17. August 2010, Über den Kriminalroman, 6.02 Uhr

Der Kriminalroman, austauschbar wie ein ähnlicher Stein gegen den anderen, von den Verlagen mit Blutspritzern vermarktet, die an Ketchup erinnern, damit auch stets klar ist, um was es sich hier handelt, einen Burger, schnell verspeisbar, im Vorübergehen essbar, der Kriminalroman, der dieselbe Geschichte seit Jahren erzählt, der sich als Gattung nicht ernst nimmt, der von wenigen Autoren noch geknetet und geknechtet wird, der Kriminalroman, der die schäbigsten Schreiberlinge anzieht wie auch einige Wortschöpfer, der Kriminalroman, der auf dem Nachttisch liegt, um sich vor dem Traum ein wenig Angst in die Augen zu träufeln, der Kriminalroman, der als Roman schlechthin funktionieren sollte, so wie die Romane von Dostojewski, Dickens und Zola schlechthin funktionieren, der Kriminalroman, der sich nicht um Etikette scheren sollte, der sich aber dafür anstellt, einreiht, ruft, ich will aber auch ein Kriminalroman sein, der Kriminalroman, der nach Dreck und Straße, nach Derek Raymond, nach Handke, Botho Strauß, Hilbig, nach Spillane, nach de Sade klingen sollte, der Kriminalroman, der sich nicht in nüchternen Beschreibungsexzessen verlieren sollte, der sich nicht nur mit den Wohnungseinrichtungen aufhalten sollte, sondern auch mit der Inneneinrichtung des Kopfes, der Kriminalroman, der sich endlich wieder wichtiger nehmen sollte, viel wichtiger als er jemals zuvor war, der sich feiern sollte, weil er plötzlich in der Lage ist, sich zu vernichten und wieder aufzuerstehen, der Kriminalroman, der nie weg war, nie tot war, der schon immer in aller großen Literatur ein rauschendes Fest feierte, der sich über Benn, Brecht und Benjamin durch die Jahre reichte, der Kriminalroman, über den man Worte verliert, die man in eine Geschichte packen sollte, eine Krimigeschichte des Kriminalromans, der Kriminalroman, über den man nie genug Worte verlieren kann, der Kriminalroman, der das Urstück der menschlichen Schöpfungen ist, der Urmythos, den wir in der Bibel finden, die bereits Kriminalroman ist, der Kriminalroman, der mit krimineller Energie an seiner eigenen Demontage arbeiten sollte, der Kriminalroman, der die Menschen verwirren, verletzen, entsetzen sollte, der Kriminalroman, der den Kopf erheben und sich seiner Selbst gewiss sein sollte, der Kriminalroman, der seinen Stock nehmen und auf die Gesellschaft einschlagen sollte, der Kriminalroman, der Steinwurf, Molotowcocktail, Panzer, Bombe, pure Zerstörung sein sollte, der Kriminalroman, der Beleidigung, Schmähung und Bedrohung sein sollte, der Kriminalroman, der sich allen Forderungen entziehen sollte, der nicht zum schäbigen Kleinartikel verkommen sollte, der Kriminalroman, der den Kopf heben sollte und rufen, hier bin ich, ich bin der Kriminalroman, war nie weg, bin Dorn und Nagel in eurem Fleisch, bin zu allem fähig, der Kriminalroman, der Terrorist und Freiheitskämpfer sein sollte, Sprachrohr und Gegenstimme, der Kriminalroman, der nicht zum austauschbaren Stein werden sollte, zum Stück Seife, zum Spray, zum Burger, der Kriminalroman, der nicht zum Beruhigungsmittel werden sollte, nicht zum schalen Unterhaltungsstück, der Kriminalroman sollte endlich wieder ein Schwerstkrimineller werden, den sie suchen, aber nicht bekommen werden.
Der Kriminalroman sollte endlich wieder auf der Flucht sein.

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3 Antworten zu 17. August 2010, Über den Kriminalroman, 6.02 Uhr

  1. Melusine Barby schreibt:

    Schade, dass Sie diesen Text nicht gestern geschrieben haben. Ich breche jetzt gleich auf, um ein Seminar über Kriminalliteratur zu leiten. Damit hätte ich gut anfangen können.:) Aber jetzt schaffe ich es nicht mehr, das auszudrucken. Nächste Woche!

  2. guidorohm schreibt:

    Es freut mich, dass Sie den Text in Ihrem Seminar unterbringen wollen. Beste Grüße.

  3. Melusine Barby schreibt:

    „Der Kriminalroman sollte endlich wieder ein Schwerstkrimineller werden,…“ (wenn Sie wüssten, wie treffend das in diesem Fall ist…) Ihren Text oben möchte ich gern „unterbringen“, doch auf der Zugfahrt ist mir klar geworden: nicht am Anfang. Das ist kein Universitätsseminar. Leute, die sonst gar nicht lesen, müssen sich erstmal einlesen in die Kriminalliteratur. Induktiv statt deduktiv.
    – Unabhängig davon: Der Kriminalroman, glaube ich, ist strukturell „konservativ“ (verzweifelt bewahrend, aus Verzweiflung um sich schlagend). Konservative, übrigens, sind auch die meisten „Schwerkriminellen“ ;-).

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