Gerhard Josten: «Aljechins Gambit»
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Exquisiter Roman um ein unsterbliches Schach-Genie
Thomas Binder
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Wenn es mir gelingt, einen Roman an einem Tage komplett durchzulesen, ist damit eigentlich schon genug des Lobes gesagt: Gerhard Josten hat es geschafft, mich mit «Aljechins Gambit» für ein paar Stunden an den Balkonstuhl zu fesseln und alles ringsherum vergessen zu lassen. Ich wollte eintauchen in die Mysterien um den vierten Weltmeister der Schachgeschichte Alexander Aljechin – und seinen bis heute nicht völlig geklärten plötzlichen Tod in einem portugiesischen Hotel.
Der Kölner Gerhard Josten (geb. 1938) ist als profunder Schachhistoriker sowie als Autor von Schachproblemen bekannt und geschätzt. Zu beiden Bereichen legte er bereits mehrere Sachbücher vor. Nach «Ein bisschen unsterblich wie Schach» (Roman, 2005) wagt er nun erneut den Spagat zur Belletristik mit schachlichem Hintergrund. Da die Schachwelt auf diesem Gebiet nicht eben mit viel Literatur verwöhnt ist, nehmen wir solche Angebote gerne wahr und freuen uns – zumal wenn sie so gut gelungen sind wie in diesem Fall.
Der Rezensent ging nicht ganz ohne Vorwissen an die Lektüre, hatte sich vor allem bei Edward Winter und in der bei Schachthemen gewöhnlich recht zuverlässigen deutschsprachigen Wikipedia kundig gemacht. Es blieben mehr Fragen als Antworten – und das Erstaunen darüber, dass eine scheinbar so gut bekannte Persönlichkeit nach nicht einmal einem Jahrhundert so viele biographische Unklarheiten offen lässt. So weiß Wikipedia nur von drei Ehefrauen, während das englische Pendant und auch Gerhard Josten deren vier benennen. Auch Aljechins Verstrickung in die politischen Wirren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist rätselhaft und faszinierend zugleich: 1919 von den Bolschewiki zum Tode verurteilt, möglicherweise von Trotzki persönlich gerettet und danach sogar noch als Jurist in Moskau tätig… Später heiratet er eine Schweizer Sozialdemokratin und eine russische Generalswitwe, um gegen Ende seines Lebens sogar in den Verdacht der Nazi-Kollaboration zu geraten.

Legendäres Bild eines legendären Todes einer Legende: Der tote Aljechin (angeblich erstickt in einem Lissaboner Hotel an einem Stück Fleisch - März 1946)
Um dieses Lebensende ranken sich nun zahlreiche Spekulationen, die auch den Ausgangspunkt der Handlung in Jostens neuestem Buch bilden. Bekannt ist, dass Alexander Aljechin am 24. März 1946 mit nur 53 Jahren unerwartet in einem Hotel des portugiesischen Seebades Estoril bei Lissabon verstarb. Das Foto des tot in einem Sessel zusammengesunkenen Weltmeisters gehört zum Kanon der Schachgeschichte.
Die offizielle Erklärung spricht davon, er sei beim Essen an einem Stück Fleisch erstickt. Ausgerechnet das weit verbreitete Foto nährt die Zweifel an dieser Version: Das vor ihm platzierte Essgeschirr ist leer und sauber. Der Leichnam lässt keine Zeichen eines Todeskampfes erkennen und trägt zudem einen dicken Wintermantel. Da ist es naheliegend, andere Todesursachen anzunehmen – zumal sich mit etwas Phantasie auf allen Seiten des schachlichen wie weltpolitischen Spektrums Ansatzpunkte für Verschwörungstheorien finden lassen, ganz abgesehen von einer möglichen Depression angesichts der eigenen wirtschaftlichen Lage und des absehbaren Endes der Herrschaft als Schachweltmeister. Zu den Protagonisten der Mord-Thesen gehört der kanadische Großmeister Kevin Spraggett, der sich intensiv mit der Angelegenheit beschäftigte.
Unser Buch kommt in den ersten acht Kapiteln als eine klassische Kriminalerzählung daher. Es begegnen uns u.a. ein ehrgeiziger Kriminalkommissar, den der Fall weit mehr interessiert als dienstlich nötig, sein etwas begriffsstutziger Mitarbeiter, ein undurchsichtiger Hotelportier und eine attraktive Inspektorin in der Lissaboner Polizeizentrale. Wenn Ihnen das alles irgendwie bekannt vorkommt, lesen Sie vermutlich nicht ihren ersten Kriminalroman und erkennen, dass wir es hier eben mit einfachem aber gut gemachtem Krimi-Schriftsteller-Handwerk zu tun haben. Das Ganze ist flüssig zu lesen und lässt niemals Langeweile aufkommen. Der Autor verzichtet darauf, komplizierte Seitenstränge in die Handlung einzuflechten, arbeitet sozusagen «geradeaus» die Geschichte ab. Ist das vielleicht ein «schachliches» Denkmuster? Sei´s drum – der an Schach(geschichte) interessierte Leser kommt auf jeden Fall auf seine Kosten und wird das Buch nicht aus der Hand legen, solange er auf eine Lösung des Aljechin-Mysteriums hofft.

Gerhard Josten nimmt den bis heute ungeklärten Tod des vierten Schachweltmeisters Alexander Aljechin als Ausgangspunkt für einen klassischen Krimi. Kein S(ch)achbuch also, sondern ein höchst spannender Roman, der geeignet ist, die Schachspieler für eines der geheimnisvollsten Themata der Schachgeschichte zu interessieren.
Diese präsentiert Josten dann in den beiden letzten Abschnitten. Hier soll natürlich nicht verraten werden, wie die Geschichte ausgeht. Nur so viel: Der Autor und seine handelnden Personen gehören offenbar zu den Zweiflern an der offiziellen Todesursache. Letztlich schlägt sich Josten aber nicht auf die Seite einer der etablierten Theorien, sondern präsentiert eine eigene Lösung, bei der ein letztes Mal Aljechins Genialität auch außerhalb des Schachbretts aufzublitzen scheint. Der Titel des Buches «Aljechins Gambit» erhält plötzlich eine ganz unerwartete Bedeutung.
Jostens «Lösung» ist sicher kein ernsthafter Beitrag zur Diskussion um Aljechins frühen Tod und dessen ungeklärte Umstände. Sie erscheint dem Rezensenten nicht plausibler als andere Theorien, aber sie ist und bleibt eine erfrischende literarische Aufarbeitung des Themas und lenkt vielleicht das Interesse einer größeren Leserschaft auf das schachhistorische Mysterium und die in vieler Hinsicht faszinierende Persönlichkeit des vierten Schach-Weltmeisters. ■
Gerhard Josten, Aljechins Gambit – Roman, Verlag Helmut Ladwig, 150 Seiten, ISBN 9783941210349
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