vor dem Leben“ in die Gegenwart zu holen und „uns den wohl einzigen Weg der Rettung“ zu zeigen. Gelegentlich hält der Autor inne, um nicht falsch verstanden zu werden: „Menschheit als Schönheit in Entwicklung“, dann sofort aber hätten „wir das Gleichgewicht des Lebens so massiv gestört“ – “ […] dass das letztendlich im Suizid enden muss“. Und die Klage über den „schändlichen Umgang mit unseren nächsten Verwandten, den Tieren“, das Versagen der alten Ethik (sprich europäischen – ausser Albert Schweitzer – anthroposophischen Nische). Schweitzer stellt er als „Pate der modernen Tierschutzbewegung“ heraus.

Flugschrift für die Renaissance eines Humanisten

Claus Eurich - Glarean Magazin
Autor Claus Eurich (geb. 1950)

Die kämpferische Flugschrift für die Renaissance eines verdienten Humanisten, allerdings in einer Art und Weise, die jenseits von wissenschaftlicher Sachlichkeit liegt, liest sich wie das Skript zu einem kontemplativen Entspannungs- und Vertiefungsseminar im „Kampf“ gegen das „Desaströse“ ohne akademischen Diskurs. Bezeichnend auch die persönliche Anrede an den Leser im Stil gewisser Ratgeber-Literatur: du („Fang an, … Lebe schon jetzt deinen Traum und dein Ideal, unbeirrt, dem Leben dienend.“).
Zwar wird vorwiegend auf die Predigt von Albert Schweitzer „Ehrfurcht vor dem Leben“ Februar 1919 rekurriert und aus dessen Ethik-Philosophie zitiert, aber durch die Auswahl und die verwirrende Aneinanderreihung ergeben sich Gegensätze, Widersprüche und gehäufte Wiederholungen, die mehr über den Geschmack oder die Vorliebe des Autor aussagen, als dass sie Schweitzers Theorie schlüssig erhellen. Wenn Eurich am Schluss als Resümee an Franz von Assisi erinnert, dessen Armut Albert Schweitzer in ein „neuzeitliches Gewand“ gekleidet habe, dann erhebt er ihn zum Heiligen oder schwächt sein beabsichtigtes Hofieren des Urwalddoktors ab.
Da möchte ich ihn an sein Zitat aus der Kulturphilosophie Schweitzers verweisen: „Wahre Ethik fängt an, wo der Gebrauch der Worte aufhört“ – und dann das Buch zuklappen… ♦

Claus Eurich: Radikale Liebe – Die Lebensethik Albert Schweizers – Hoffnung für Mensch und Erde, Sachbuch, 120 Seiten, ViaNova Verlag, ISBN 978-3-866-16473-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Kulturgeschichte auch über den Essay von Georg Cavallar: Gescheiterte Aufklärung?

Weitere Internet-Beiträge über Albert Schweitzer

Der GLAREAN-Herausgeber bei Instragram:


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Simone Frieling: Peter Handke (Scherenschnitt)

Literatur-Nobelpreis 2019 an
Peter Handke

von Simone Frieling

Peter Handke

Dichter der Nähe,
der einen Stein aufhebt und ihn wie ein Kind
an sein Ohr hält, um der Stille zu lauschen,
der seinen Weg mit Muscheln säumt,
der einen Fuss vor den anderen setzt,
um die Welt zu erkunden und sich dabei
manchmal verirrt.

Simone Frieling - Peter Handke - Scherenschnitt - Karikaturen - Glarean Magazin
„Literatur ist nichts Künstliches, sie ist die Mitte der Welt.“ (Peter Handke)

Finden Sie im Glarean Magazin weitere Scherenschnitte von
Simone Frieling: Der Kopf des Monats

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… und sehen Sie zum Thema Karikaturen von
Christian Born: Mensch und Computer (Cartoons)

Ausstellungs-Katalog „Schach und Religion“ (Ebersberg)

Geistesgeschichtlicher Blick auf das Schachspiel

von Thomas Binder

An wenigen Tagen im August 2019 fand im Rathaus des oberbayrischen Ebersberg eine Ausstellung unter dem Titel „Schach und Religion“ statt. Trotz Erwähnung auf gemeinhin einflussreichen Homepages hat sie in der klassischen Schach-Öffentlichkeit nur wenig Widerhall gefunden. Nun hat die ausrichtende Schach- und Kulturstiftung ein Begleitbuch zu dieser Schau herausgebracht, das weit über einen Ausstellungskatalog hinaus geht.
Katalogcharakter im herkömmlichen Sinne haben nur die letzten knapp 40 Seiten, auf denen die ausgestellten Exponate (vorwiegend Gemälde und Figurensätze) abgebildet werden. Für diejenigen Werke, die im Textteil des Buches nicht näher besprochen werden, sind die Informationen in diesem Abschnitt leider etwas knapp.

Schach und Religion - Kulturstiftung GHS - Ausstellungs-Katalog - Cover - Glarean MagazinKommen wir also zum gut 100 Seiten langen Textteil. Hier werden wir nicht etwa auf theologische Abhandlungen stossen, sondern erfahren unter dem Obertitel „Schach und Religion“ viel Interessantes aus der Geschichte unseres Spiels. Der religiöse Aspekt dient dabei mal mehr, mal weniger als Leitfaden, wird aber oft genug verlassen, und der Blick reicht deutlich weiter.
Wer sich fragt, was denn wohl Schach und Religion miteinander zu tun haben, dem sei aus der Einleitung zu einem Beitrag des früheren DSB-Präsidenten Herbert Bastian zitiert: Er bezeichnet Schach und Religion als „… zwei Kulturfaktoren mit weltumspannender Bedeutung […] Beide geben ihren Anhängern Halt und etwas Familiäres.“

Leseprobe

Schach und Religion - Kulturstiftung GHS - Ausstellungs-Katalog - Leseprobe - Glarean Magazin
„Schach und Religion“ der Kulturstiftung GHS: Leseprobe aus dem gleichnamigen Ausstellungs-Katalog (Ebersberg 2019)

Autoren mit wissenschaftlichem Anspruch

Den Leser erwarten insgesamt acht Artikel von unterschiedlichem Umfang, denen freilich gemein ist, dass sie von sachkundigen Autoren mit durchaus wissenschaftlichem Anspruch geschrieben wurden. Das mag es dem Leser, der in die Materie gerade erst eintauchen will, hier und da etwas schwer machen. Angesichts der thematischen Vielfalt wird aber wohl jeder historisch interessierte Schachfreund Erkenntnisse und Denkanstösse mitnehmen.

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Der Salzburger Kulturhistoriker Rainer Buland hat mit „Schach – Spiel – Religion“ den Leitartikel (oder neudeutsch: die Keynote) geschrieben. Er gliedert seine Arbeit in fünf Ebenen. Zunächst widmet er sich der Figur des Läufers, der ja in manchen Sprachen eigentlich ein Bischof ist. Dann verweist er darauf, dass viele Theologen dem Schachspiel zugetan waren, es dabei aber im grösseren Zusammenhang als Allegorie verstanden und in ihre Lehre einbanden. Dann geht Buland darauf ein, dass das Spiel durchaus zeitweise als Laster angesehen und gegen solche Vorwürfe verteidigt werden musste. Einen grossen Umfang nehmen die sehr interessanten Untersuchungen zu der Radierung „Die Schachspieler“ von Moritz Retzsch (1779 – 1857) ein. Schliesslich stellt sich der Autor noch der Frage, ob man das Schachspiel selbst als Religion verstehen kann.

Profunde Artikel für Laien und Experten

Herbert Bastian - Schach-Funktionär Buchautor - Glarean Magazin
Verbandsfunktionär, Internationaler Meister, Schachhistoriker: Herbert Bastian

Im zweiten umfangreichen Beitrag beleuchtet Herbert Bastian das Verhältnis von Schach und Religion an Beispielen von den ersten Erwähnungen an bis zur Gegenwart. Bastian ist als profunder Kenner der Kulturgeschichte des Schachspiels nicht zuletzt durch eine umfangreiche Artikelserie in der Zeitschrift „Rochade Europa“ ausgewiesen. Daher an eine breite Leserschaft gewohnt, ist sein Text für den interessierten Laien sogar etwas einfacher nachzuvollziehen, als die doch sehr wissenschaftlichen Ausführungen bei Rainer Buland – gut, dass wir in diesem Katalog beide Herangehensweisen finden.
Den dritten, sehr umfangreichen Artikel verfasste der Altphilologe Wilfried Stroh. Er bietet eine Neuübersetzung (aus dem Lateinischen) sowie eine ausführliche Interpretation der „Schachode“ des Jesuiten und Dichters Jacob Balde (1604 – 1668). Wenn im Vorwort von einem „berühmten Gedicht“ gesprochen wird, verdeutlicht dies die angesprochene Zielgruppe. Als sehr wohl schachhistorisch belesener Interessent, waren mir diese Ode und ihr Autor – Asche auf mein Haupt – bislang völlig unbekannt und selbst der Wikipedia-Eintrag über Balde erwähnt die Schachode mit keinem Wort. Spätestens jetzt ahnt man also, dass die Neuübersetzung und Interpretation dem kritischen Blick der Fachwissenschaft Stand halten wird, ja wohl richtungsweisenden Charakter einer Neubewertung hat. Dementsprechend anspruchsvoll ist für literaturwissenschaftliche Laien allerdings auch die Lektüre des 20 Seiten umfassenden Artikels.

Schachmatt - Geistliche Würdenträger beim Schachspielen - Holzstich von Thure Cederström 1880 - Glarean Magazin
„Schachmatt“ nach einem Holzstich von Thure Cederström 1880: Geistliche Würdenträger beim Schachspielen

Luther und Augustinus beim Schachspielen

Eingebettet in diese drei „grossen Brocken“ finden wir fünf kürzere und in all ihrer Unterschiedlichkeit anregende Texte.
Lokalkolorit zum Ort der Ausstellung steuert Georg Schweiger (Vorstand der ausrichtenden Stiftung) mit dem Artikel über die Schachfiguren der Falkensteiner Grafen bei. Bis ins 12. Jahrhundert lässt sich nachweisen, welche Bedeutung das Spiel in dieser Herrscherfamilie und darüber hinaus für Adel und – als Bezug zum Titel der Ausstellung – für den Klerus hatte. In seinem zweiten Beitrag erläutert Schweiger, warum die Heilige Teresa von Avila (1515 – 1582) die Patronin der Schachspieler ist. Auch hier ist Ihr Rezensent peinlich berührt von einer bisherigen Wissenslücke, hatte ich doch bisher nur Caissa gekannt.

Glarean Magazin - Muster-Inserat - Banner 250x176Mit zwei kurzen Beiträgen ist der Historiker sowie engagierte Schachspieler und -organisator Konrad Reiss vertreten. Reiss dürfte einer grösseren Öffentlichkeit vor allem als Leiter des Schachmuseums in Löberitz bekannt sein. Die beiden Artikel verbinden Schach und Religion in kongenialer Weise mit Reiss‘ mitteldeutscher Heimat. Er stellt uns die Schachallegorie im Dom zu Naumburg vor: Zwei schachspielende Affen an einem Pfeilersims laden zu jeder Art von Interpretation ein. Seinen zweiten Beitrag widmet Reiss der Legende über eine Schachpartie Martin Luthers gegen eine Gruppe von als Bergleute verkleideten Studenten.
Noch weiter zurück führt uns die Kuratorin der Ausstellung Natascha Niemeyer-Wasserer mit ihrem kurzen Exkurs über ein Gemälde von Nicolo di Pietro vom Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts, das den Heiligen Augustinus beim Schachspiel zeigt.

Vielfältiger Blick auf die Schachgeschichte

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Ich hoffe, diese kurze Inhaltsübersicht konnte die Neugier der Leser wecken, sich näher mit den Beiträgen dieses Begleitbuchs zur Ausstellung „Schach und Religion“ zu beschäftigen. Den nicht ganz geringen Preis rechtfertigen neben dem Inhalt der Arbeiten auch die zahlreichen Abbildungen und die insgesamt hochwertig anmutende Gestaltung.
Fazit: Weit über einen Ausstellungskatalog hinaus gehend, bietet das Buch vielfältige Blicke auf die europäische Schach-Frühgeschichte. Die Bezüge zur Religion sind dabei Richtschnur, schränken aber die Vielfalt der Betrachtungen nicht ein. Auch wer sich schon intensiver mit der Historie des königlichen Spiels beschäftigt hat, wird viele neue Erkenntnisse gewinnen, muss sich freilich an einigen Stellen auf das sprachliche Niveau einer wissenschaftlichen Arbeit einstellen. ♦

Schach und Religion – Katalog zur Ausstellung in Ebersberg, Schach- und Kulturstiftung G.H.S., 144 Seiten, ISBN 978-3-00-063173-3

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schachgeschichte auch über
Gerhard Josten: Auf der SeidenStrasse zur Quelle des Schachs

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Mario Andreotti: „Eine Kultur schafft sich ab“ (Rezension)

Wider den Zeitgeist

von Alexander Meier

„Eine Kultur schafft sich ab“ – so der hellhörig machende Titel des neuesten Buches von Prof. Dr. Mario Andreotti, dem ehemaligen Kantonsschullehrer und Lehrbeauftragten für Sprache- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und dem Dozenten für Neuere deutsche Literatur an zwei Pädagogischen Hochschulen. Der Band vereinigt in chronologischer Reihenfolge 52 Kolumnen, die der Autor von 2012 bis 2019 im St. Galler Tagblatt und dessen Partnerzeitungen in den CH Media verfasst hat.

Auch wenn es bisweilen inhaltliche Überschneidungen gibt – die Kolumnen waren ursprünglich nicht zur Publikation in der Form einer Anthologie vorgesehen –, vermag das Buch den Leser von Anfang an zu interessieren, zum Weiterlesen zu animieren. Das liegt nicht nur an den Themen, sondern zu einem grossen Teil auch an der unprätentiösen, klar auf die Sache fokussierte Sprache. Der Autor verfügt mühelos über ein umfassendes Wissen und über profunde Sachkenntnisse. Er wird dennoch nie geschwätzig.

Bildung und Hochschulzugang

Mario Andreotti Eine Kultur schafft sich ab - Beiträge zu Bildung und Sprache - Literatur-Cover Format-Ost - Glarean MagazinWorum geht es Autor Andreotti? Was gibt ihm in der Schweizer Bildungslandschaft zur Besorgnis Anlass?
Zunächst zur Situation an den Gymnasien und das Bologna-System im universitären Bereich: Es ist eine Tatsache, dass der Besuch des Gymnasiums nicht mehr als sogenannter Königsweg zur Hochschule gilt, und dass seine Position mit den Jahren geschwächt worden ist. Mit dem Numerus Clausus an der medizinischen Fakultät wurde das Maturazeugnis fraglos abgewertet. Es verlor zudem an Bedeutung, insofern vor allem in der Westschweiz Studienanwärter über eine rein fachspezifische Aufnahmeprüfung an einer Universität aufgenommen werden können. Unklar ist auch mehr und mehr, was „gymnasiale Bildung“ überhaupt ist. Die Nähe der vage formulierten Allgemeinbildung am Gymnasium zu jener in den Diplom- und Berufsmittelschulen ist unbefriedigend. Mario Andreotti fordert deswegen vom Gymnasium einen wohl definierten, unabdingbaren Bildungskanon, um die Studierfähigkeit seiner Absolventen zu erreichen. Der VSMP (Verein Schweizerischer Mathematiker- und Physiklehrkräfte) hat hier mit einer Projektgruppe bereits Pionierarbeit geleistet und gleichzeitig Fachwissen gegenüber der Pädagogik und Didaktik prioritär behandelt. Ob die Lehrkräfte gefunden werden können, welche diesem Anforderungsprofil genügen, ist freilich eine andere Sache.

Lehren die Gymnasien das Falsche?

Einen unabdingbaren Kanon festzulegen ist das eine. Wer indessen das Niveau der Maturitätsschulen erhöhen möchte, muss sich überlegen, wie wünschenswert es ist, eine möglichst hohe Maturitätsquote im jeweiligen Kanton anzustreben. Mario Andreotti plädiert in diesem Fall für Mut zur Elite. Die Bildung einer Elite sei für den Staat und die Gesellschaft ebenso wichtig wie die Förderung der Schwachen. Das bedeutet einen Abschied von der Idee eines Massengymnasiums, der Rekrutierung von Bildungsreserven, wie es seinerzeit nach dem Sputnik Schock verlangt worden ist.

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Wird an den (Schweizer) Gymnasien das Falsche unterrichtet?

Wird an Gymnasien das Falsche unterrichtet? Nach einhelliger Meinung von Bildungsexperten ist dem so. Der vermittelte Stoff sei zum Teil veraltet, zum Teil sogar mangelhaft. In den Lehrplänen figurierten Vorstellungen, die als Grundlage für ein Hochschulstudium nichts taugten. Mario Andreotti lehnt die Vorwürfe nicht rundweg ab. Zumal das Fächerangebot sei angesichts einer sich rasch wandelnden Gesellschaft mit ständig neuen Aufgaben an den Einzelnen immer wieder zu überprüfen. Doch marginalisierte Fächer wie etwa Geschichte, politische Bildung und Philosophie, aber auch Latein, müssten eine Aufwertung erfahren. Ihnen müsse mehr Raum gewährt werden. Bildung und Ausbildung ist eben nicht dasselbe. Bei der Ausbildung geht es um beruflich direkt Verwertbares und abfragbares Wissen, bei der Bildung hingegen um ein ganzheitliches Wissen, das der humanistischen Bildungsidee verpflichtet ist. Ein rein pragmatisches Denken darf den gymnasialen Fächerkanon nicht zunehmend bestimmen.

„Bulimisches Lernen“

1999 verpflichteten sich 29 europäische Nationen, einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen, das Bologna System einzuführen. Als Signatarstaat der ersten Stunde setzte die Schweiz die Reform zügig um. Als Ziel wurde die Förderung der Mobilität und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Bildungsstandortes Europa anvisiert. Wichtige Eckpfeiler: das dreistufige Studiensystem mit Bachelor, Master und Doktorat sowie das Leistungspunkteprogramm ETCS (European Credits Transfer System). Wohin hat uns Bologna geführt?

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Mario Andreotti kann der Reform wenig Positives abgewinnen. Zwar ist die Mobilität der Studierenden etwas grösser geworden, aber ansonsten bleibt der Bologna Prozess aus seiner Sicht, pointiert ausgedrückt, „eine trübe Baustelle“. Das Sammeln von Kreditpunkten – es scheint besonders stark amerikanischen Universitäten abgeschaut worden zu sein – ist geradezu „leicht grotesk“. Die Studierenden werden offensichtlich als eine Art „Fabrikarbeiter“ definiert, die ihre Präsenz womöglich bald einmal mit einer Stempeluhr registrieren lassen müssen. Zu einer Studienzeitverkürzung ist es dank der erwähnten neu eingeführten Diplome nicht gekommen. Und der wohl gravierendste Punkt: es gibt viel zu wenig Nachhaltigkeit im Lernprozess. Das ECTS- Punkte Sammeln erfordert an jedem Semesterende das Bestehen einer Prüfung, was die Studierenden fast unzumutbar belastet. Zu Recht diagnostiziert Mario Andreotti angesichts dieses Befundes ein „bulimisches“ Lernen: Der Lernstoff wird schnell aufgenommen, um ihn dann ebenso schnell wieder zu vergessen.

Nüchterne Aufklärung im Fokus

Liest man die Kolumne über den Bologna-Prozess, könnte der Eindruck entstehen, der Autor habe sich bisweilen unbewusst von der Formel „prodesse et delectare“ inspirieren lassen, die von der Ars Poetica des Horaz abgeleitet werden kann. Der unterhaltende Aspekt („delectare“) stellt sich indessen primär nur ein, wenn der Gegenstand der Untersuchung plötzlich quasi wie von selbst in einem grotesken oder skurrilen Licht auftaucht. Zur Hauptsache geht es dem Autor ums „prodesse“ (nützen), genauer, um sachliche, nüchterne Aufklärung. Übrigens ohne jegliche Häme. Sein typisches Vorgehen, verkürzt, folgt dem Muster: Observation, Befund, Analyse, Erfragen der Hintergründe, Überlegungen zu möglichen Folgen und – implizit oder explizit – Forderungen.
Nach diesem Prinzip wird auch die Lage an der Volksschule thematisiert. Das Resultat: Die Einführung von Frühfremdsprachen, von neuen Unterrichtsformen und der Lehrplan 21 trüben das Bild beträchtlich ein.

Problematik der Frühfremdsprachen

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Frühfremdsprachen in der Schule: „Ein nicht kindgerechter pädagogischer Irrweg“?

Wenn der Name des Autors Andreotti bei Anglisten erwähnt wird, dann fällt das Echo oft nicht durchwegs positiv aus: “ We are not amused“. Sie sind der Ansicht, das sei doch der Spielverderber, der gegen das Englisch sei. Das grenzt indessen an eine üble Verdrehung der ganzen Wahrheit. Dem Autor geht es vorerst grundsätzlich um die Problematik der Frühfremdsprachen Englisch und Französisch. Deutliche Worte fallen hier. Der Fremdsprachunterricht in der Primarschule ist ein kostspieliger und „nicht kindgerechter pädagogischer Irrweg“. Beweise fehlen, welche belegen könnten, dass die Langzeitwirkung von Frühenglisch und Frühfranzösisch einmal positiv bilanziert werden könnte. Nach den ersten Lebensjahren erwirbt das Kind die Sprache zusehends analytischer, nicht mehr ganzheitlich. Zentral sind dabei das Auswendiglernen von Vokabeln und das Erlernen von Grammatikregeln. Das funktioniert aber erfahrungsgemäss nicht vor dem 10. bis 12. Altersjahr, bis zu einem Zeitpunkt, wo das Kind fähig ist, abstrakter zu denken.

Dringend: Ausbau der Sprachkompetenz

Was müsste geschehen? Mario Andreotti befürwortet in vielen seiner Kolumnen mit Vehemenz und zu Recht einen Ausbau der deutschen Sprachkompetenz unserer Jugendlichen. Und so verwundert es nicht, wenn er fordert, die Stundendotation für den Frühfremdsprachenunterricht müsste dem Deutschunterricht zugesprochen werden. Besonders in der Deutschschweiz. Hier gilt es ja vorerst richtig Hochdeutsch zu lernen. Eine subtile Argumentation, die noch durch eine weitere, durchaus nachvollziehbare Überlegung ergänzt wird. Bei diesem angedachten Szenario könnte in Übereinstimmung mit der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger in Sachen Fremdsprachenerwerb durchaus später begonnen werden. Nach dem Grundsatz: besser spät und intensiv als früh und halbbatzig.

Neues ist nicht immer besser

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Kultur-Rufer und Sprach-Warner: Mario Andreotti

Moderne Unterrichtsformen und die Diskreditierung des guten Frontalunterrichts, in den sich ja durchaus phasenweise andere soziale Lernformen integrieren lassen, führen nach Mario Andreotti in eine Sackgasse. Selbstorganisiertes Lernen, SOL, auf der Primarstufe ist in der Tat schlichtweg eine Überforderung des Kindes. Hier folgt der Autor nachvollziehbar dem Kinder- und Jugendpsychologen Allan Guggenbühl. Die Kinder sind gar nicht in der Lage Lernprozesse selbst zu steuern und fühlen sich gestresst, allein gelassen. Dies zumal auch, da die Lehrkraft lediglich diskret als Coach, als Lernbegleiter ihre Rolle wahrnehmen darf. Wie der Lehrplan 21, Mario Andreotti nennt ihn aus guten Gründen einen „Blindenführer“, mit diesem Konzept kompatibel sein soll, ist recht rätselhaft. Einerseits wollen Bildungsexperten Kindern möglichst viel Freiheit zugestehen, andererseits sollen deren Kompetenzen mit äusserst elaborierten Rastern beurteilt werden.

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Wiederholt realisiert der Leser bei der Lektüre der Kolumnen, dass das Neue nicht immer das Bessere ist. Das gilt schliesslich in besonderem Masse für das Thema Digitalisierung und Schule. Mario Andreotti glaubt nicht, dass die digitalen Möglichkeiten eine erfolgreiche schulische Zukunft in die Wege leiten werden. Es ist schon fragwürdig, dass die Schule mit dem Kauf der neuen Gerätschaften in den Sog des Marktes gelangt und Gefahr läuft, sich an Modellen des unternehmerischen Wirtschaftens zu orientieren und so pragmatisch denkende Menschen heranbilden kann. Er glaubt nicht, dass die Begeisterung für die digitalen Medien die Lernleistung entscheidend erhöhen wird. Untersuchungen geben ihm Recht. Ein Mehrwert auf Grund des Einsatzes dieser Medien ist bis heute nicht nachgewiesen. Doch die Illusion bleibt, nämlich dass das Lernen dank Mausklicks ohne Anstrengung erfolgen kann und die Schüler sich im Grunde alles selbst beibringen können.
Studien der letzten Jahre – man darf wohl auch an die Hattie Studie denken – geben ihm Recht. Erfolgreiches Lernen hängt stark zusammen mit Lehrerpersönlichkeiten, die den Mut haben zu erziehen. Eine Kuschelpädagogik, die den Schülern alles vermeintlich Unangenehme, zu dem übrigens auch Hausaufgaben gehören mögen, abnehmen will, ist nicht zielführend.

Kein Requiem, sondern ein Appell

„Eine Kultur schafft sich ab“ – der Titel des neuen Buches von Mario Andreotti ist nicht als Requiem, als Abgesang auf eine alte Kultur zu verstehen. Es geht vielmehr um einen dringenden Appell, Neues zu überdenken. Viel steht auf dem Spiel. Adressaten sind vor allem die Akteure, welche den neuen Lehrkonzepten zum Durchbruch verholfen haben. Bildungsforscher, Bildungsexperten, Bildungspolitiker. Es richtet sich aber auch an die Öffentlichkeit. Dem hervorragenden Buch ist eine möglichst grosse Verbreitung zu wünschen. ♦

Mario Andreotti: Eine Kultur schafft sich ab – Beiträge zu Bildung und Sprache, 120 Seiten, FormatOst Verlag, ISBN 978-3-03895-013-4


Alexander Meier

Alexander Meier - Anglist - Rezensent Glarean MagazinGeb. 1946 in Basel, Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität Zürich, anschliessend Kantonsschullehrer und Anglist sowie Bezirksschulinspektor und Praktikumslehrer für Englisch, nach der Pensionierung Organisation von Englisch-Weiterbildungskursen und Examinator an Maturitätsschulen, seit 2017 Leiter von Workshops für Englischlehrer in Tanzania (Montessori School), lebt in Oftringen/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin von Mario Andreotti auch den Essay: Sprachwandel oder Sprachzerfall? Wie Jugendliche heute schreiben

… sowie zum Thema Medien und Literatur den Essay: Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebs

ausserdem im Glarean Magazin zum Thema Internet und Sprachkultur: Anton Rinas „ViscaBarca“: Realtalk – Mein Leben als Influencer

Weitere interessante Internet-Beiträge zum Thema Schule und Bildung:

Hauptlernform Projektlernen – Wie geht das? (shift – Schulblog)
Schulvorbereitung – Schuleintritt (Rebecca Finck)

 

 

Europäische Frauenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert

Traditionsbrüche und Erinnerungsarbeit

von Sigrid Grün

Geschichtsschreibung ist niemals völlig neutral, sondern stets ideologisch und subjektiv gefärbt. Die Frauengeschichte, die sowohl Teil der Geschichtswissenschaft als auch der Geschlechterforschung ist, entwickelte sich als Fachgebiet im Rahmen der Frauenbewegung der 1970er Jahre. Damals verstand sich die erstarkende Frauenbewegung als etwas grundlegend Neues. Vorläufer, die es bereits im 19. Jahrhundert gegeben hatte, wurden weitgehend ignoriert. Es zeigt sich also: Die Geschichte der Frauenbewegung ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Der neue Band von Campus: „Erinnern, vergessen, umdeuten?“ arbeitet das Thema auf.

Vom Hexen-Narrativ bis zur Weimarer Republik

Erinnen vergessen umdeuten Frauenbewegungen - Cover Campus Verlag - Rezension Glarean MagazinDie Anthologie „Erinnern, vergessen, umdeuten? – Europäische Frauenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert“ geht auf eine Tagung im Frühling 2018 zurück. Die Teilnehmerinnen bearbeiteten zahlreiche Fragen – die Ergebnisse liegen nun in gedruckter Form vor. In den 15 Beiträgen geht es u.a. um Louise Otto Peters, eine der Mitbegründerinnen der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert und um die Frauenrechtlerin Lily Braun, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Bild der Frau in der Antike, insbesondere mit griechischen Hetären, auseinandersetzte und den hohen Bildungsstand der Prostituierten des Altertums betonte. Es geht aber auch um die „Wirkmacht des Hexen-Narrativs in den europäischen Frauenbewegungen“, um die „Frage nach (fragmentarischen) Traditionsbildungen als Strategie der Mobilisierung eines radikalen Feminismus“ (116) und um Erinnerungskultur nach 1945 und Erinnerungsarbeit im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.

Gedächtnisformen und Medienlogiken

FAZIT: Die Themen Erinnerungsarbeit, Traditionsstiftung und Traditionsbrüche werden in dem Band „Europäische Frauenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert“ des Herausgeber-Trios Angelika Schaser, Sylvia Schraut und Petra Steymans-Kurz auf vielfältige Weise aufgearbeitet. Selbst HistorikerInnen werden hier sehr viel Neues und Interessantes erfahren, denn die Geschichte der Frauenbewegungen ist immer noch ein stiefmütterlich behandelter Bereich. Der Tagungsband wird definitiv so gut wie ausschliesslich ein Fachpublikum aus der Geschichtswissenschaft und Geschlechterforschung sowie der Kulturwissenschaft ansprechen.

Den Frauenrechtlerinnen Helene Lange und Getrud Bäumer ist ebenso ein Text gewidmet wie den konfessionellen und regionalen Brüchen in der Traditionsstiftung der deutschen Frauenbewegung. Hervorzuheben ist, dass sich in dem Band nicht nur Beiträge zur Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland finden, sondern auch Galizien (polnische, jüdische und ukrainische Autorinnen), Italien, Finnland und Schweden betrachtet werden. Sehr aufschlussreich ist Susanne Kinnebrocks Beitrag „Warum Frauenbewegungen erinnert werden oder auch nicht – Zum Zusammenspiel von Gedächtnisformen und Medienlogiken“, in dem es um die Gedächtnisse (kommunikatives, kulturelle, kollektives) von Gesellschaften geht.
Drei der 15 Beiträge sind in englischer Sprache verfasst.

Traditionsverluste durch Diktaturen

Besonders interessant an der Geschichte der Frauenbewegungen sind die zahlreichen Brüche. Die frühe, bürgerliche Frauenbewegung, die in puncto Frauenrechte eine Menge bewegte, u.a. das Frauenwahlrecht erwirkte, lief später häufig Gefahr, entweder völlig ignoriert oder gründlich missverstanden zu werden.

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So bezeichnete die Autorin Renate Wiggershaus die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer in einem ihrer Bücher etwa als „aktive Nationalsozialistin“, obwohl Bäumer 1933 von den Nationalsozialisten all ihrer politischen Ämter enthoben wurde. Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts sind in erheblichem Masse mit verantwortlich für die Traditionsverluste innerhalb der Frauenbewegung.
Es ist überaus erhellend, etwas darüber zu erfahren, welches Bild sich eine Bewegung von der eigenen Geschichte macht und wie sehr Vorläufer in Vergessenheit geraten oder sogar gänzlich umgedeutet werden können. ♦

Angelika Schaser, Sylvia Schraut, Petra Steymans-Kurz (Hrsg.): Erinnern, vergessen, umdeuten? – Europäische Frauenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, 406 Seiten, Campus Verlag, ISBN 9783593510330

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Frauenbewegung auch über das Handbuch von Ann Wiesental: Antisexistische Awareness

… sowie über die Frauen-Biographie von K. Decker: Lou Andreas-Salomé – Der bittersüsse Funke Ich

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Gerhard Oberlin: Deutsche Seele – Ein Psychogramm

Zum Teufel mit Melancholie und Sehnsucht

von Christian Busch

Hoher Schieferfels in grün bewachsener, romantischer Wein- und Burgenlandschaft, grau-weiss gebleichte Wolken am bedeckten Himmel, tief unten rauscht Vater Rhein, plätschernde Wellen, abgründige Strudel, das Ganze in dämmriges Abendlicht getaucht – das berühmte Loreley-Gemälde des russischen Malers Nicolai von Astudin als Buch-Cover kann durchaus zur Lektüre von Gerhard Oberlins jüngst erschienenem Psychogramm „Ich weiss nicht, was soll es bedeuten“ der deutschen Seele verführen. Es illustriert wesentliche Züge der deutschen Seele: Sehnsucht, Melancholie und die Lust am Untergang.

Gerhard Oberlin - Ich weiss nicht was soll es bedeuten - Deutsche Seele - Ein Psychogramm - Cover - MagazinEin Lesebuch über die deutsche Seele könnte manchem als redundanter Anachronismus erscheinen, leben wir doch längst in einer digital-medialen, global vernetzten Gesellschaft, in der die Seele nur noch als konsumtechnisch relevantes Zielobjekt von Interesse zu sein scheint. Wo darf man das Deutsche und womöglich „rein deutsche“ Wesen suchen? Wohl gar in einer multikulturellen Gesellschaft, welche, durchsetzt von mehreren Einwanderergenerationen, kaum noch etwas mit dem einst berüchtigten deutschen Volk gemein hat? „Fack ju Göhte“ oder was? Oder in den grölenden „Schland“-Schlachtgesängen deutscher Fussballfans, die als einzige in schwarz-rot-goldener Bierseligkeit dem Nationalstolz frönen? Und doch hoffentlich nicht in den neonazistischen Parolen alternativer Reichsbürger…

Fehlende Bewusstseinsträger

Philosoph Theodor W. Adorno ("Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch") versus Lyriker Paul Celan ("Der Tod ist ein Meister aus Deutschland")
Philosoph Theodor W. Adorno („Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“) versus Lyriker Paul Celan („Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“)

Vielleicht ist die Frage nach der deutschen Seele deshalb gerade so wichtig, weil es ihr im medialen Einheitsbrei an Bewusstseinsträgern fehlt. Denn Paul Celans Feststellung „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ und Adornos lapidares Fazit, dass man nach Auschwitz kein Gedicht mehr schreiben könne, läuteten zwar nicht das Ende der Auseinandersetzung mit der deutschen Seele ein, markieren aber gewichtige Bremsklötze: Die Stunde Null war gefragt – und mit ihr eine ganze Kulturnation vor der Vernichtung. Ganz recht stellte Thea Dorn 2011 in Bezug auf die deutsche Seele in der ZEIT fest: „Wir haben sie verleugnet und verloren. Aber ohne sie sind wir hilflos. Zeit, sie wieder zum Leben zu erwecken.“

Auch deshalb wird, wer sich auf Oberlins psychoanalytisch begründeten, literarisch belesenen, kulturgeschichtlich phänomenalen und wissenschaftlich fundierten Weg begibt, es nicht bereuen. Denn was – um nur einige zu nennen – beispielsweise Albrecht Dürer, Martin Luther, Wilhelm Müller, Goethe und Heine bis hin zu Leips „Lili Marleen“ verbindet, muss für jeden Deutschen, dem seine Seele – individuell oder auch national-kulturell – wichtig ist, von Interesse sein. Hier ist Oberlin ein glühender Verfechter des seelischen Bewusstseins, das der seelenlosen „Gemütsbesoffenheit“ (Nietzsche) den Kampf ansagt.

Zerrissene deutsche Seele

Reise durch die deutsche Seelen-Landschaft von Albrecht Dürer ("Melancholia") - über Martin Luther ("Eine fest Burg ist unser Gott") bis zu Helene Fischer ("Atemlos")
Reise durch die deutsche Seelen-Landschaft von Albrecht Dürer („Melancholia“) – über Martin Luther („Eine fest Burg ist unser Gott“) bis zu Helene Fischer („Atemlos“)

Denn zweifellos ist die deutsche Seele in ihrer Zerrissenheit Schauplatz widerstrebender Kräfte, wie Friedrich Hölderlins elegischer Charakter Hyperion es wohl am schärfsten und eindringlichsten formuliert hat: „Barbaren von Alters her, durch Fleiss und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark […], in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefässes – […]. Es ist ein hartes Wort, und dennoch sag‘ ich’s, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissner wäre, wie die Deutschen.“

Und so folgt man Oberlin gerne auf seiner literarischen Reise durch die deutsche Seelen- und Kulturlandschaft, die mit Albrecht Dürers Kupferstich „Melancholia I“ (1514) einsetzt. Vom Streben des Unvollkommenen nach Vollkommenheit ist da zu lesen, von Kunst- und Arbeitsperfektionismus versus Erkenntnisstreben. Und wir staunen, dass wir sofort in medias res der Tugenden und Untugenden des blonden Germanen gelangen, der mit akribischer Gründlichkeit und Disziplin nach hohem Ideal strebt und deshalb in des „Teufels Küche“ (nicht erst Faust) gerät. Wir folgen Oberlin u.a. über Luthers „Feste Burg“, Goethes „Faust“ und Wilhelm Müllers „Lindenbaum“, ohne Erich Kästners „Sachliche Romanze“ aussen vor zu lassen, bis hin zu Helene Fischer.

Vergangenheitslastiges Psychogramm

Seicht-verkitschte Vertonung von Heinrich Heine's "Ich weiss nicht was solles bedeuten" durch Friedrich Silcher
Seicht-verkitschende Vertonung durch Friedrich Silcher von Heinrich Heine’s abgründigem „Ich weiss nicht was soll es bedeuten“

Einen Höhepunkt stellt das Kapitel über Heines berühmtes und titelgebendes Gedicht „Ich weiss nicht, was soll es bedeuten“ dar, das mit Friedrich Silchers eben seichter und spannungsloser („Jedermanns-Sentimentalität“) Vertonung gnadenlos abrechnet. Es geht Oberlin eben nicht um oberflächliche Verdrängungsgemütlichkeit, sondern um das Bewusstsein eines abgründigen, existentiellen Dilemmas unerfüllter Liebe, das er sowohl mythologisch kenntnisreich wie auch in Heines Biographie zu orten weiss.
Schwächen zeigen sich eher am Ende des zweifellos vergangenheitslastigen Psychogramms, wenn der Autor sich, statt sich der Literatur des 20. Jahrhundert zu widmen, von der Literatur ab- und der Kultur des deutschen Schlagers und der deutschen Fussballfan-Kultur zuwendet.

FAZIT: Gerhard Oberlins kulturphilosophischer Diskussionsbeitrag „Ich weiss nicht was soll es bedeuten“ ist eine wichtige Veröffentlichung zu einem wichtigen Thema. Sein Buch ist höchst lesenswert, weil es erstaunliche, beziehungsreiche Erkenntnisse über das Wesen des Deutschen in konzentrierter und zugespitzter Form bietet.

Spätestens bei der Behauptung, der Frauenfussball sei in punkto „Dramatik, Kombinationsfluss, Taktik…“ dem Spiel der männlichen Millionäre überlegen, muss an der Objektivität des Autors gezweifelt werden – oder ist es nur fehlender Fussball-Sachverstand? Zwar analysiert Oberlin auch hier schonungslos grotesk anmutende Missverhältnisse in den „faschistischen“ Strukturen eines gesellschaftlichen Millionengeschäftes. Den Leser lässt er jedoch nach so viel Luther, Heine und Goethe etwas ratlos zurück, der eine Verknüpfung, Zusammenfassung, ein Fazit oder wenigstens einen Ausblick vermisst. Eine deutsches Ende in Melancholie?

Das Deutsche zwischen Barbarei und Genialität

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Gerhard Oberlins kulturphilosophischer Diskussionsbeitrag ist – trotz der angesprochenen Schwächen am Ende – eine wichtige Veröffentlichung zu einem wichtigen Thema. Sein Buch ist dabei höchst lesenswert, weil es erstaunliche, beziehungsreiche Erkenntnisse über das Wesen des Deutschen in konzentrierter und zugespitzter Form bietet. Ohne ein endgültiges und fertiges Bild der deutschen Seele zeichnen zu wollen, gelingt ihm eine kluge Annäherung an den ambivalenten, zwischen Barbarei und Genialität facettenreich schimmernden Deutschen. Damit legt er ein ungeheures seelisches Potential frei, das nicht zu nutzen unverzeihlich wäre. In Zeiten der medialen Gleichschaltung und Nivellierung wird so mancher diesen Text zu seiner Vergewisserung gebraucht haben. ♦

Gerhard Oberlin: Ich weiss nicht, was soll es bedeuten – Deutsche Seele – Ein Psychogramm, 168 Seiten, Verlag Königshausen & Neumann, ISBN 9783826067716

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Kulturgeschichte auch über
Deutsche Gesellschaft: Brauchen wir eine Leitkultur?

… sowie über Alessandro Baricco:
Die Barbaren – Über die Mutation der Kultur

Deutsche Gesellschaft: Brauchen wir eine Leitkultur?

Die deutsche Leitkultur als Streit über dieselbe

von Jan Neidhardt

Oliver Weber, Student der Politikwissenschaft und Volkswirtschaft an der Universität Mannheim, hat diesen programmatisch wirkenden Ausspruch des Soziologen Armin Nassehi in seinen Aufsatz „Machiavelli in Deutschland – Die Berliner Republik und ihre Bürger“ aufgenommen, und er eignet sich sehr gut dazu, den Tenor dieses Buches zur Leitkultur-Debatte in Deutschland aufzuzeigen. In „Brauchen wir eine Leitkultur?“ sind 23 unterschiedliche Essays versammelt, die im Rahmen eines Wettbewerbs der Deutschen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit der Deutschen Nationalstiftung 2017 verfasst wurden.

Die unsinnige Idee einer „homogenen“ Gesellschaft

Brauchen wir eine Leitkultur - Mitteldeutscher Verlag - Deutsche Gesellschaft - Rezension im Glarean MagazinDas Thema einer wie auch immer gearteten Leitkultur – im Buch gerne mal polemisch als „Leidkultur“ bezeichnet – ist natürlich kontrovers und muss von verschiedenen Standpunkten aus beleuchtet werden. Einig sind sich alle Autoren letztlich darüber, dass es wichtig ist, selbst erst mal einen Kulturbegriff zu definieren – und dass die heutigen Deutschen keine in sich homogene Gesellschaft darstellen.

Die politische Situation, unter der die Essays entstanden sind, wird in ihnen deutlich gespiegelt. Diese wird natürlich medial in die Öffentlichkeit getragen, und die Debatten darüber werden z.B. in Fernsehsendungen, seit Jahren zunehmend aber auch in den Kommentarspalten sozialer Netzwerke geführt. Eine „Deutsche Leitkultur“ wurde u.a. von Friedrich Merz, der in den Aufsätzen oft auf- und angegriffen wird, ziemlich genau definiert, mit allen Problemen, die das natürlich aufwirft – Leitkultur, die ausschliesst (sehr gut beschrieben bei Lukas Peh), die bedrohlich wirkt oder „den Deutschen“ letztlich als Karikatur seiner selbst zurücklässt, der in Badelatschen und hochgezogenen Socken, würstlessend den ganzen Tag Blasmusik hört und jedem, dem er irgendwo begegnet, erst mal die Hand schütteln muss… Der Schrecken vor einer solchen Leitkulturauffassung steht allen, die dieses Thema in ihren Aufsätzen aufgreifen deutlich ins Gesicht geschrieben. –

Leitkultur als dynamisches Geschehen

Das kann es also nicht sein. Oft geht es eher um als bildungsbürgerlich zu erkennende Ideale, wie der Freiheit der Gedanken, Öffentlichkeit und Zugang zu Bildung. Ein vieldiskutiertes und andererseits auch -kritisiertes Ideal ist die auf einem „Verfassungspatriotismus“ – anstelle einer auf Äusserlichkeiten oder auf nicht von allen geteilten Werten – basierende Leitkultur. Einigkeit besteht jedenfalls letztlich darüber, dass es eine „in Stein gehauene“ (Önder Gedik) Leitkultur weder gibt noch überhaupt geben kann, dass der Begriff der Kultur vielmehr immer ein dynamisches Geschehen umreisst. Ein normativer Leitkultur-Begriff, der genaue Verhaltensmassregeln aufzeigt, im Sinne einer „verordneten Ethik“ (Simon Grothe) wird abgelehnt. Daniel Göttl plädiert in diesem Zusammenhang für praktisches Tun und bringt das ganze auf den Punkt: „Beste Leitkultur – Bring dich ein, dann gehörst du dazu.“ (S.45)

FAZIT: Das Büchlein „Brauchen wir eine Leitkultur?“ ist für den politisch und am Zeitgeschehen Interessierten zweifellos eine Bereicherung. Viele der studentischen Beitragsschreiber verfügen über die Fähigkeit, ihre Gedanken konzise und einleuchtend darzulegen. Wie man sich denken kann, sind hier neben originellen und weniger originelle Beiträge versammelt. Insgesamt aber stellt diese Essay-Sammlung eine interessante Auslegeordnung der aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion dar.

Gut lesbares und anregendes Buch-Konzept

Das Büchlein ist für den politisch und am Zeitgeschehen Interessierten zweifellos eine Bereicherung. Viele der studentischen Beitragsschreiber verfügen über die Fähigkeit, ihre Gedanken konzise und einleuchtend darzulegen. Wie man sich denken kann, sind hier neben originellen und weniger originelle Beiträge versammelt. Vieles wiederholt sich, wie z.B. der (wenngleich wichtige) Hinweis auf den Schöpfer des aktuellen Leitkulturbegriffs Bassam Tibi. Sehr gut finde ich, dass die Seitenzahl für die Aufsätze beschränkt ist, denn hier werden Gedanken gestrafft präsentiert, die sonst naturgemäss dazu neigen, sehr in die Breite zu gehen. Der Lesbarkeit und der Anregung kommt dieses Konzept jedenfalls wohltuend entgegen. ♦

Deutsche Gesellschaft & Deutsche Nationalstiftung: Brauchen wir eine Leitkultur? – Essays, Mitteldeutscher Verlag, 144 Seiten, ISBN 978-3-96311-033-7

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema auch den Essay von
Peter Fahr: Zum Rassismus in der Schweiz

… sowie zum Thema Islamismus in der Rubrik „Heute vor … Jahren“:
Fatwa gegen Salman Rushdie

ausserdem zum Thema Fremde Kulturen über B. Zizek: Formen der Aneignung des Fremden

Weitere Internet-Artikel zum Thema Leitkultur:

Neue Rundschau (Heft 2018-3): Jenseits der Erzählung

Wie verhalten sich Literatur und Geschichte zueinander?

von Heiner Brückner

Geschichte ist narrativ zu berichten, sagt der gesunde Menschenverstand spätestens seit der Bibel. Aber auch von dem, was tatsächlich geschehen ist und wobei man nicht selbst gewesen ist, kann nicht objektiv berichtet werden. Und wenn, dann ist es ebenfalls durch die subjektiven Augen eines einzigen Zeitzeugen betrachtet und registriert worden. Dem Verhältnis von Literatur und Geschichte hat die „Neue Rundschau“ nun unter dem Titel „Jenseits der Erzählung“ eine essayistische Anthologie gewidmet.

Anschaulich in stilistischer Eleganz erzählte Geschichtsschreibung ist ein grosses Leseerlebnis. Das belegen die Bestseller historischer Romane in jüngster Zeit erneut. Oder wie es Theodor Mommsen formulierte, es gehe um „Vergegenwärtigung“. Wegen der gelungenen „Mischung aus bildhafter Erzählkunst und klugen Schlussfolgerungen“ war er für seine „Römische Geschichte“ 1902 als erster Deutscher und zweiter Autor überhaupt mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden. Eben diese Erkenntnisse sind einmal mehr zu verdeutlichen und zu versachlichen, um die Geschichtsschreibung einzuordnen in ein machbares und dennoch hilfreiches und wichtiges Instrumentarium menschlicher Erkennungsmöglichkeiten und möglichen Erkenntnisgewinns.

Neue Rundschau - Jenseits der Erzählung - Buch-Rezension Glarean MagazinWie aber belegen es akademische Historiker oder historisierende Literaten? Den Fragen, die hinter diesem Interesse stehen, hatten sich beim 51. Historikertag 2016 in Hamburg die Historiker Dirk van Laak aus Leipzig, der Berliner Michael Wildt, die Augsburger Silvia Serena Tschopp, die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch, der Literat Per Leo sowie der Historiker und Publizist Gustav Seibt gewidmet. Die „Neue Rundschau“ hat in ihrer neuesten Ausgabe (129. Jahrgang 2018, Heft 3) jenes Thema „Jenseits der Erzählung“ zum Schwerpunkt gewählt und die (vorläufigen) Ergebnisse gesammelt.

Recherchierte Befunde mit literarischer Finesse präsentiert

Dirk van Laak beginnt mit der titelgebenden Frage nach der Form in Literatur und Geschichte. Er weist darauf hin, dass die beiden Begriffe „Geschichten und Geschichte“ nicht nur sprachlich nahe beisammen seien, sondern auch in ihrer Absicht auf Erkenntnis. Die Grenze liege dort, wo das Faktische zu blosser Narration oder zu Fake News wird. Ansonsten werde der Historiker keineswegs daran gehindert seine gut recherchierten Befunde mit „literarischer Finesse“ zu präsentieren.
Dass aktuell keine „mittelalterliche Finsternis“ bei den Funktionen anschaulicher Details im historischen Erzählen vorherrsche, schildert Gustav Seibt in seinem Beitrag.

Per Leo - Historiker Schriftsteller - Glarean Magazin
Literarischer Historiker und historisierender Literat: Per Leo (Geb. 1972)

Der „literarisierende Historiker und historisierende Literat“ (laut Eigencharakteristik) Per Leo überschreibt seinen Kommentar „Leos Kreuzgang“ und untertitelt „Die Schlacht zwischen literarisierender Historie und historisierender Literatur“. Er legt darin als Paradigmen für die Schnittstelle zwischen Literatur und Geschichte die „Kämpfe um Troja für die Epik Homers“ wie die „Perserkriege und der Peloponnesische Krieg für die Geschichtsschreibung von Herodot und Thukydides“ vor. Sowohl der archaische Mythos wie die klassisches Chronik hätten somit zu neuen Formen sprachlichen Ausdrucks gefunden. Sein Beitrag ist ein lebhaftes sprachliches Dokument für die erörterten Thesen.

Geschichte als Referenz

Die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch betont im Interview mit Michael Wildt, ihren Unterschied zu den akademischen Historikern. Für sie sei die „Geschichte als Referenz wichtig“, weil sie interessiere, „wie sich die Dinge entwickelt“ hätten. Und das nicht lediglich aus „Loyalität gegenüber den Fakten“, sondern weil ihre Denkweise mit „rationaler Auseinandersetzung“ zu tun habe.
Im Abschnitt „Lyrikradar“ zeigen die Lyriker Durs Grünbein, Brenda Hillman und W. S. Merwin in komplexen und formal individuell gestalteten Gedichten ihre Art Ereignisse der zeitlichen Gegenwart zu poetisieren. Das ist teils sehr gegenständlich gestaltet und teils auch sehr sachlich ausgedrückt wie bei Merwin in „Der Fluss der Bienen“: „Aber wir sind nicht hier um zu überleben / Zu leben genügt“.

Demonstrationen experimenteller Lesart

FAZIT: Die Aufforderung Friedrich Nietzsches in „Unzeitgemässe Betrachtungen“, dass die „Geschichte zu bewachen“ sei, „dass nichts aus ihr herauskomme als eben Geschichten, aber ja kein Geschehen!“, haben sich alle Autoren, die in der „Neuen Rundschau“ Diskussionsbeiträge und teils Ergebnisse des 51. Historikertags von 2016 in Hamburg unter dem Titel „Jenseits der Erzählung“ (Heft 2018-3) veröffentlicht haben, hinter die Gedanken geschrieben und in jeweils fachspezifischem Blickwinkel entfaltet. Sie waren bemüht wahrhaftig gegen sich und andere und zu den Fakten zu sein.

Über die Fachwissenschaft hinaus an alle Leser richten sich die von einer Kulturwissenschaftlergruppe „historisch-spekulativ“ kommentierten drei behandelten Kapitel 19, 46 und 50 des Melville-Romans „Moby Dick“. Ihnen geht es um „Präsentation einer wichtigen Quelle zum Verständnis“ ebenso wie darum, eine „experimentelle Lesart“ zu demonstrieren.
Der Romanautor Thomas von Steinaecker exemplifiziert im Abschnitt „Unvollendetes“ Arbeitsweise und Wesen eines Künstlers am „unabsichtlich unvollendeten Kunstwerk“ in der Musik, indem er die Frage zu beantworten versucht: Die Neunte (Sinfonie) ein Fluch? Wie in einem Szenario eines „Mystery-Krimis“ kommt er zu erstaunlich mysteriös klingenden Erkenntnissen, wenn er das Schönberg-Diktum „Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe“ auf seine Faktizität hin untersucht.  Als Filmbeispiel hat er Stanley Kubricks „Napoleon“ ausgewählt.

„Carte Blanche“ mit literarischen Überraschungen

Die „leeren Seiten“ (Carte Blanche) füllen unterschiedliche literarische Überraschungen: Texte von Silvia Bovenschen „1968“, Katharina Sophie Brauer mit „Fliehkraft“, Rüdiger Görner „Als K. Hamlet sah und hörte“ sowie der Maler Michael Triegel mit seinem „beglückten“ Versuch „Der göttliche Blick“ bei seiner Leipziger Poetikvorlesung nebst Josef Haslingers dazugehöriger Einleitung.
P.S: Der beiliegende Folder ist textlich gesehen genial und auch optisch optimal umgesetzt. In 13 Zeilen nennt María Cecilia Barbetta die Technik des Schriftstellers und stellt sie auf dem gefalteten Papier vor Augen. Nur wer von hinten und von vorne –– liest, versteht das Ganze, das Gesamte. In einer Richtung betrachtet ergäbe sich das Gegenteil… ♦

Neue Rundschau (Heft 2018/3): Jenseits der Erzählung – Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte, 240 Seiten S. Fischer Verlag, ISBN 978-3-10-809115-6

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Literatur und Geschichte auch über Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit

… sowie über den DDR-Roman von Roswitha Quadflieg und Burkhart Veigel: Frei

… und in unserer Rubrik „Vergessene Bücher“ über den Roman von Richard Llewellyn: So grün war mein Tal


Georg Cavallar: Gescheiterte Aufklärung? (Essay)

Vom Streben nach Rationalität

von Heiner Brückner

Aufklärung ist seit Jahrhunderten ein fortwährender Prozess des Geisteslebens und menschlichen Denkkraftvermögens. Angesichts des Zeitalters von „religiös legitimiertem Terrorismus“ und unversöhnlichen Meinungslagern, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus den Augen zu verlieren scheinen, stellt sich offensichtlich die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des vernunftgesteuerten Geistes eher als eine lahme Ente denn als eine schnelle Brieftaube dar.

Georg Cavallar Gescheiterte Aufklärung - Ein philosophischer Essay - Cover Rezension Glarean MagazinUm das „Wie“ geht es im Essay „Gescheiterte Aufklärung?“ von Georg Cavallar, dem Wiener Philosophiedozenten aber nicht, sondern um das „Was“. Was ist am Ende der Gewinn, die Erkenntnis, die umgesetzt wurde und somit erkannt werden kann? Er versucht den Ballast aufklärerischer Ideen in der gesellschaftlichen Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert in ihrer Vielschichtigkeit zu sichten und für die allgemein gebildete Leserschaft nachvollziehbar darzustellen. Dem Autor kann man bescheinigen, dass er seine Ausführungen nicht in reinem Fachwissen mit Schlagwörtern wie „normativer Universalismus“ oder „Toleranzbegründungen“ verklausuliert hat. Das sei bereits auf abertausenden Seiten von Detailexperten geschrieben worden. Cavallar bezieht klar Stellung zu den diversen Meinungen und Strömungen, wägt ab und legt dar, was Aufklärung alles sein kann. Insbesondere in der Abgrenzung des europäischen Abendlandes zum Islam würden die „Bilder“ respektive die Sichtweisen des Begriffs „Aufklärung“ schnell zum „Kampfbegriff“ erklärt. Historisch betrachtet, sind allerdings sehr wohl epochenspezifische Gewichtungen auszumachen und unterscheidend zu berücksichtigen.

Verständnisfördernde Begriffserklärungen

Georg Cavallar (Geb. 1962)
Georg Cavallar (Geb. 1962)

Ein Beleg seiner beabsichtigten Vorgehensweise für eine leserfreundliche und verständnisfördernde Begriffsklärung in diesem Essay ist beispielsweise die Gedichtinterpretation zu Kants „Der Affe – Ein Fabelchen“ aus dem Flaggschiff der Aufklärungs-Flotte „Berlinische Monatsschrift“ von 1784. Dadurch werden Klischees und Zerrbilder nachvollziehbarer zurechtgerückt und fokussiert als durch theoretisierende Termini. Eine weitere Verständnishilfe bietet seine Aktualität mit „Gegenwartsrelevanz“, die sich etwa an der viel diskutierten, aber zu kurz gegriffenen These vom „Gewalt-Dämon“ Islam erweist. Dagegen sei eine „kritische Analyse unseres kausalen Denkens“ zu setzen.
Gegen anderslautende Anschauungen konstatiert Cavallar, dass der Transformationsprozess der europäischen Aufklärung stärker theologisch geprägt war und in der Methodik zu einer Trennung von Theologie und Geschichtswissenschaften tendierte. Die religiöse Aufklärung wird am interessanten Teilaspekt der Kant’schen Radikalisierung in dem Sinne konkretisiert, dass er an die Wurzeln geht.
Nach einer Befunderhebung zeigt der Autor im 2. Kapitel die Grenzen der überzogenen „Vernunftgläubigkeit“ auf.

Aufgeklärtes Denken mit Humor, Satire und Zynismus

Immanuel Kant - Beantwortung der Frage - Was ist Aufklärung - Glarean Magazin
Philosoph Kant in seiner „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ vom Dezember 1783 in der „Berlinischen Monatsschrift“ (1784): „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Im dritten Abschnitt sind Humor, Satire und Zynismus ebenso unverzichtbarer Bestandteil dieser Denkart und ermöglichen einen Perspektivenwechsel zur Abwehr von Aberglauben, Fanatismus oder Vorurteilen. Der aktuelle Bezug ist nicht zu überlesen. Selbst in der Moral, Ethik oder im Recht gebe es keine Einheitssprache für eine eindeutige Verständigung. Kants Frage: „Was ist Aufklärung?“, oder von Blochs Philosophie, an deren Ende eine Provokation steht, nämlich: „Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende“1 gelten nach wie vor.
Aufklärungsprozesse fänden gemeinschaftlich und öffentlich statt, deswegen seien alle Urteile auf dem „Forum der kritischen Vernunft“ zu überprüfen. Da sie dem Zweck der Mündigkeit dienen soll, sei auch Selbstkritik unabdingbar vorauszusetzen.

„Was kann ich wissen?“

Was Cavallar als Positivum festhält, ist, dass die europäische Aufklärung immerhin die „vielleicht wichtigste“ aller Fragen stellte, die da heisst: Was kann ich überhaupt wissen? Häufig habe es „zutreffende Antworten“ in den drei vergangenen Jahrhunderten gegeben, doch es würden andere weiterhin zu diskutieren bleiben.

FAZIT: Georg Cavallar meint in seinem Philosophischen Essay „Gescheiterte Aufklärung?“, dass der Mensch die Schwachstelle der Aufklärung sei und bleibe. Deshalb bleibe es fragwürdig „pauschal von einem ,erleuchteten Bewusstsein‘ zu sprechen“. (S. 190) Das Ergebnis dieses kompakt und umfassend gearbeiteten Essays klingt auf dem Hintergrund des bisherigen abendländischen Bildungsniveaus nach dem gesunden Menschenverstand und somit nach einer simplen Erklärung für den ewig andauernden Prozess des aufklärenden Denkens. Was es wohl auch sein muss, wenn wir nicht in „beliebiger Subjektivität verhaftet“ (S. 95) bleiben wollen.

Cavallar: Weil Ideale zu keinem Zeitpunkt vollständig verwirklichbar seien, könnten sie auch jederzeit scheitern. Die „Aufklärung“ wird folglich ein Kampf gegen eine vielköpfige Hydra bleiben. Ziel könne nur sein und müsse bleiben, dass der Mensch „sich nicht als Vernunftwesen“ aufgibt. Cavallar selbst ist der Auffassung: „Das zentrale Problem sind daher die Menschen, die etwa aufklärungsunwillig oder -unfähig sind, nicht die Aufklärung selbst.“ (S. 186)
Mit dem Bild von der Gartenarbeit – kultivieren, pflegen, vervollkommnen, hoffen – wird die Argumentation noch einmal pragmatisch. Ein Zitat aus dem einstigen Kultfilm „The Big Lebowski“ beendet den Essay. Frei übersetzt: „Komm, lass uns kegeln gehen.“ Das ist eine angewandte aufgeklärte Nutzanwendung…♦
1 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1974

Georg Cavallar: Gescheiterte Aufklärung? – Ein philosophischer Essay, 202 Seiten, Kohlhammer Verlag, ISBN 978-3-17-035482-1

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Aufklärung auch über Carsten Priebe: Eine Reise durch die Aufklärung (Die Ente von Vaucanson)

… sowie zum Thema Kulturgeschichte über Alessandro Baricco: Die Barbaren – Die Mutation der Kultur

Weitere Internet-Seiten zum Thema Aufklärung:


 

Alessandro Baricco: Die Barbaren – Über die Mutation der Kultur

Qualitäten der Veränderung

von Heiner Brückner

Die Ideen des schriftstellerisch sehr agilen Turiners Alessandro Baricco in seinem neuen Sachbuch „Die Barbaren“ spielen Pingpong. Ist es richtig oder nicht oder ist doch etwas dran, an dem, was aus dem Blätterwald und der globalen Medienmaschinerie zwitschert? Die Barbaren seien da, überall. Ein Genozid stehe uns bevor. Wir würden unterwandert.

Der Autor wollte die Invasoren sehen, ihre Taten erkennen. Täglich schrieb er eine Kolumne darüber oder dazu und brachte sie in der Zeitung „La Repubblica“ heraus. Das Phänomen beschäftigte ihn dermassen, dass er 30 solcher Glossen zu einem Essay gebündelt hat und in ein Buch pressen liess, von dem er schreibt, dass es „vor nichts zurückschreckt“ und ein „Essay über die Ankunft der Barbaren“ sei. Das könnte man irgendwie gesellschaftspolitisch auffassen. Aber die Kunst des Kolumnisten besteht darin, anhand der Infizierung des Kulturlebens das Politische einzubeziehen, ohne es explizit zu benennen. Somit enthält er sich der Meinungsmache.

Was so alles geschieht auf dem Globus

Alessandro Baricco - Die Barbaren - Über die Mutation der Kultur - Hoffmann und Campe - Rezension Glarean MagazinWas so alles geschieht auf diesem Globus, den einige derer, die ihn bewohnen, Erde nennen, und den jene, die darauf hausen, zum Spielball ihrer Überlebensstrategien oder ihres exaltierten Machtstrebens gestalten – das will der italienische, musisch angehauchte Philosoph Alessandro Baricco durchschauen. Er macht sich in diesem Sachbuch an ein Mammutunterfangen, denn gesellschaftliche Veränderungen innerhalb einer Kulturgeneration auch nur im Ansatz erfassen zu wollen, ist nahezu niemandem gelungen. Wie will ein Journalist aus Lust an der täglichen Denkvermittlung für den Leser von La Repubblica das schaffen? Das allein dürfte ebenso ein barbarischer Akt sein. Hat er womöglich mit seinen Folgen einer Durchdringung kultureller Erscheinungsformen unserer globalen Welt jemanden beeinflusst oder etwas bewirkt?

Diese Fortsetzungsgeschichten wollen kein Roman sein. Sie beschreiben lediglich nach Autoransage die unausweichlichen Veränderungsfolgen: Die Barbaren sind im Anmarsch und mit ihnen – gefühlt – die Apokalypse. Im Plauderton baut er Lesererwartungen auf, die er nach und nach in zwei, drei Sätzen zur Entspannung führt. Für ein Sachbuch wird meines Erachtens sehr viel um die Sache herum erzählt und lenken direkte (virtuelle) Leseranreden scheinbar vom Thema ab.

Revolution oder Invasion?

Geb. 1958 in Turin, Studium der Philosophie und Musikwissenschaft, anschliessend in der Werbebranche sowie als Journalist, Schriftsteller und Herausgeber tätig, mehrfach mit Preisen ausgezeichnet: Alessandro Baricco
Geb. 1958 in Turin, Studium der Philosophie und Musikwissenschaft, anschliessend in der Werbebranche sowie als Journalist, Schriftsteller und Herausgeber tätig, mehrfach mit Preisen ausgezeichnet: Alessandro Baricco

Wie das aussieht, wie sich das auswirkt? Ich lese mit Luchsaugen weiter. Das neue Duell scheint nicht um strategische Positionen zu streiten, sondern will „die ganze Landkarte verändern“. Es scheint eine einfache Schlussfolgerung zu sein, doch das Wie ist der interessante Hauptteil dieser barbarischen Sachgeschichten.
„Die Genialität der Barbaren“ sei eine absonderliche Qualitätsvorstellung. Qualität – auf dem Buchmarkt etwa – verlagerte sich vom Wert des Autors auf die Wertigkeit beim Leser. Klingt das nach Revolution oder Invasion? Märkte befriedigten Bedürfnisse, sie schaffen sie nicht, behauptet Baricco. (Das lässt mich aufmerken: Denn, wenn ich einen Gedanken weiter denke und mich auf die Ursachen besinne, dann tun sie es doch. Oder „promoten“ sie die Bedürfnisse nicht, bevor sie sie mit den beworbenen Produkten befriedigen?)

Die Veränderung als Energiestrom

Um die Barbaren verstehen zu können, nimmt er sie ernst und fragt zunächst nach: Wer sind die Eindringlinge? Wir sehen Plünderungen, aber nicht die Invasion. Den Sinnverlust belegt er am Beispiel der (unscheinbaren) Phänomene Wein, Fussball und Bücher.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Europäer Kaugummi zu kauen und die Amerikaner „Hollywood-Wein“ zu trinken. Die verändernde Folge des Weinpanschens nach Einschätzung des Italieners: „Wein ohne Seele“. Soll ich daraus folgern: Welt ohne …? Der Autor hat mich dazu animiert, aber überreden will er mich nicht zu seiner gedankenspielerischen Sichtwiese. Ermuntern will er zu einem erweiterten Blickradius, weil wir im Allgemeinen keine Lust hätten, „etwas besser zu machen“. Wie wäre es die Veränderung als Energiestrom zu begreifen?
Im zweiten Komplex untersucht er in einem aktuellen Google-Porträt das „barbarische Tier“ und schlussfolgert, dass es gegen jede Tradition anläuft. So viele Umrisse hat er durch das Skizzieren „technologischer Neuerungen, kommerzieller Raserei, Spektakularität, moderner Sprache und Oberflächlichkeit“ und nicht sehr viel mehr Konturen zeichnen können. Die Skizze „überschreitet“ vorhandene Qualität mit Neuerungen. Das sei eine Anmassung, denn es „atmet mit Google-Kiemen“. Aber historisch gesehen wird es ein „Durchgangssystem“ bleiben. Für Spektakularität führt er das Kino als Paradebeispiel an.

FAZIT: Alessandro Baricco hält in seinem neuen Buch „Die Barbaren – Über die Mutation der Kultur“ die Balance zwischen lockerer Besorgnis und gelassener Sachlichkeit. In freundlichem Plauderstil informiert er über eine Sicht auf die kulturellen Veränderungen aller Zeiten. Wer diese Seiten gelesen hat, wird einen Deut realistischer einschätzen können, was die weltweiten Änderungsströmungen verursachen könnten, aber vielleicht doch nicht auslösen müssen. Denn seit Menschheitsbestehen seien es Mutationen gewesen, die den Fortschritt brachten. Lesenswert.

Der fremde Mutant fasziniert durch Verlieren seiner Seele – er verzichtet auf Unterordnung unter das „Wohlwollen einer göttlichen Autorität“. Deswegen könnten Barbaren mit der Seele überhaupt nichts anfangen. Er exemplifiziert das Seelenleben als Spiritualitätserfindung des 19. Jahrhunderts an der klassischen Musik. Sie gelte als „präziseste Form“ des „Zwischenreichs“ zwischen dem „Menschentier und der Gottheit“. Er pointiert es auf die Frage: „Was kannst du mit Schubert anfangen, wenn du versuchst [wie die Barbaren es tun], ohne Seele zu leben?“ Das ist der Stil, in dem Baricco zusammenfasst und munter philosophisch-witzig in nonkonformen Denkwendungen mit dem Leser über unterschwellige Vereinnahmung unserer Kultur durch die fremdartigen Veränderungen plaudert. Barbaren seien keine „krankhafte Degeneration“, auch sie hätten eine Logik, nämlich die, zu überleben im bestmöglichen Lebensraum. So simpel sei dieses An-Sinnen. Immer wieder blitzt die Methode des Autors durch: das total unkonventionelle Denken und das pfiffige Formulieren seiner Gedanken.

Mutation gleich Fortschritt

Den Epilog verfasst er von der Chinesischen Mauer herab. Will er mit dieser Location einen künftigen Kulturhoheitsraum andeuten? Er redet nicht ein nur ein bisschen schön, um zu relativieren oder zu nivellieren oder gar zu verharmlosen. Er bietet kein veralberndes Kabarett, Slapstick oder Klatsch-Comedy. Er wandert sicher auf dem schmalen Grat geistreich-humoristischer Ironie.
Sehr gerne habe ich mich in dieses Buch auf „die Reise für geduldige Wanderer“ vertieft. Vor allem wegen der lebendigen Sätze, die keinen langen Lektorierungsschliff ausgesetzt worden sind. Positiv schimmert die gelungene Übersetzung ins Deutsche durch alle Zeilen, weil sie ohne unnötige Anglizismen auskommt und „neudeutsche“ Adaptionen vermeidet.

Balance zwischen Besorgnis und Sachlichkeit

In meiner Nutzanwendung gelange ich zu der Schlussfolgerung: Ein bedrohlicher Barbar kann das nicht geschrieben haben. Es muss ein abendländisch aufgeklärter Geist gewesen sein. In diesem Sinne habe ich mich auch nicht durch Lektüre seiner zuvor veröffentlichten Schriften in eine Vereinnahmungsprägung verführen lassen, sondern werde sie sozusagen im Nachgang „bewandern“. Zerstörung ist „geistiger Umbau“, der überrascht, wenn wir die Lasten unserer Erinnerungen noch mit uns herumtragen.
Alessandro Baricco hält in seinem neuen Buch „Die Barbaren – Über die Mutation der Kultur“ die Balance zwischen lockerer Besorgnis und gelassener Sachlichkeit. In freundlichem Plauderstil informiert er über eine Sicht auf die kulturellen Veränderungen aller Zeiten. Wer diese Seiten gelesen hat, wird einen Deut realistischer einschätzen können, was die weltweiten Änderungsströmungen verursachen könnten, aber vielleicht doch nicht auslösen müssen. Denn seit Menschheitsbestehen seien es Mutationen gewesen, die den Fortschritt brachten. Lesenswert. ♦

Alessandro Baricco: Die Barbaren – Über die Mutation der Kultur, 224 Seiten, Hoffmann und Campe Verlag, ISBN 978-3-455-40580-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Kulturgeschichte auch den Essay von Rolf Stolz: Die Kultur-Utopie Europa

…sowie über Rudolf Grosskopff: Unsere 60er Jahre

Weitere Internet-Artikel zum Thema Kultur & Geschichte

Manfred Herbold (Hrsg.): Fernschach und Kunst

Schach im Zentrum des Ästhetischen

von Walter Eigenmann

Die beiden geistesgeschichtlichen Ausprägungen Schach und Kunst ideell miteinander in Beziehung zu setzen ist heutzutage trivial. Denn diese zwei Kulturphänomene haben, nach beiderseits vielhundertjährig dokumentierter Historie, derart viel an sozial wirksamer Ästhetik angehäuft, und der Fundus an Kunstwerken, den die Maler, Bildhauer, Musiker, Literaten und Filmemacher zum Thema Schach generiert haben, ist derart beeindruckend, dass es längst selbstverständlich geworden ist, Schach und Kunst in einer Linie zu denken. Auch die spezifische Legierung „Fernschach und Kunst“ reiht sich vielfältig in diese Tradition ein.

Manfred Herbold - Fernschach und Kunst - Cover - Glarean MagazinBeschränkt man die beiden Begriffe Schach und Kunst erst mal auf jene 64 Felder, deren Brett für wahre Schach-Adepten die Welt bedeutet, könnte einerseits über Schach-Kunst, andererseits über Kunst-Schach geredet werden. Beides manifestierte sich in legendären Partien und in berühmten Studien. Wer im Netz entsprechend recherchiert, gerät an hunderte eindrückliche Protagonisten bzw. Urheber dieser beiden „Richtungen“.

Aufregende symbiotische Beziehung

PC-aufgepeppter Springer mit Widder-Horn: Bild von Rosmarie Pfortner zu ihrem ersten Zug Sg1-f3
PC-aufgepeppter Springer mit Widder-Horn: Bild von Rosmarie Pfortner zu ihrem ersten Zug Sg1-f3

Doch hier soll die Rede sein von einer dritten, oben bereits erwähnten Beziehung der kulturgeschichtlichen Manifestationen Schach und Kunst zueinander, nämlich vom Schach als Gegenstand von Kunst. Denn das ist just das Thema eines neuen Bildbandes namens „Fernschach und Kunst“, der unterm Motto „Symbiose aus Kunst – Schach – Literatur“ von Manfred Herbold herausgegeben wurde. Das Buch ist quasi die Abschlussarbeit zu einer Fernschach-Partie zwischen den zwei Bildenden Künstlern Rosemarie J. Pfortner und Helmut Toischer, wobei die beiden Kontrahenten jeden ihrer Schachzüge mit eigenen Kunstwerken buchstäblich untermalten.

Idee und Initiative zu einem solchen bildnerisch drapierten Korrespondenz-Schach-Projekt gehen auf Uwe Bekemann vom Deutschen Fernschachbund zurück. Bekemann selber in seinem Vorwort zum Buch: „Wenn zwei Künstler Fernschach spielen und ihre Züge um begleitend geschaffene Kunstwerke bereichern, entsteht ein neues, sehr eigenständiges Kunstwerk. Die Bilder können Gefühle ausdrücken, Brettsituationen künstlerisch interpretieren, das Tagesgeschehen kommentieren und mehr. So entsteht eine Symbiose aus Fernschach und Kunst“.

96 mal Schach und Kunst

"Der Boden hat sich geöffnet": Bild von Helmut Toischer zu seinem letzten Zug Kb8-a8
„Der Boden hat sich geöffnet“: Bild von Helmut Toischer zu seinem letzten Zug Kb8-a8

Der erste Zug wurde im Dezember 2013 von Pfortner mit Weiss gespielt, und im Internet erhielt die Partie sogleich eine eigene, von der interessierten Leserschaft emsig frequentierte Webpräsenz – Zug um Zug abwechselnd versehen mit Zeichnungen, Collagen und Grafiken. Toischer gab schliesslich im Dezember 2017 das Game im 48. Zug auf: „Der Boden hat sich geöffnet, der Sturz in die Tiefe konnte nicht mehr verhindert werden…“ Wen die ganze, schachlich wechselhafte, aber durchaus amüsante Partie interessiert, kann sie hier nachspielen und als kommentiertes PGN-File downloaden.

Maler, Grafiker, Schachspieler: Helmut Toischer
Maler, Grafiker, Schachspieler: Helmut Toischer

Der neue Hochglanz-Band „Fernschach und Kunst“ dokumentiert alle 96 Kunstwerke und erweitert den künstlerischen Aspekt noch um das Literarische. Denn ein eigens zur Partie ausgeschriebener Literaturwettbewerb zeitigte diverse Kurzprosa-Texte zu einzelnen Schachzügen, u.a. von Jan Rottmann, Marina Vieth, Sylvia Bauer-Pendl, Wolfgang Breitkopf und Michaela Lang.

Malerin, Porträtistin, Schachspielerin: Rosemarie J. Pfortner - Glarean Magazin
Malerin, Porträtistin, Schachspielerin: Rosemarie J. Pfortner

Das Buch ist drucktechnisch und layouterisch sehr ansprechend gestaltet und liest sich anregend. Die Vielfalt der künstlerischen Motive ist verblüffend, wobei die beiden Künstler phantasievoll und kontrastreich, aber nie experimentell unterwegs sind. Pfortners stilistischer Fokus lag dabei offensichtlich bei der grafischen Collage und beim Portraitieren berühmter Schachgrössen, während sich Toischer v.a. zeichnerisch dem Gegenstand Schach näherte und dabei betont Partie-situativ vorging.

Würdiger Abschluss eines originellen Projektes

FAZIT: Von 2013 bis 2017 spielten die beiden Bildenden Künstler Rosemarie J. Pfortner und Helmut Toischer in aller Öffentlichkeit eine Fernschach-Partie – und garnierten dabei jeden ihrer Züge mit einer eigenen Zeichnung, Malerei oder Grafik. Abschluss und Höhepunkt dieser „Weltneuheit“, wie diese vierjährige, reich bebilderte Partie von Initiant Uwe Bekemann (vom Deutschen Fernschachbund) genannt wurde, ist nun ein schön konzipierter, kontrastreicher Bildband, der alle 96 Schachzüge der beiden Schach-Künstler und ihre ebenso vielen Bilder kollektierte. Herausgeber Manfred Herbold ist ein anregend gestaltetes, auch noch mit Schach-Literarischem ergänztes Buch gelungen.

„Fernschach und Kunst“, von Herausgeber Manfred Herbold sorgfältig betreut und in den Medien präsentiert, ist zweifellos ein würdiger Abschluss eines FS-Projektes, das damals etwas vollmundig, aber durchaus korrekt als „Weltneuheit, die es zuvor auf der Erde in dieser Form noch nicht gegeben hat“ angekündigt wurde. Der Band fügt dem schon bestehenden riesigen Fundus an historischem Bild-Material zum Thema Schach eine weitere interessante Facette hinzu. Wer als Schach- oder als Kunst-Freund über den Rand des Brettes bzw. der Staffelei hinausblicken möchte, wird es also mit Gewinn in sein Regal stellen. ♦

Manfred Herbold (Hrsg.): Fernschach und Kunst – Symbiose aus Kunst-Schach-Literatur, Partie und Bilder von Rosemarie J. Pfortner & Helmut Toischer; Vorworte von S. Busemann (BdF), U. Bekemann, M. Stenzel (Saarländische Schachkultur); 144 Seiten Hochglanz, ISBN 978-3-947648-12-2

Lesen Sie im Glarean Magazin zur Kulturgeschichte des Schachs auch über die
Schachzeitschrift Caissa: Magazin für die schachhistorische Forschung