Archiv für September 2015

Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 29. September 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet6. August
Waren heute im Käseparadies. Dabei wollten wir in die Technische Universität. Aber auf dem Weg dahin schlug Theophilus einen Abstecher zum Naschmarkt vor. Er hätte so viel über ein Käseparadies gelesen, das sich auf diesem Gelände befinden solle, und das müsse doch das Paradies für Mäuse sein.1 Auf meine Frage, in welchem Käseblatt er denn darauf gestoßen sei, antwortete er: „Onkel Leopold, ich bin erstaunt über deinen Kalauer.“ Touché. Und: Chapeau für dieses Parieren. Ich verkniff mir den Nachsatz, dass die Bezeichnung Hühnerparadies auch nicht das meint, was der Name vorgibt … Nun, zuerst war ich äußerst skeptisch, was dieses Käse-Mäuse-Paradies betraf. Als wir dann davor standen, ich muss zugeben: Ich kam aus dem Staunen nicht heraus!
Was gab es da alles in der Auslage zu sehen: Große, ach was große, riesige! Käselaibe türmten sich übereinander. Echter! Emmentaler – nicht eine fahlgelbe Gummischeibe aus dem Supermarkt – mit Löchern so groß, dass ich sogar meinen Kopf durchstecken könnte; kein Wunder, dass die Menschen so etwas Großlochkäse 2 nennen. Wie sich das schon anhört. Aber hier: ein echter Emmentaler, mit unregelmäßig geformten Löchern, wie es sich gehört. Brie à la Truffe, Brie au lait cru, alle in elegante Holzschachteln verpackt. Wenn bereits die Auslage so verlockend gestaltet war, wie mochte es erst drinnen aussehen? Jedoch: Wie sollten wir hineinkommen, als Mäuse, noch dazu außerhalb der Öffnungszeiten? Davon abgesehen, dass man uns innerhalb der Öffnungszeiten sehr rasch entdeckt, dingfest gemacht und anschließend eliminiert hätte. Vor meinem geistigen Auge las ich die Schlagzeile: „Skandal! Maus steckt in Emmentalerloch fest!“ Wir konnten doch nicht einfach wie gemeine Einbrecher … Während ich mich noch mit diesen Überlegungen beschäftigte, beschäftigte Theophilus sich bereits praktisch mit der Suche nach einem potentiellen Eingang. An der hölzernen Vorderfront vom Käseparadies, direkt unter einer der Auslagescheiben entdeckten wir ein kleines Gitter über einer quadratischen Öffnung. Die rechte untere Kante des Gitters war ein Stückchen weit aufgebogen.
„Vielleicht gelingt es uns, das Gitter noch ein bisschen weiter zu verbiegen, dann könnten wir durchschlüpfen“, schlug Theophilus vor. „Onkel Leopold, stell du dich darunter.“
Ich verstand zuerst nicht, was er wollte. „Willst du etwa …?“
Er nickte: „Genau. Wir machen eine Räuber-Mäuse-Leiter.“ Und schob mich unter die betreffende Stelle. Dann sprang er auf meine Schulter. Ächzend und stöhnend tat er sein Bestes, ruckelte und zerrte am Gitter, rutschte einmal mit der linken Hinterpfote ab, riss mich dabei an meinem linken Ohr, trat ein andermal mit der rechten Hinterpfote in mein rechtes Auge, kitzelte mich mit seinem Schwanz an meiner Nase. Theophilus‘ Gewicht begann schwer auf mir zu lasten. Er hampelte und turnte auf meinen Schultern herum. Schließlich hüpfte er wieder herunter. Schüttelte den Kopf. „Leider, das Ding ist zu stabil.“
Wir setzten unsere Suche fort, inspizierten die andere Seite des Käseparadieses und: da! Zwei Zentimeter über dem Boden führte eine kleine Öffnung in eine Art Entlüftungsgang. Theophilus wollte hineinkriechen, ich aber konnte ihn noch rechtzeitig zurückhalten. „Wir können doch nicht einfach … außerhalb der Öffnungszeiten … stehlen! Außerdem ist es viel zu riskant. Der Gang wird vielleicht immer enger und man bleibt darin stecken. Oder am Ende des Ganges befindet sich eine Mausefalle –und ich meine damit nicht eine Lebendfalle!“, warnte ich Theophilus. „Oder der Alarm geht los, sobald man nur eine Pfote in den Gang setzt und sofort rattern Gitter herunter und man ist gefangen und …“
„Wir versuchen es damit.“ Theophilus hatte, während ich meine Befürchtungen aufzählte, ein Ding mit den Worten „Pedunculus 3 , könnte hilfreich sein“ angeschleppt, schüttelte ein paar vertrockneten Beeren ab, die noch daran hingen, rammte es in den Gang, zog ihn raus, schob es abermals ganz tief hinein, zog es wieder heraus.
„Kein Steckenbleiben, keine Falle, kein Alarm. Wir versuchen es.“ Sprach’s und kletterte hinein.
„Komm sofort wieder raus!“, zischte ich ihn den Gang. Theophilus war in der Zwischenzeit zu weit drinnen. Was blieb mir anderes übrig, als ihm zu folgen. Auf dem Bauch rutschte ich ihm hinterher. Auf dem Bauch ins Paradies für Mäuse.
Ja, es war ein Paradies für Mäuse! Überwältigend. Dieser Duft! Dieses Aroma! Hartkäse, Halbhartkäse, Weichkäse und Frischkäse. Sennkäse und Räucherkäse. Graukäse und Bierkäse. Sbrinz, Gouda, Pecorino, Brie, Roquefort, Tilsitter, Edamer, Gorgonzola, Appenzeller. Zwölf Monate gereift, achtzehn Monate gereift, vierundzwanzig Monate gereift. Mir war ganz schwummerig.
Kaum hatte ich mich von diesem Anblick, diesem olfaktorischen Eindruck erholt, sah ich Theophilus oben in der Kühlvitrine zwischen einer Stange Raclette und einem halben Laib Parmesan verschwinden. Wie war er da hinaufgekommen? Und vor allem in diesem Tempo?
„Theophilus! Theophilus!“ Er hörte mich nicht. Ich musste zu ihm hinauf. Neben der Vitrine waren mehrere Käselaibe stufenartig übereinandergestapelt, auf ihnen konnte ich nach oben klettern. Am letzten Käse angekommen, hatte ich den Eindruck, auf einer Plattform zu stehen.
Die Aussicht war ü b e r w ä l t i g e n d. Unter mir breitete sich ein circa zehn Zentimeter breiter Spalt aus, der mich beziehungsweise meine Käseplattform von der Kühlvitrine trennte. Wenn ich Theophilus einholen will, dann muss ich da hinüber. Meine Knie zitterten. Das vorhin noch herrliche Käsearoma benebelte meine Sinne. Alles drehte sich: die Vitrine, der Stangenraclette, Theophilus. Ich rief seinen Namen ein weiteres Mal. Er hörte mich nicht. Ich musste hinüber.

Ich nahm einen leichten Anlauf und sprang.

„Wow“, hörte ich Theophilus anerkennend sagen. „Warum hast du mich nicht gerufen, dann hättest nicht springen müssen.“
Ich ließ mich erschöpft neben die Kassa fallen. Theophilus stand mit dem Rücken zu mir. Was machte er da? Stopfte er sich etwa die Hosentaschen voll? Ich war empört. Das konnte nicht mehr als Mundraub durchgehen. Ich schämte mich. Diebstahl!
„Theophilus! Stehlen!“
Er drehte sich um, die Backen voll wie ein Hamster.
„Aber du“, er schluckte hinunter, „ich meine, ich, also, wir haben doch Geld.“
Er steckte seine linke Pfote in seine Umhängetasche und zog eine 1-Cent-Münze daraus hervor. Der Enzian auf der Rückseite der Münze war mit grüngesprenkeltem Käse verklebt.
„Wenn wir zusammenlegen, reicht es sogar für ein zusätzliches Stückchen Appenzeller. Mit drei, vier Cent müssten wir auskommen.“
„Junge, siehst du nicht, was da auf den Preisschildern steht?“ Ich deutete auf den Brie. „2,99. Euro. Für zehn Deka.“
„Aber ich habe doch niemals zehn Deka hier eingesteckt. Wie viel sind überhaupt zehn Deka?“
„Hundert Gramm“, erklärte ich.
„Das sind niemals hundert Gramm.“ Er klopfte auf seine Umhängetasche und schüttelte den Kopf. „Niemals.“ Dann fischte er ein kleines gelbes, sehr intensiv riechendes, schon etwas ramponiertes Kügelchen aus der Tasche und hielt es mir vor die Nase. „Probier den hier.“ Ich lehnte dankend ab.
„Wir wollen es für heute gut sein lassen“, sagte ich zu ihm, nahm drei 1-Cent-Münzen aus meinem Geldbeutel und legte sie neben die Kassa.

Wie kamen wir wieder zurück? Nochmals springen? Mir schauderte. Theophilus schien meine Befürchtungen bemerkt zu haben. „Dort drüben“, er zeigte auf einen Holztisch, der direkt an der Vitrine stand, „ist es ganz leicht, man braucht nur an den Tischbeinen hinunterrutschen.“
Wir rutschten.
Wir zwängten uns durch den Entlüftungsgang und gelangten schließlich wieder zu unserem Ausgangspunkt.
Als Theophilus darum bat, noch einen „klitzekleinen Abstecher, bitte, bitte“ in das Gebäude mit den Palatschinken zu machen, setzte ich meine ganze Autorität ein.

Erfolgreich!

1: Das mit den Mäusen und dem Käse ist auch so ein Käse. Normalerweise stehen Getreide, Nüsse, Früchte auf dem Speisezettel. Woher nun Theophilus‘ Begeisterung für Käse kommt? Er weiß es nicht. Somit bleibt die Mäuse-Käse-Frage bis auf Weiteres unbeantwortet. Schade.
2: Unter anderem zu finden in diversen Supermarkt-Postwurfsendungen.
3: Pedunculus, Stielgerüst der Weintraube (Rispe), auch Rappen oder Kamm genannt.

Fortsetzung folgt am 13. Oktober 2015.
Alle bisherigen Abenteuer finden Sie hier.

Die Piroge – Buchpräsentation

Freitag, 25. September 2015

Abasse Ndione: Die Piroge. Aus dem Französischen von Margret Millischer. Transit Buchverlag, Berlin 2014, gebunden, 100 Seiten, 14,80 EUR

Wann: Donnerstag, 01. Oktober 2015, 19 Uhr
Wo: WERKL im Goethehof, Schüttaustr. 1, 1220 Wien
Zu erreichen mit der Ul, Station UNO-City + ca. 150 Meter zu Fuß

Ein kleines Fischerdorf in der Vorstadt Dakars, Senegal. Hier lebt Bay Laye, Kapitän eines Einbaumkanus. Das leichte, schlanke Boot ist eigentlich zur Fischerei gedacht,
doch Baye Laye soll, auch wenn ihm nicht wohl bei dem Gedanken ist, auf seinem Boot 30 Mann nach Spanien transportieren. Die Überfahrt ist gefährlich. Die Menschen, die er transportiert, kommen aus den unterschiedlichsten sozialen und ethnischen Gruppen und haben die verschiedensten Motive für diese Reise: Während die einen davon träumen, Musiker zu werden, hegen andere den Traum von einer Fußballerkarriere. wieder andere sind auf der Suche nach Ärzten und viele weitere verbindet der Wunsch nach finanziellem Erfolg und Wohlstand. Senegal ist ein Land unterschiedlichster Völker mit einem sehr jungen Durchschnittsalter. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 20 Jahre und gerade den jungen Menschen scheint die Überfahrt gen Europa der einfachste und plausibelste Weg, ihren Träumen, Zielen und Wünschen näher zu kommen. Mindestens eine Person aus jeder Familie wagt die Überfahrt in das verheißungsvolle Europa, in ihrer Vorstellung ein mit Hoffnungen und Träumen überladener Ort. Viele von ihnen haben das Meer noch nie gesehen, die meisten von ihnen wissen nicht, was sie erwartet.

Das fremde Zimmer

Montag, 21. September 2015

Demenz abseits von ICD-10

Anna Gemmeke Das fremde Zimmer BuchcoverImmer die selben Fragen. Immer die selben Geschichten. Was erst kürzlich geschah – vergessen. Was lange Zeit zurückliegt – verknotet mit der Gegenwart. Namen von verstorbenen Angehörigen werden erinnert – die Namen der noch Lebenden sind vergessen. Der Krieg. Die Soldaten. Die Kinder, die zur Schule müssen, der Braten, der fertig werden muss. Die Sorge um den Ehemann.

Verwirrt. Ängstlich. Wütend. Der Wunsch, nicht in einem fremden Zimmer bleiben zu müssen. Nach Hause zu dürfen. Die Scham darüber, wenn für kurze „lichte“ Momente bewusst wird, dass ein Hinabgleiten nicht mehr aufzuhalten ist in eine Welt, in der geistige, emotionale und soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten zunehmend verlorengehen. Demenz, Alzheimer Demenz, Vaskuläre Demenz – Klassifikationsschemata, die diesen schleichenden Abbauprozess erklären. Aber machen sie ihn auch wirklich fassbar?

Anna Gemmeke Arzt

Anna Gemmeke versucht mit ihrem Buch „Das fremde Zimmer“ dieses Hinabgleiten nachzuzeichnen – im wahrsten Sinn des Wortes. Sie verleiht den von Demenz Betroffenen selbst eine Stimme mit ihrer namenlosen Protagonistin. Keine Erklärungen von Außenstehenden, kein ICD-10, keine Studienergebnisse. Nur die Frau, ihre Gedanken und Fragen, ihre Hilflosigkeit und ihre Unruhe, ihr Misstrauen und ihre Sorgen. Themen, die sich im Kreis drehen (der Weg zum Bahnhof, Onkel Bruno, die Mutter). Poetisch und berührend. Oft bedarf es dafür nur eines Satzes, eines Namens („Ursel …?“) pro Seite.
Anna_Gemmeke_Mutter_Essen Die mit Bleistifstrichen ausgeführten Illustrationen füllen manchmal eine Doppelseite, manchmal eine Seite aus. Auf manchen Blättern wirken sie dunkel und bedrohlich. Ein anderes Mal scheinen sie sich aufzulösen, wenn nur mehr ein Teil des Kleides zu sehen ist, oder eine Häuserzeile nach und nach die Fenster verliert. Manche Seiten bleiben ganz leer.

Text und Illustrationen spiegeln inhaltlich und formal dieses Pendeln zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Ineinandergleiten und Durcheinandergeraten der Erinnerungen aus diesen Zeitebenen – und berühren tiefer als ein medizinisches Diagnoseklassifikationssystem.

Petra Öllinger

© Illustrationen: Anna Gemmeke/Kunstanst!fter Verlag

Anna Gemmeke (Text und Illustration): Das fremde Zimmer.
Kunstanst!fter Verlag, Mannheim 2015. 180 Seiten, € 22,70 (Ö)

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 15. September 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

4. AugustHerr Leopold Portraet

Jetzt im Hochsommer macht der Höllenwald seinem Namen alle Ehre. Die Sonne glüht den ganzen Tag auf dieses Gebiet. Es ist so heiß und trocken, dass einem die Unterwolle büschelweise ausfällt. Wer sich von dem Schild „Hier entsteht eine Wiese“ verlocken lässt, oder wer den Hinweis „Nicht betreten“ ignoriert und über keine ausreichenden Kenntnisse über das Gelände verfügt, läuft Gefahr, „in der Hölle verloren zu gehen, auf ewig darin herumzuirren“ – O-Ton-Erwin. Er müsse es schließlich wissen, denn „ich war drinnen“, behauptete er und zeigte in Richtung Gürtel. Nicht schon wieder, dachte ich.
Das hätte mir noch gefehlt, dass ich mich nach dem Reinfall mit den Kornkreisen auf den Weg in die Hölle machen muss. Auch Theophilus warnte ich wie immer davor, Erwins Berichte für bare Münze zu nehmen. Diesmal schien er ausnahmsweise auf mich zu hören.

Einaeugiger Erwin PortraetBericht und Ergänzung von Erwin: Worin sich Hartkäsewürfel verändern, Erwin kurz an seinem Verstand zweifelt und danebenzielt.

Typisch Leo, die Bemerkung mit der baren Münze. Der hat doch noch nie ein richtiges Abenteuer erlebt, bloß immer seine Bücher. Aber es stimmt: Der Höllenwald ist die Hölle im Sommer. Und wenn man keinen Plan hat: aus mit der Maus! Immer ein Bild von der Lage machen, nix übereilen. War schon mein Motto, als ich noch auf den weiten Meeren unterwegs war. Mittlerweile hab ich sogar ein leiwandes aktuelles Kartenmaterial1 von dem Gelände. Meine erste Expedition dahin hab ich ja mit der pfotengezeichneten alten Skizze gemacht, die ich in der Kramurikiste von meinem Opa gefunden hab.
Also, ich stell damals da eine Route zusammen anhand von diesem alten Plan, pack Ausrüstung und Verpflegung (Hartkäsewürfel!) in meinen Extraklasseexpeditionsrucksack und zwei Tage später bin ich unterwegs. Im Dickicht verschlägt’s mir fast den Atem: Stängel, so hoch wie fünf aufeinander stehende Ratten. In langen Reihen stehen sie stramm – also die Stängel natürlich. Einige haben einen solchen Durchmesser, dass ich sie gar nicht umfassen könnte, wenn ich wollte. Aber das will ich eh nicht, bin schließlich nicht zum Stängelumarmen hergekommen. Am Boden vertrocknete lange Grashalme. Wenn ich nicht aufpasse, schlingen die sich wie Seile um meine Pfoten, und ich fall über meine eigenen Haxen. Unten die Erde, völlig ausgetrocknet, oben die Sonne, das ausgedünnte Blattwerk bietet kaum Schutz. Unter den behaarten Blättern eines sonderbaren Gewächses2 leg ich eine Pause ein. Die Hitze hat aus meinem mitgebrachten Hartkäse Schmelzkäse gemacht; und der bleibt mir am Gaumen picken, weil mein Mund so trocken ist. Ich nehm einen Schluck Wasser und dann seh ich plötzlich zwischen den Stängeln was Helles hervorleuchten. „Naservas. Erwin, Erwin“, sag ich zu mir, „jetzt hat’s dich ganz schön erwischt.“ Ich nehm noch einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche und hoff, dass das Helle verschwindet. Als ich wieder hinschau, ist es noch immer da. Ich werf einen Blick auf die Kramurikisten-Skizze vom Opa. Da ist nix eingezeichnet. Komisch. Sonst ist es eher umgekehrt: Auf den Karten ist was eingezeichnet, was es gar nicht gibt. Aber da ist was nicht eingezeichnet, das es gibt. Jetzt wird’s mir zu blöd. Ich schnapp mein Fernrohr, und was seh ich? Das Helle entpuppt sich als Hügel aus Sand und Felsen. Ich schieb das Fernrohr zusammen, pack meinen Proviant ein und hatsch durch Stängel, über Steine, staubige Erde. Hin und wieder stoß ich gegen einen der unzähligen trockenen, elendshohen Stiele und schwarze kleine Kugerl3 rieseln auf mich herab. Ich kost eines, schmeckt nicht schlecht. Ich kost ein zweites, ein drittes. Ich rüttel an einem der Stiele von dieser seltsamen Pflanze und fang die herabfallenden Kugerl auf, werf mir zwei pfotenvoll ein und kau sie genüsslich, während ich meinen Weg in Richtung Hügel fortsetze. Aus nächster Entfernung hör ich ein aufgeregtes Gurren. Plötzlich erhebt sich über mir ein Pulk Tauben. Was hat die denn so nervös gemacht? Ein Hund, der am Höllenwald entlang Gassi geführt wird?
Mir flattern die Nerven ebenfalls ein wenig. Trotzdem: Ich stapf weiter. Dann, Naservas, völlig unvermutet, steh ich davor. Mir bleibt der Mund offen stehen. Ich komm aus dem Staunen nicht raus. Der Hügel ist eine geschlossene Hügelkette, die sich über die gesamte Breite des Höllenwaldes von West nach Ost zieht! Ich schätz die Ausdehnung auf 130 Groß-Pfot4. Auf dem Kamm, der fast bis in den Himmel5 reicht, liegen riesige Felsen. Eine Krähe watschelt wie eine Ente zwischen den Gesteinsbrocken hin und her, nickt mit dem Kopf und krächzt. Hat sie die Tauben verjagt? Im selben Moment hör ich ein Rufen, das ich nur zu gut kenne. Wenn kleine Würschteln, also so in der Größe vom Leo, das hören, sollten sie sich aus dem Staub machen, und zwar sehr, sehr rasch … In solchen Situationen ist es ein riesiger Vorteil, ein paar Deka6 zu viel an Körpergewicht mit sich herumzutragen. Drum bleib ich gelassen. Bei solchen Kalibern wie mir, noch dazu mit einem Extraklasseexpeditionsrucksack auf dem Buckel, hat der keine Chance.
Derweil dreht der Turmfalke über dem Höllenwald seine Kreise. Geschätzte Höhe: zehnter Stock vom Ibis-Hotel.

Ich schnabulier eine weitere Portion von den Kugerln. Kommt’s mir nur so vor, oder wird’s immer heißer? Wahrscheinlich ist der Käse im Rucksack in der Zwischenzeit schon fondueartig. Einige Kugerl sind mir zwischen den Zähnen steckengeblieben. Ich bin damit beschäftigt, sie mit einer Kralle herauszufischen. Ich schau auf den Boden. Etwas Dunkles schwebt über mir. Ich bohr weiter zwischen meinen Zähnen. Ein Lüfterl weht. Ich schau auf den Boden. Das Dunkle wird immer mächtiger. Aha, rumpelt‘s mir durchs Hirn, schöner Umfang, Erwin. Nicht bewegen. Ich schau auf den Boden. Das Dunkle wird immer dunkler. Das Lüfterl wird zu einem Wind. Und plötzlich schweb ich ein paar Zentimeter in der Luft. Der Falke hat mich am Gnack erwischt. Mit einer Klaue hat er mich genau an der Speckfalte gepackt, die andere hat er in meinen Rucksack geschlagen. Der Vogel kämpft sich nach oben. Vergeblich. Nach einigen Metern sacken wir ab. Ich streif mit dem Hintern eine gelbe Blüte. Wieder werd ich nach oben gerissen. Mir ist flau im Magen. Liegt’s am Käse, an den Kugerln, am luftigen Auf und Ab? Die Klaue im Gnack wird mir langsam lästig. Wo will der hin mit mir? Rauf, runter, rauf, runter. Ich schramm mit meinem Hintern am Boden entlang, ich werd hochgerissen. Ich hör den Falken ächzen. Einen eleganten Flug legt der nicht hin. Wieder verliert er an Höhe. Kurz kitzeln mich Grashalme am Hintern, mit einem „Boing“ land ich endgültig in der Wiese. Der Falke, sichtlich ang‘fressen, rüttelt kurz über mir und zischt dann über den Gürtel in den 15. Hieb.

Ich brauch eine Weile, bis ich mich erfangen hab. Ich inspiziere meine Ausrüstung. Der Rucksack hat vorne ein paar Löcher abbekommen, sonst ist alles heil. Als ich mir einen Überblick über meine Lage verschaff, stell ich fest: Weit bin ich nicht geflogen worden; kurz vor der roten Ziegelmauer, die den Schlund zur U-Bahn umfasst, pfiff der Falke auf dem letzten Löchl. Irr ich mich oder vernehm ich neuerlich ein Rauschen über mir? Ich schau nach oben. Kein Falke. Eine Gruppe von Tauben. Die landet in meiner Nähe und macht sich in Nullkommanix über einige Wurschtradeln her – vor denen graust‘s sogar mir. Nach diesem Fast-Höhenflug hab ich überhaupt keinen Appetit und spendier meinen Käsevorrat – der ist zwar nicht zeronnen, allerdings kolossal weich – den Tauben. Sollen die auch einmal was Gutes haben, die armen Teufel. Vielleicht ist es keine so gute Idee, den Käse in die Mitte der Gruppe zu werfen. Wahrscheinlich liegt’s an der Hitze, dass ich danebenziele. Eine Taube treffe ich am rechten Flügel, einer anderen schieße ich versehentlich ein Käsepatzen an den Kopf. Die Folge: aufgeregtes Flattern und Gurren. Den Rest meines Proviants lass ich liegen.

Mir tut der Hintern weh. Es ist heiß. Ich hab für heute genug von Abenteuern. Erschöpft mach ich mich auf den Heimweg. Ich blicke kurz zurück zu den Tauben. Drei Wagemutige haben bereits von der Wurscht abgelassen und sich meiner Käsespende zugewandt.

Hoellenwaldskizze von Opa

Abbildung 1: Die Skizze vom Höllenwald und seiner Umgebung, gezeichnet von Erwins Opa. Die Bezeichnungen lauten von der Mitte oben beginnend: Gürtel, Radweg, Höllenwald, 15. Bezirk. Aus der Kramurikiste von Erwins Opa.

Hoellwaldskizze von Erwin

Abbildung 2: Zum Vergleich Erwins Skizze, die er nach seiner ersten Expedition in den Höllenwald gezeichnet hat. In der Mitte des Waldes findet sich auch erstmals der Hinweis auf die Hügelkette.


1: Genau gesprochen handelt es sich bei diesem Kartenmaterial um eine ebenfalls von Pfote gezeichnete, und zwar um eine von Erwins Pfote gezeichnete!, Skizze. Weiter unten mögen sich die geneigten Leserinnen und Leser selbst ein Bild davon machen …
2: Möglicherweise handelt es sich um Verbascum densiflorum, die großblütige Königskerze. Danke, Theophilus.
3: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelt es sich hierbei um Papaver rhoeas, dem Klatschmohn. Danke, Theophilus.
4: 1 Groß-Pfot entspricht circa, na?, richtig, einem Siebtel eines durchschnittlichen Menschenfußes = 4 Zentimeter. Die Hügelkette hat demnach eine Länge von ungefähr 5,2 Metern.
5: Vielleicht ein bisschen übertrieben, „bis in den Himmel“, allerdings, wer Erwin kennt …
5: „Haha!” – O-Ton Petra Öllinger.

Fortsetzung folgt am 29. September 2015.

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Der Zweifel ist das Wartezimmer der Erkenntnis

Montag, 7. September 2015

Only bad news is good news?

Corinna Chaumeny Zweifel ist das Wartezimmer der Erkenntnis BuchcoverCorinna Chumeny hielt sich in Anlehnung an diese alte JournalistInnenregel eher an „bizzar news is good news“. Beinhalteten die ursprünglichen Zeitungsartikel eventuell schlechte Nachrichten, sind die daraus gestalteten Kürzesttexte komisch, skurril, schräg. Die Illustratorin löste Sätze aus Zeitungen und Zeitschriften aus ihrem Kontext und setzte sie neu zusammen. Es öffnen sich Mikrokosmen und Minidramen. Einstiege wie „Wir haben ein ganzes Wochenende in den Erbeeren verbracht“ oder „Der Ort, an dem ich bin, ist nicht ganz leicht zu erreichen“ verunmöglichen ein Vorbeimogeln am Text. Denn bereits der zweite Satz zeigt, dass es in keine Linearität hineingeht. Die Handlungen schlagen Haken und führen zu einem Schluss, bei dem man sich verwundert die Augen reibt, ungläubig den Kopf schüttelt und lachen muss. Wurde etwas überlesen, falsch verstanden? Kam da wirklich ein Bandscheibenvorfall auf den Komoren vor? Also fängt man nochmals mit dem ersten Satz an. Nein, nichts wurde überlesen, alles richtig verstanden. Ja, da kam wirklich Bandscheibenvorfall und Komoren vor.

Eine logische Auflösung des Geschehens, ob es nun Bandscheibenvorfälle, Erdbeeren oder nicht leicht erreichbare Orte sind, gibt es nicht. Die Leerstellen in den Texten überlassen den LeserInnen viel Auslegungsspielraum. So wie sich die Leerstellen durch das Geschriebene ziehen, zieht sich ein roter Faden – im wahrsten Sinne des Wortes – durch die in grün, grau, schwarz gestalteten Illustrationen. Er wandelt sich vom Ohrring zur Hundeleine oder zum Brillengestell.

Corinna Chaumenys Zeitungsfibel verlockt zum Immer-wieder-Anschauen-Lesen-Lachen und macht den Aufenthalt im Wartezimmer voller Zweifel sehr vergnüglich. Außerdem besteht die Hoffnung, dass hinter der Wartezimmertür doch eine Erkenntnis lauert.

Petra Öllinger

Corinna Chaumeny (Text und Illustration): Der Zweifel ist das Wartezimmer der Erkenntnis. Zeitungsfibel.
kunstanst!ifter Verlag, Mannheim 2014. 36 Seiten. €16,30 (Ö)

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 1. September 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet1. August

Aha, jetzt haben die Außerirdischen ausgerechnet Mariahilf heimgesucht. Wenn ich Überschriften wie „Kornkreise am Gürtel“ oder „UFO über Wien“ sogar in der „Mäusepresse“ lese, dann weiß ich: Die Saure-Gurken-Zeit hat begonnen. Erwin und Theophilus nehmen diese Meldungen allerdings zum Anlass, um selbst Recherchen anzustellen. Eine Expedition zum Gürtel wollen sie machen! Ich befürchte, ich kann diesen Irrsinn nicht vereiteln und werde mitkommen müssen, um das Schlimmste zu verhindern.

Nachtrag – 23:45 Uhr: Wir überquerten in der Dämmerung den Gürtel. Theophilus‘ und mein Aufschrei, die Ampel stehe auf Rot, wurde von Erwin ignoriert. „Der Bub muss lernen, dass Ampeln für uns bedeutungslos sind“, erklärte er. Außerdem sollten wir damit aufhören, die Ampel als überwachende und strafende Autorität zu betrachten. „Egal, wie schnell wir laufen, wir schaffen es sowieso nie, in einem Zug bei Grün über die Straße zu kommen. Irgendwie ist immer Rot.“ Natürlich verwendete Erwin nicht exakt diese Worte, vielmehr sagte er: „Ist nix zu sehen, los, wurscht, bei welcher Farbe.“ Oft hatte ich unseresgleichen am Mariahilfer Gürtel über den Asphalt hechten sehen; über die Straße, vorbei an den Büschen, über den Radweg, vorbei am Obelisken, vorbei an einer weiteren Buschreihe, über die Geleise der 6-er und 18-er Straßenbahn, nur um einen weiteren – wohlgemerkt: sinnlosen – Versuch zu starten, in einem Rutsch bei Grün den Gürtel zu überqueren. Irgendwie ist immer Rot.

Wir huschten über die Straßenbahngeleise, überquerten den Radweg – Theophilus wäre dabei beinahe von einem Menschen am Tretroller überfahren worden, hätte ich ihn nicht rechtzeitig am Hosenbund zurückgerissen! – und machten uns ein eigenes Bild von der Lage. Kornkreise? Lächerlich. Erstens: Von Korn war da nichts zu sehen, höchstens ein paar Kornblumen, aber die hielten wacker ihre aufrechte Stellung. Zweitens: Die niedergewalzten Grashalme wiesen eine sehr unregelmäßige Zick-Zack-Form auf. Außerirdische? Wenn, dann waren die völlig unkoordiniert durch dieses Gebiet gewankt. Und hinterlassen Außerirdische zerdrückte Bierdosen? Mein Verdacht: Betrunkene Zweibeiner, der sehr heftige Regen gefolgt von einem starken Wind vor ein paar Tagen hatten die Halme plattgedrückt. Erwin wischte alle meine Einwände vom Tisch, indem er behauptete, auf Alerohomora hätte er dieses Phänomen ebenfalls beobachtet, weit und breit waren da keine Menschen gewesen, geregnet hatte es damals seit Wochen nicht mehr, und von Wind keine Spur. Mein Argument, vielleicht seien die Halme aufgrund der Trockenheit umgefallen, hebelte er mit der Behauptung aus: „Ich weiß, was ich gesehen habe.“ Quod erat demonstrandum. Soviel zu Erwins Beweisführung, für ihn war sie damit beendet. Plötzlich vernahmen wir ein Schnarchen; leise zwar, aus dem Rauschen des Verkehrs jedoch deutlich herauszuhören: Theophilus. Er war zwischen den Königskerzen- und Kardestängeln eingeschlafen. Wahrscheinlich waren ihm die Aufregung und die Enttäuschung darüber, dass es doch keine Außerirdischen waren, die die Wiese verunstaltet hatten, zu viel geworden. Wir rüttelten ihn an der Schulter, tätschelten ihm die Wangen, mit Müh und Not bekamen wir ihn fast wach. Mit Theophilus in unserer Mitte machten wir uns auf den Rückweg. Ein Jungmäuserich im Halbschlaf zwischen einer einäugigen Ratte und einer Maus im Gilet, die den Mariahilfer Gürtel bei Rot überqueren.

Was für ein Bild.

Da hätten die Außerirdischen gestaunt …

Nachtrag – 00:02 Uhr: Verkehrslichtsignalanlage – klingt viel besser als Ampel, finde ich.

Fortsetzung folgt am 14. September 2015.
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