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Hundertvierzehn | Extra
Endspurt Weihnachten

Für Christiane Rösinger steht der vierte Advent schon ganz im Zeichen von Weihnachten. In ihrer Kolumne dreht sich alles um die unterschiedlichen Arten, Weihnachten zu feiern – und wie man Weihnachtsautonomie erlangt.

 
Christiane Rösinger

Christiane Rösinger war Mitgründerin, Sängerin und Texterin der Berliner Bands »Lassie Singers« und »Britta«. In den 90er Jahren war sie eine der Betreiberinnen der legendären Flittchenbar am Berliner Ostbahnhof, die sie 2010 zu neuem Leben erweckte. Seitdem führt sie einmal im Monat durch eine musikalische Gala-Show im Kreuzberger Club Südblock. Neben ihrer Arbeit als Musikerin (›Songs Of L. And Hate‹, ›Lieder ohne Leiden‹) schreibt sie für verschiedene Zeitungen und Magazine. Christiane Rösinger veröffentlichte 2008 ihr erstes Buch ›Das schöne Leben‹, es folgten ›Liebe wird oft überbewertet‹, ein humorvolles Plädoyer für das Alleinleben, und ›Berlin-Baku‹, der Bericht ihrer Reise zum Eurovision Song Contest nach Baku.

Nun ist es also bald so weit, Endspurt Weihnachten. Die Ersten verlassen bereits die Stadt, man findet leichter Parkplätze in den Wohnstraßen, und Verabredungen werden schon aufs neue Jahr verschoben.

Noch vor ein paar Jahren wäre ich um diese Zeit auch Richtung Süddeutschland aufgebrochen, weniger in Vorfreude als mit dem wehmütigen Gefühl, Berlin ausgerechnet jetzt verlassen zu müssen.
Lange Jahre hindurch bedauerte ich mich immer um den vierten Advent herum sehr: Jetzt wohne ich schon zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre in Berlin und habe doch noch kein einziges Mal Weihnachten in der Stadt verbracht!
Weihnachten in Berlin, das kannte ich nur aus den Erzählungen der echten, gebürtigen Berliner: Wie still die Stadt in den Tagen kurz vor dem Fest sei, was für eine schöne, ganz eigene Stimmung da über den leeren Straßen läge, so friedlich und ruhig wäre Berlin das ganze Jahr lang nicht.
Und man schwärmte vom Heiligabend mit den legendären Konzerten in der Berliner Volksbühne, wo Undergroundbands wie »The Fall« spielten, und wo man dann um Mitternacht die verschworene Gemeinschaft der »echten« Berliner treffen würde.

Weitere Beiträge der Adventskolumne von Christiane Rösinger

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Endspurt Weihnachten

Ich hingegen hatte bis dahin mein ganzes Leben lang jede Weihnacht in Hügelsheim, einem kleinen badischen Dorf am Rhein, an der Grenze zu Frankreich verbracht. Es hatte sich einfach so ergeben. Als Kind und Jugendliche feierte man Weihnachten sowieso mit den Eltern, und als ich dann ab den Achtzigern in Berlin wohnte und erst mal keinen kannte, lieferte das Fest einen willkommenen Grund für den Besuch daheim und bei den alten Freunden.
Meine Geschwister hatten längst eigene Familien gegründet und verbrachten Heiligabend bei den Schwiegereltern in den Nachbardörfern, kamen höchstens spätabends noch bei ihrer Stammfamilie vorbei. Ich als Jüngste hatte zwar ein Kind, aber trotzdem keine »richtige« eigene Familie vorzuweisen und war deshalb immer bei meinen Eltern. Manchmal brachte ich einen Freund aus Berlin mit, aber nie zweimal denselben. Ich dachte oft an ein anderes Weihnachten: einfach in meiner Berliner Wohnung bleiben, sich mit Freunden treffen, abends ausgehen.
© Christiane RösingerDa hatte hat man so gekämpft für ein eigenes, anderes Leben, nach anderen Gesetzen, und saß dann doch am 24. unter dem Tannenbaum bei der Familie. Bei der weihnachtsgestressten Mutter, der mal wieder keiner geholfen hatte, und dem alten Vater, der im besten Falle sentimental wurde: »Damals 1942 im Schnee in Russland, da hätte keiner von uns gedacht, dass wir noch einmal so ein Weihnachten erleben.«
Weihnachten war oft anstrengend, es gab gerne Krach, und es waren meistens nur Momente, die gut waren. Aber die Eltern wurden immer älter und zerbrechlicher, unmöglich, mit der Weihnachtsautonomie gerade jetzt anzufangen. Dann starb die Mutter, der Vater blieb allein, natürlich musste man sich an Weihnachten um ihn kümmern. Und da ich immer noch keine eigene Kleinfamilie vorzuweisen hatte, war es selbstverständlich, dass ich den Vater an Weihnachten übernahm.
Dann, als beide Eltern nicht mehr lebten, gab es eigentlich keinen Grund mehr, im Dezember in das Dorf zu fahren – ich fuhr trotzdem. Wenn die Eltern nicht mehr da sind, werden die Geschwister anhänglicher.

Doch dann war es endlich so weit. Fünfundzwanzig Jahre nach meinem Umzug nach Berlin verbrachte ich Heiligabend zum ersten Mal in meiner Berliner Wohnung.
Es war großartig. In Ermangelung anderer Konzepte spielte ich mit meinen Gästen das Weihnachtsfest der Eltern nach, nur in anderem Dekor.
Endlich mit echten Kerzen! – Die Eltern hatten sich stets gegen das altmodische Zeugs gewehrt und seit den Sechzigern auf bunten amerikanischen Lichterketten bestanden.
© Christiane RösingerWir überlegten uns ganz ironisch-konventionell die Menüfolge und Tischdekoration, sangen und spielten irgendwie ironisch und dann doch mit Inbrunst alle Strophen sämtlicher Weihnachtslieder, gingen dann zu stundenlangen Singstar-Karaoke-Sessions über, stürzten nachts angetrunken auf die leeren Straßen, gingen in halbleere kaputte Bars, trafen andere weihnachtlich verloren wirkende Seelen – alles in allem war die Berliner Weihnachtspremiere ein voller Erfolg. Und es war wirklich ein besonderes Gefühl in diesen Tagen vor dem Fest, wenn Berlin plötzlich so still und leer wird – aber so leer wie Westberlin in den Achtzigern wird es hier nie mehr werden.

Trotzdem wurde das Erfolgskonzept »Ironisch Feiern« nicht lange weiter geführt. Denn plötzlich kam Nachwuchs ins Haus, denn auch, wer nie eine Kleinfamilie wollte oder hatte, kann Oma werden und ist dann traditionell für die weihnachtlichen Rituale zuständig.
© Christiane RösingerUnd auf einmal ist alles gar nicht mehr so ironisch, denn schon Einjährige sind verzaubert, wenn sich Kerzenschein im Fenster spiegelt, und dieses Jahr, in der Anwesenheit eines begeisterten Fünfjährigen, ist es endgültig unmöglich, »ironisch« Weihnachten zu feiern. Es ist einfach Weihnachten.

Berlin - Baku

Christiane Rösinger, Liedermacherin und kritische Anhängerin des Eurovision Song Contest, fährt im Mai 2012 von Berlin nach Baku. Ohne Orientierungssinn und geographische Kenntnisse, aber mit einer seelenstarken Mitmusikerin und einem auf dem Gebrauchtwagenmarkt eilig erworbenen Fahrzeug. Sie begegnet bulgarischen Männern, die ihr Leben lang auf Ziegen starren, harrt aus im »einsamsten Frühstückssaal der Welt« und überschreitet in der Türkei die Cappuccinogrenze. Sie lernt, professionelle Auslandsdeutsche von Deutschen im Ausland zu unterscheiden, wird in Tiflis zum Bestandteil der Deutschen Woche und tritt endlich, nach 4800 staubigen Kilometern, auch in Aserbaidschan auf – weit weg vom offiziellen Sponsorenspektakel.

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