Kaffee, Zigarette, der Adler hängt kopfüber im Käfig, inspiziert den sandigen Boden, die Damen schlafen noch, und ich sitze mit meinem Kaffee und rudere ziellos auf dem offenen Meer der internationalen Informationen. Eigentlich wollten wir über Silvester nach Paris, aber die Lust kann einem vergehen. Man muss nur die richtigen Berichte lesen und über einen kläglichen Rest Phantasie verfügen.
Aha, denke ich, Paris ist also besonders gefährdet. Ich sehe uns bereits inmitten brennender Wrackteile stehen, die Gesichter schwarz vom Ruß, die Augen zum sternleeren Nachthimmel gerichtet, der unter einer Wolke dunklen Rauchs verschwindet.
Sollte ich Seraphe davon erzählen, immerhin ist die Reise ja schon so gut wie gebucht?
Ich könnte die Angelegenheit verschweigen, auch vor mir, und mich in das alte Paris zurück träumen, in jenes Paris des Beat-Hotels, in das Paris von Burroughs und Kerouac, auch wenn der nur kurz dort war, ja, ich schließe die Augen und stelle mir die verwanzten Zimmer vor, ein Einzelbett, darin der Dichter Louis Gordon mit roten Augen die Sonne des Tages mehrmals untergehen lässt, einfach da ihn dies Spiel so sehr beseelt, während am Ende des Ganges Schüsse zu hören sind, weil Bill Burroughs wieder einmal drogengeschwängerte Schießübungen veranstaltet.
Nein, in einem solchen Haus könnte ich meine Damen nicht unterbringen.
Ich öffne die Augen und kehre ins Arbeitszimmer zurück, beuge mich über den Kaffee, Vorsicht, der wird kalt.
Ich las gestern Abend in Gustav Mayers großem Paris-Roman, darin er die sonderbaren Spaziergänge eines jüdischen Flüchtlings schildert, Wanderungen hinab in ein Reich der Toten, weil der Flüchtling die gesamte Erzählzeit eben nicht in Paris weilt, sondern bereits im Jenseits, denn von dort erzählt er, nicht anerkennend, dass es ihn nicht mehr geben soll, ihn, dessen Leben durch die Todesmaschinerie der Nazis allzu früh ausgelöscht wurde. Also läuft er durch das nächtliche Paris und erzählt sich sein Leben zurück, denn so lange er spricht, so lange ist er da, ein rückwärts gezähltes Schauermärchen aus 1001 Nacht, denn am Ende wird die Erkenntnis des eigenen Todes stehen.
„Ich überprüfe meine rechte Hand. Zähle die Finger. Fünf. Ich überprüfe meine linke Hand. Auch dort finde ich fünf Finger. Beruhigt laufe ich weiter, einem Nachtvogel lauschend, der zu schreien scheint: Warum, Warum, Warum. Entsetzt bleibe ich stehen, hoffe sein Flattern zu vernehmen, aber es bleiben nur die Rufe übrig, diese in die Nacht gekrächzten Fragen, die ich nicht hören will. Also halte ich mir endlich die Ohren zu, ich presse die Hände darauf, bis ein Rauschen zu vernehmen ist, ein Branden von Meerwasser. Ebbe und Flut. Ich höre genau hin und für einen Moment bin ich mir sicher, die einzigartige Melodie des Lebens vernommen zu haben.“
Gustav Mayer, Abendlicher Abstieg
Ich werde mir noch einen Kaffee holen, eine Zigarette rauchen und dann …
Ich kenne die Berichte. Fahren Sie dennoch nach Paris. Übernachten Sie im Marais. Und besuchen Sie … Ich stelle fest, dass ich ,sobald es um Paris geht, anfange, den Imperativ zu benutzen: Tun Sie dies, tun Sie das… Genießen Sie es einfach! (Aber zu Fuß, man muss Paris „durchlaufen“…)
Wir werden uns wie Situationisten treiben lassen.
Das ist schön. „Das unreduzierbare Projekt der S.I. ist die totale Freiheit, konkretisiert im Handeln und in der Phantasie, denn es ist nicht leicht, sich die Freiheit auszudenken in der gegenwärtigen Unterdrückung.“ (Geopolitik der Schlaftherapie, Gott, wie das Buch stinkt, so alt ist das!)
Sehr schön! Und jetzt einen Wein auf Guy Debord!
Später am Abend. Ich bin ja erkältungsbedingt momentan eher auf Rum abonniert. Whiskey geht auch. Zum Bakterien abtöten!
Dann eben ein Rum auf Jack Sparrow. Ist ja auch so eine Art Situationist.