Mutige Umbrüche ins Ungewisse
Alice Rühle-Gerstel
Ermutigend, daß es dem Aviva-Verlag wieder gelungen ist, das literarische Juwel einer Autorin vor dem Vergessen zu bewahren. Mit Alice Rühle-Gerstels „Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit“ haben die Verlagsfrauen ein zeitgeschichtlich wichtiges Werk aus der Versenkung gehoben und nebenbei dazu beigetragen, sich nach der Lektüre weiter auf die Spurensuche nach der sozial und politische engagierten Autorin (1894 – 1943) zu machen.
Wie eine harmlose Aufzählung scheinen Alice Rühle-Gerstels Worte über ihren Roman „Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit“: „In einem Brief an Eva Schumann charakterisiert Alice ihr Buch folgendermaßen: ‚Mein Buch ist ein Roman, ein bisschen autobiographisch, das Leben in der Prager Emigration, vermischt mit einer Liebesgeschichte und der Abwendung der Heldin von der kommunist. Partei“’, zitiert Marta Marková im Nachwort des im Aviva-Verlag neu herausgegebnen Buches die AutorIn. Aber das scheinbar Harmlose täuscht. Und wer meint, EmigrantInnen“geschichten“ aus den 1930-Jahren seien ein alter Hut, und Liebesgeschichten seien prinzipiell kitschig, wird bei die Lektüre des Buches diese Haltung überdenken.
1934 flieht die Hauptakteurin Hanna Last (Aschbach) vor den Nazis allein in ihre Geburtsstadt Prag. Ihr Mann Karl ist aufgrund seiner politischen Aktivität zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Vor ihrer Flucht war sie Kassierin in der Roten Hilfe in der Berliner Ortsgruppe Lichterfeld und hofft auf Unterstützung der Kommunistischen Partei auch in ihrer alten/neuen Heimat. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse (deutsch, tschechisch) nimmt sie eine Stellung bei der Zeitung „Svoboda“ an. Während der Zeit ihres Aufenthaltes in Prag verschärft sich die politische Situation. Intrigen und Säuberungsaktionen innerhalb der Tschechischen Kommunistischen Partei nehmen zu. Wem kann Hanna noch trauen? Als in einem Zeitungsbericht die politischen Machenschaften bei der Milchpreisgestaltung publik werden, steht Hanna plötzlich unter dem Verdacht, Informationen weitergegeben zu haben …
Auch andere Aspekte führen immer wieder zu Umbrüchen in ihrem Leben. Hannas Gefühl des Fremdseins ist und bleibt ihr Begleiter. Die gespannte Beziehung zu ihrem Bruder Heinrich verstärkt diese Empfindung. Er, der es in Prag zum Kommerzialrat gebracht hat, kann sich in Hannas Lebenswelt und Lebenshaltung nicht einfühlen – trotzdem wird seine finanzielle Unterstützung ihre weitere Flucht erleichtern …
Die Liebesbeziehung mit dem Chefredakteur der „Svoboda“ Anatol Svoboda ist selten romantisch, häufig voll von Hannas quälender Ungewissheit: Liebt Anatol sie überhaupt ? Ist er nicht doch ein Spitzel, der sie aushorchen will? Tatsächlich erhärten sich die Verdachtsmomente gegen Ende des Romans, doch auch in dieser Beziehung gibt es einen interessanten Umbruch …
Nicht zuletzt quält Hanna das schlechte Gewissen gegenüber ihrem Mann Karl: Da ist einerseits die Beziehung zu Anatol, andererseits Hannas schwindende Loyalität gegenüber der Partei. Diese Loyalität beginnt nach und nach zu bröckeln, einige ihrer FreundInnen wechseln zu den „Trotzkisten“. Aus der inneren Zerrissenheit kann Hanna sich jedoch nicht durch einen Partei-Austritt befreien, zu verbunden ist sie mit deren Idealen und dem Wunsch, zum großen sozial-politischen Umbruch beizutragen – und zwar abseits eines naiven Partei-Obrigkeitsglaubens.
Aus heutiger Sicht sind übrigens auch die Schilderungen in den Redaktionsräumen der „Svoboda“ interessant. Da werden Neuigkeiten und Informationen für Artikel am Radio gehört, Bleibuchstaben werden mit Winkelhaken händisch in sogenannten Schiffen gesetzt, es gibt 20 Kronen Prämie für jene, die die aktuellsten Neuigkeiten in den letzten zwei Stunden vor Blattschluß melden, hier werden Texte auf frischen, feuchten Abzügen mit Blaustift korrigiert … Die Hektik, die Hitze, das Rufen der Redakteure, Drucker und Setzer bis endlich die Seitenumbrüche passen, werden regelrecht fühlbar. Doch fällt die Sprache von Alice Rühle-Gerstel selbst niemals ins Hastige, Atemlose.
Darin liegt wohl auch die Stärke der Autorin: Unaufgeregt erzählt sie von im Grunde genommen tragischen Ereignissen, die die LeserInnen jedoch nicht unberührt lassen. Bis zum Schluß des Romans nicht; bis zu jenem letzten Umbruch, wo Hanna aufgrund einer politischen Intrige die Tschechoslowakei wieder verlassen muß und sich auf einen Weg, über die österreichische Grenze in Ungewisse macht.
Petra Öllinger
Alice Rühle-Gerstel – Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Ein Prag Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marta Marková. Mit historischen Fotos und einem Stadtplan sowie mit einem Lesebändchen ausgestattet. Aviva-Verlag, Berlin, 2007. 444 Seiten, € 24.50 (D).
Rühle-Gerstel, Alice (* 24. März 1894 Prag; † 24. Juni 1943 Mexiko City)
Wikipedia – Alice Rühle-Gerstel
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