Hanya Yanagihara: „Ein wenig Leben“

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Ein monströses Buch, das man, sobald man die ersten Seiten gelesen hat, verschlingt, oder besser gesagt das uns Leser verschlingt. Denn gleich einem Mahlström wird man in die Handlung hineingezogen. Ein Roman, der sprachlich und literarisch toll zu lesen ist und nicht nur durch seinen Umfang viel vom Leser abverlangt. Man wird mit den Figuren sofort vertraut und leidet im wahrsten Sinne mit ihnen. Das Buch ist monströs, weil es voll ist mit Leid und die Melodramatik gerne überreizt, was dem Lesegenuss aber keinesfalls schadet. Es ist ein Wechselspiel zwischen dem gebildeten, kunstliebhabenden und dem einfachen, ländlichen Amerika. Ein Gegenwartsroman, der durch seine Rückblicke lebt. In der erzählerischen Gegenwart, die aber keinen realen Bezug bekommt, treffen wir auf wohlwollende, großzügige und hilfsbereite Menschen. Doch flechtet sich immer mehr die Vergangenheit der Charaktere in die Handlung mit ein und öffnet jenen angedeuteten Mahlström an Leid, Gewalt und Missbrauch. Im Vordergrund steht und glänzt aber immer die Freundschaft und die Liebe.

„Mein Leben, wird er denken, mein Leben. Aber weiter wird er nicht denken können, und er wird diese Worte im Geiste wiederholen – Mantra, Fluch und Ermutigung zugleich…“ (Seite 211)

Es ist eine lebenslange Männerfreundschaft, die ihren Anfang im College in New England nahm. Nach dem Studium sind alle nach New York gezogen, um dort ihre beruflichen Ziele zu verwirklichen. Hier beginnt die Handlung gleich einem typischen Roman über das Erwachsenwerden. Die Wohnungssuche, die Partys, die Verhältnisse und die alltäglichen Identitätskrisen. Es sind die vier Freunde: Willem Ragnarsson, der auf einer Farm in Wyoming aufwuchs und aus einfachen Verhältnissen stammt. Er hat früh seinen Bruder verloren, was für die psychologische Entwicklung des Romans wichtig ist. Er ist ein gutaussehender Mann, der am Anfang des Buches von einer Karriere als Schauspieler träumt, die sich im Verlauf der Handlung auch immer mehr bewahrheitet. Jean-Baptiste Marion, der stets nur JB genannt wird, ist der Sohn von Einwanderern aus Haiti und strebt ein Künstlerleben an. Er arbeitet in einem Atelier, das er sich mit anderen jungen Künstlern teilt und jobbt nebenbei an der Rezeption einer Kunstzeitung, mit der Hoffnung dort die Redaktion auf ihn aufmerksam machen zu können. Malcom Irvine stammt aus einem wohlhabenden Elternhaus. Im Gegensatz zu JB, der in einer heruntergekommenen Wohnung lebt und Willem, der sich mit Jude eine Wohnung sucht, lebt Malcom anfänglich noch bei seinen Eltern. Aber er lebt unter dem Rad seines Vaters, einem afroamerikanischen Juristen. Malcom baut in seinem Zimmer architektonische Modelle und wird von seiner Mutter emotional getragen. Die zentrale Figur im Roman ist Jude St. Francis, um den sich auch der ganze Freundeskreis zu drehen scheint. Jude ist ein gebildeter, junger und aufopfernder Mann, der Mathematik und Jura studiert. Ihm geht es um die Philosophie und um die Klarheit der beiden Fächer, die auf den ersten Blick wenig gemein haben. Doch ist er auch der Unbekannteste aus der Clique und langsam erfahren wir Leser auch immer mehr aus der Kindheit und Jugend der Protagonisten, besonders den Leidensweg von Jude.

Durch anfänglich kleine Bemerkungen und dann immer mehr werdende Andeutungen erfahren wir von den Schmerzen und inneren Dämonen, die in Jude wohnen und ihn niederschmettern. Keiner der Freunde weiß, woher er diese Schmerzen hat. Alle meinen, es sind die Beine, doch ist es die Wirbelsäule die ihn plagt. Hinzu kommt, dass er seinen inneren Hyänen durch angelernte Selbstzüchtigungen zu bändigen versucht. Eines Abends weckt Jude Willem mit einem Handtuch um den Arm gewickelt und bittet ihn um Verzeihung und um Hilfe. Jude ritzt sich und in dieser Nacht hat ihn der Schnitt mehr verletzt als er gewollt hatte. Ein befreundeter Arzt nimmt sich stets seiner an und kann erahnen, welche Pein in Jude schlummert. Langsam baut sich das ganze Drama auf und wir Leser erfahren seinen Leidensweg. Er war ein Findelkind, das man neben einem Kloster beim Müll gefunden hatte. Im Kloster lernt er die Entbehrungen kennen, aber er sehnt sich nach Persönlichkeit und Eigentum. Von den Mönchen wird er gemaßregelt und körperlich bestraft. Doch ist dies lediglich der Anfang seiner Geschichte, die es gilt als Leser selbst zu entdecken, denn der Sog der Geschichte liegt besonders in dem Erkunden und Abtauchen in die Welt der Dunkelheit.

Später ist es die Freundschaft zu Malcom, JB und besonders zu Willem, die ihm Halt gibt. Neben der dunklen Vergangenheit steht die Hoffnung auf eine Zukunft ohne die Ungeheuer der Vergangenheit. Hinzu kommen Harold und Julia, die Jude finanziell und emotional unterstützen und ihn auch als jungen Mann adoptieren.

Das Buch ist teilweise schwer zu ertragen und in Teilen überspitzt geschrieben. Aber es ist ein Roman, in den man versinkt und der große Empathie im Leser weckt. Es sind Männer, die den Roman beherrschen, Frauen sind meist Nebenfiguren. Die überfüllte Melodramatik mit ihren Cliffhangern ist ein gut eingesetztes Handwerksmittel, um den Leser an den Text zu fesseln. Der ganze Roman entwickelt eine enorme Anziehungskraft und das Zentrum des Traumas aus Missbrauch und Gewalt lässt einen erstaunen und erschauern.  Ich meine es nicht negativ, aber das ganze Buch ist gleich einer großartigen Fernseh- (Spielfilm-) Serie, von deren Charakteren man beim Schauen so gebannt ist, dass man nicht aufhören kann hinzusehen.

Ein in Amerika viel diskutiertes Buch, das nun auf Deutsch erschienen ist und ebenfalls viele Leser berühren wird. Ein Buch, das mit viel Sprachgefühl und einer gut erzählten Geschichte geschrieben wurde. Ein Roman, der ein Gefühlschaos heraufbeschwört und trotz der im negativen und im positiven überspitzten Darstellungen sehr überzeugen kann. Ein Roman, der einen nicht mehr loslässt, über unaussprechlichen Schmerz, Grausamkeit und ernste, tiefe Freundschaft. Er baut durch die Erzählstruktur Empathie zu den Charakteren auf. Dies ist der Reiz des Werkes, denn man liest mit einem Grausen den Text über die schrecklichen und schönen Möglichkeiten des Lebens. Auch der Umschlag des Buches spiegelt dies wider: Ein Mann in einem intimem Moment. Ein Blick, der uns eigentlich wegschauen ließe, denn es könnte ein Orgasmus oder ein tief empfundener Schmerz sein, den der Mensch gerade durchleidet. Das Buch wird wohl eines der viel diskutiertesten Werke des Jahres werden…

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Siehe auch die Besprechung der Klappentexterin , auf: letteratura , Letusreadsomebooks (zur engl. Ausgabe) und masuko13

9 Kommentare

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9 Antworten zu “Hanya Yanagihara: „Ein wenig Leben“

  1. letteratura

    Coole Tasche (und großartiges Buch)!

  2. Pingback: Hanya Yanagihara – A Little Life | letusreadsomebooks

  3. Pingback: Freundschaft bedeutete, sich geehrt zu fühlen … | masuko13

  4. Pingback: Hanya Yanagihara – Ein wenig Leben | novellieren

  5. Lieber Hauke,
    Ein wenig Leben hört sich nach einem schönen Buch über eine gute Männerfreundschaft an, aber auch sehr tiefgreifend und wahrscheinlich erschütternd. Vielen Dank für die tolle Besprechung.
    Liebe Grüße von den Vorlesern

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